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Wiederaufleben Verletztenrente nach Kapitalabfindung

SG Düsseldorf – Az.: S 1 U 162/17 – Urteil vom 08.05.2018

Die Beklagte wird unter entsprechender teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 3.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.3.2017 verurteilt, bei der Berechnung der anzurechnenden Abfindung bezüglich der wiederaufgelebten Rente nach dem Arbeitsunfall vom 0.0.2001 einen Betrag von 19.789,32 Euro und den daraus resultierenden Anrechnungsbetrag in Höhe von 26.759,76 Euro zu berücksichtigen und die wiederaufgelebte Rente ab dem 1.8.2013 nach diesen Beträgen abzurechnen und zu zahlen.

Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Anrechnung der Abfindungssumme auf eine Wiederaufgelebte Verletztenrente.

Mit Bescheid vom 2.7.2003 gewährte die Beklagte dem Kläger wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls, den der Kläger am 0.0.2001 erlitten hat, eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 10 %.

Auf Antrag des Klägers fand die Beklagte mit Bescheid vom 6.2.2006 diese Rente ab. Der Abfindungsbetrag belief sich auf 46.549,08 Euro. Die laufende Rentenzahlung endete mit dem 28.2.2006.

Mit einem Antrag vom 21.5.2016 begehrte der Kläger das Wiederaufleben dieser Rente. Aufgrund mehrerer anderer Versicherungsfälle und der Feststellung der Verschlimmerung der Folgen eines weiteren Versicherungsfalles war ab dem 1.8.2013 beim Kläger die Schwerverletzteneigenschaft eingetreten.

Mit Bescheid vom 3.11.2016 ließ die Beklagte die Rente des Klägers nach dem Versicherungsfall vom 0.0.2001 ab dem 1.8.2013 wieder aufleben. Die gezahlte Abfindungssumme rechnete die Beklagte gem. § 77 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) auf die laufenden Rentenzahlungen an. Dabei zog sie von der Abfindungssumme einen fiktiven Rentenanspruch für die Zeit vom 1.3.2006 bis zum 31.7.2013 in Höhe von 19.180,39 Euro ab. In diesem Betrag waren die jährlich wiederkehrenden Rentenanpassungen nach § 95 SGB VII nicht enthalten. Nach Abrechnung dieses Betrages blieb ein anzurechnender Betrag von 27.368,69 Euro übrig. Mit der Hälfte der ab dem 1.8.2013 wieder laufenden monatlichen Rentenzahlungen rechnete die Beklagte diesen Betrag ab.

Gegen diese Entscheidung legte der Kläger am 11.11.2016 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er aus, dass beim Abzug des fiktiven Rentenbetrages die jährlich wiederkehrenden Rentenanpassungen hätten berücksichtigt werden müssen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23.3.2017 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Da dem Kläger durch die Kapitalabfindung mit Bescheid vom 6.2.2006 ein Kapitalzinsgewinn entstanden sei, könne auf die Berücksichtigung der Rentenanpassungsbeträge verzichtet werden, da ansonsten eine Doppelvergütung eintreten würde.

Wiederaufleben Verletztenrente nach Kapitalabfindung
(Symbolfoto: Von Number1411/Shutterstock.com)

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger am 27.3.2017 Klage erhoben. Die Klage hat zum Ziel, dass bei der Berechnung der fiktiven Verletztenrente für die Zeit vom 1.3.2006 bis zum 31.7.2013 die jährlichen Anpassungserhöhungen berücksichtigt werden und so ein höherer fiktiver Rentenbetrag von dem Abfindungsbetrag abgezogen wird, woraus sich dann ein niedrigerer Betrag bezüglich der Anrechnung auf die laufenden Rentenzahlungen ergibt.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter entsprechender teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 3.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.3.2017 zu verpflichten, bei der Berechnung der anzurechnenden Abfindung bezüglich der wiederaufgelebten Rente nach dem Arbeitsunfall vom 0.0.2001 einen Betrag von 19.789,32 Euro und den daraus resultierenden Aufrechnungsbetrag in Höhe von 26.759,76 Euro zu berücksichtigen und die wiederaufgelebte Rente ab dem 1.8.2013 nach diesen Beträgen abzurechnen und zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich im Wesentlichen auf ihre Argumentation aus dem Widerspruchsverfahren und bekräftigt ihre Auffassung, dass die regelmäßigen Rentenerhöhungen bei der Berechnung des fiktiven Rentenbetrages nicht berücksichtigt werden müssen.

