Das Sozialgericht Braunschweig wies die Klage eines Mannes auf Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ ab, da er die Voraussetzungen nicht erfüllt, insbesondere weil er sich mit Unterarmgehstützen fortbewegen kann und über ein Restgehvermögen verfügt. Zudem reichte die Sturzgefahr nicht aus, um einen Grad der Behinderung von mindestens 80 zu begründen.
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Übersicht
- ✔ Das Wichtigste in Kürze
- Merkzeichen „aG“: Gericht urteilt über Zuerkennung bei Gehbehinderung
- Der Fall vor dem Sozialgericht Braunschweig im Detail
- ✔ FAQ zum Thema: Merkzeichen „aG“ und Mobilitätseinschränkungen
- § Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils
- ➜ Das vorliegende Urteil vom Sozialgericht Braunschweig
✔ Das Wichtigste in Kürze
- Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) gemäß § 229 Abs. 3 SGB IX nicht.
- Es liegt keine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vor, da der Kläger sich nicht nur mit fremder Hilfe oder großer Anstrengung außerhalb des Autos bewegen kann.
- Der Kläger ist nicht dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen, selbst für kurze Strecken, sondern kann mit Unterarmgehstützen gehen.
- Das Restgehvermögen des Klägers ist nicht so unbedeutend, dass er nach kürzester Strecke pausieren muss.
- Die Sturzgefahr ist nicht so ausgeprägt, dass der Kläger von Beginn an auf einen Rollstuhl angewiesen wäre.
- Die Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers entsprechen nicht einem Grad der Behinderung von 80 oder mehr.
- Die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG müssen eng ausgelegt werden, um den begünstigten Personenkreis klein zu halten.
Merkzeichen „aG“: Gericht urteilt über Zuerkennung bei Gehbehinderung
Mobilität ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis und eine Voraussetzung für die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Für Menschen mit Behinderungen können jedoch Bewegungseinschränkungen eine große Herausforderung darstellen. Das Sozialgesetzbuch sieht daher verschiedene Nachteilsausgleiche vor, um diese Hürden abzubauen.
Ein solcher Nachteilsausgleich ist das Merkzeichen „aG“ für außergewöhnliche Gehbehinderung. Dieses soll Betroffenen mit einer besonders starken Einschränkung der Mobilität besondere Erleichterungen bei der Fortbewegung, etwa im Straßenverkehr, gewähren. Allerdings sind die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür relativ hoch, um den begrenzten Parkraum möglichst effizient zu nutzen.
Im Folgenden wird ein Gerichtsurteil vorgestellt, das sich mit der Frage befasst, wann genau die Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ erfüllt sind. Anhand dieses Falls lassen sich die komplexen rechtlichen Vorgaben praxisnah veranschaulichen.
Der Fall vor dem Sozialgericht Braunschweig im Detail
Zuerkennung des Merkzeichens aG: Klage abgewiesen
Der vorliegende Fall befasst sich mit der Klage eines Mannes, der die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ für außergewöhnliche Gehbehinderung im Schwerbehindertenausweis begehrte. Der Kläger, geboren 1940, leidet unter verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, darunter Folgen einer Spinalkanalstenosenoperation, Verschleiß beider Kniegelenke mit Knieprothese links und Hüftprothese rechts sowie wiederkehrende Gleichgewichtsstörungen und Schwindel. Aufgrund dieser Einschränkungen beantragte er im August 2019 die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“, was ihm vom zuständigen Versorgungsamt jedoch verwehrt wurde.
Der Kläger argumentierte, dass er sich ohne Gehhilfen nicht fortbewegen könne und auf einen Rollstuhl oder zwei Gehstützen angewiesen sei. Selbst mit diesen Hilfsmitteln sei die Fortbewegung äußerst beschwerlich. Er könne keine Bodenunebenheiten überwinden und habe eine große Sturzneigung. Darüber hinaus sei das Ein- und Aussteigen in sein Fahrzeug auf normalen Parkplätzen aufgrund seiner Fußheberschwäche sehr schwierig.
Entscheidung des Gerichts: Keine außergewöhnliche Gehbehinderung
Das Sozialgericht Braunschweig wies die Klage des Mannes ab. Das Gericht stellte fest, dass der Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ gemäß § 229 Abs. 3 SGB IX nicht erfüllt.
Zentrale Aspekte des Urteils:
- Keine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung: Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts erfordert das Merkzeichen „aG“ eine besonders starke Einschränkung der Gehfähigkeit. Der Betroffene muss entweder dauerhaft auf fremde Hilfe oder einen Rollstuhl angewiesen sein oder nur mit äußerster Anstrengung gehen können. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger diese Voraussetzungen nicht erfüllt, da er sich mit Unterarmgehstützen fortbewegen kann und über ein Restgehvermögen verfügt.
- Sturzgefahr nicht ausreichend: Das Gericht räumte zwar ein, dass beim Kläger eine gewisse Sturzgefahr besteht. Diese sei jedoch nicht