Das Gericht hat die Beklagte gebeten, eine Berechnung der fiktiven Rente für die Zeit vom 1.3.2006 bis zum 31.7.2013 unter Berücksichtigung der jährlichen Rentenerhöhungen nach § 95 SGB VII vorzunehmen. Mit Schreiben vom 24.8.2017 hat die Beklagte mitgeteilt, dass sich unter Berücksichtigung der Rentenanpassungen ein fiktiver Betrag von 19.789,32 Euro ergibt. Der anzurechnende Abfindungsbetrag beliefe sich sodann auf 26.759,76 Euro. Daraus ergibt sich eine Differenz von 608,93 Euro zugunsten des Klägers.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakten sowie auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger wird insoweit in seinen Rechten beschwert durch die angefochtene Entscheidung vom 3.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.3.2017, als die Beklagte bei der Berechnung des noch anzurechnenden Abfindungsbetrages auf die wiederaufgelebte Rente den fiktiven Rentenbetrag für die Zeit vom 1.3.2006 bis zum 31.7.2013 ohne Berücksichtigung der jährlichen Anpassungsbeträge nach § 95 SGB VII vorgenommen hat. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass bei der Anrechnung der fiktiv erhaltenen Rente auf den Abfindungsbetrag die jährlichen Anpassungen nach § 95 SGB VII berücksichtigt werden.

Die mit Bescheid vom 2.7.2003 gewährte Verletztenrente des Klägers wurde auf seinen Antrag hin gem. § 76 Abs. 1 SGB VII mit Bescheid vom 6.2.2006 abgefunden. Die Rente fiel zum 1.3.2006 weg. Die Abfindungssumme betrug 46.549,08 Euro.

Auf den Antrag des Klägers vom 21.5.2016 gewährte die Beklagte dem Kläger das Wiederaufleben der Rente ab dem 1.8.2013 mit Bescheid vom 3.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.3.2017. Dieser Bescheid ist rechtswidrig, soweit bei der Anrechnung des fiktiven Rentenanspruchs in der Zeit vom 1.3.2006 bis zum 31.7.2013 die nach § 95 SGB VII vorzunehmenden Rentenanpassungen nicht berücksichtigt worden sind.

Die grundsätzlichen Voraussetzungen für ein Wiederaufleben der Rente nach § 77 Abs. 1 SGB VII lagen vor. Zum Zeitpunkt der Abfindung bestand für den fraglichen Versicherungsfall eine MdE von 10 %. Durch das Hinzutreten weiterer Versicherungsfälle und der Verschlimmerung der Folgen eines Versicherungsfalles wurde der Kläger Schwerverletzter i. S. d. § 57 SGB VII. Denn ab dem 1.8.2013 hatte der Kläger Anspruch auf Rentenleistungen wegen mehrerer Versicherungsfälle, deren Vomhundertsatz zusammen wenigstens 50 erreichte. Damit konnte die Rente zum 1.8.2013 wieder aufleben, was durch die angefochtene Entscheidung durch die Beklagte geschehen ist.

Durch die angefochtene Entscheidung lebte die Rente in vollem Umfang wieder auf (§ 77 Abs. 1 SGB VII). Die Anrechnungsvorschrift des § 77 Abs. 2 SGB VII soll in den dort beschriebenen Grenzen eine Doppelleistung verhindern. Deshalb soll der Abfindungsbetrag auf die wieder laufenden Rentenzahlungen angerechnet werden, jedoch abzüglich eines fiktiven Rentenanteils, den der Versicherte für den Zeitraum erhalten hätte, wenn die Rente nicht abgefunden worden wäre. Der Wortlaut der Vorschrift ist eindeutig. Er bedarf weder der Auslegung noch sind die Voraussetzungen einer teleologischen Reduktion gegeben.

§ 77 Abs. 2 Satz 1: „Die Abfindungssumme wird auf die Rente angerechnet, soweit sie die Summe der Rentenbeträge übersteigt, die dem Versicherten während des Abfindungszeitraums zugestanden hätte.“

Damit war zunächst grundsätzlich der Abfindungsbetrag in Höhe von 46.549,08 Euro anzurechnen. Dieser Anrechnungsbetrag reduziert sich um den Betrag der Rentenzahlungen die der Kläger erhalten hätte, wenn die Rente nicht abgefunden worden wäre. Die Rente, die der Kläger vom 1.3.2006 bis zum 31.7.2013 erhalten hätte, ist die Rente einschließlich der nach § 95 SGB VII vorgenommenen Anpassungen. Dies entspricht im Entscheidungsfall 19.789,32 Euro, wie es sich aus der Mitteilung der Beklagten vom 24.8.2017 ergibt.

Die Auslegung der Beklagten, dass die jeweiligen Anpassungen nicht berücksichtigt werden dürfen, entbehrt jeder Grundlage. Zu allererst muss und darf ein eindeutiger Wortlaut nicht ausgelegt werden. Darüber hinaus entspricht das hier vertretene Ergebnis dem feststellbaren Willen des Gesetzgebers.

Dieser geht davon aus, dass Schwerverletzte auf die Rente als laufende Leistung angewiesen sind, während Versicherte mit einer MdE von weniger als 40 % noch Erwerbseinkommen erzielen können und daher nicht die laufende Rente zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes benötigen. Mit Eintritt der Schwerverletzteneigenschaft soll daher die Rechtslage vor Abfindung der Rente wieder hergestellt werden, um den Verletzten in den vollen Genuss der Schwerbeschädigtenleistungen kommen zu lassen (Gesetzesbegründung zu § 606 RVO, BT-Drs. 4/120 S. 60).

Wenn aber der Zustand wieder hergestellt werden soll, der gegeben wäre, wenn die Rente nicht abgefunden worden wäre, dann kann das nur den Rentenbezug einschließlich der Anpassungen nach § 95 SGB VII deuten. Denn genau diese Rente hätte der Versicherte bekommen, wenn nicht abgefunden worden wäre.

Der Hinweis der Beklagten, dass abgefundene Renten an Erhöhungen nach § 95 SGB VII nicht teilnehmen, ist bezogen auf § 77 Abs. 2 SGB VII ein untaugliches Argument. Denn mit der vom Gesetzgeber gewollten Rückabwicklung der Abfindung der Rente handelt es sich eben nicht mehr um eine abgefundene Rente, sondern um diejenige, die der Versicherte erhalten hätte, wenn nicht abgefunden worden wäre.

Die von der Beklagten zitierte Literatur (KassKomm/Ricke, § 7 SGB VII Rn 9; Maschner im Beck-online-Kommentar Sozialrecht Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching § 77 SGB VII Rn 13), die deshalb von den Anpassungsbeträgen absehen will, weil durch einen Kapitalzinsgewinn bereits ein Vorteil beim Versicherten eingetreten sei, bedient sich rechtstechnisch einer teleologischen Reduktion des § 77 Abs. 2 SGB VII. Die Voraussetzungen für eine teleologische Reduktion liegen jedoch nicht vor. Denn dann müsste ein Sinn und Zweck in § 77 Abs. 2 SGB VII erkennbar sein, Kapitalzinsgewinne durch das Weglassen der Anpassungsbeträge zu kompensieren.

Schon mit Blick auf den gesetzgeberischen Willen, die Abfindung im Fall der Schwerverletzteneigenschaft des Versicherten vollständig zurück abzuwickeln, lässt einen solchen Sinn und Zweck nicht erkennen.

Darüber hinaus korrespondiert ein Kapitalzinsgewinn nicht mit den jährlichen Anpassungsbeträgen. Ein Kapitalzinsgewinn wird durch den Kapitalmarkt und dort insbesondere durch den Leitzins der Europäischen Zentralbank bestimmt. Zurzeit tendiert die Kapitalverzinsung gegen Null. Teilweise müssen am Markt für höhere Kapitaleinlagen Zinsen an die Bank gezahlt werden. Die Anpassungen nach § 95 SGB VII richten sich demgegenüber nach den jährlich vorzunehmenden Anpassungen der deutschen Rentenversicherung. Diese Anpassungen orientieren sich nicht am Kapitalmarkt, sondern an der Einkommenslage der Gesamtheit aller Arbeitnehmer in Deutschland. Diese Einkommenslage hat überhaupt keinen Bezug zum Kapitalmarkt. Renten sind in den vergangenen Jahren gestiegen, auch wenn die Kapitalmarktzinsen stagnierten oder gar gefallen sind.

Eine Kompensation zweier nicht miteinander vergleichbarer Systeme kann nicht gewollt sein. Vielmehr macht die Vorschrift in ihrer Entstehung deutlich, dass bei Eintritt der besonderen Situation der Schwerverletzung besondere Unterstützungen für den Versicherten notwendig sind. Dies soll so geschehen, dass eine vorgenommene Abfindung vollständig rückabgewickelt wird. So sieht es auch der überzeugendere Teil der Literatur (Jahn/Wucher § 77 SGB VII Rn 8; Becker/Streubel § 77 SGB VII Rn 8; Bereiter-Hahn/Mehrtens § 77 SBG VII Rn 7; Jung in Schlegel/Völzke, juris PK SGB VII § 77 Rn 9), dem sich die Kammer anschließt.

Daraus folgt, dass nicht der von der Beklagten zugrunde gelegte Anrechnungsbetrag zum Ansatz kommt, sondern der im gerichtlichen Verfahren nachberechnete Betrag unter Berücksichtigung der jährlichen Anpassungsbeträge. Im Entscheidungsfall ergibt sich sodann ein noch auf die laufende Rente zu berücksichtigender Abfindungsbetrag von 26.759,76 Euro. Dieser Teil der geleisteten Abfindung ist noch unverbraucht und muss insoweit auf die laufenden Rentenzahlungen angerechnet werden. Dabei ist dem Kläger gem. § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VII mindestens die Hälfte der laufenden monatlichen Rente zu belassen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Differenzbetrag zwischen den streitigen Anrechnungsbeträgen, der die Beschwer der unterlegenen Beklagten kennzeichnet, übersteigt mit 608,93 Euro die nach § 144 Abs. 1 SGG normierte Berufungsgrenze von 750 Euro nicht. Gründe, die Berufung zuzulassen, bestanden bei der Eindeutigkeit des Wortlauts des § 77 Abs. 2 SGB VII nicht.

 

 

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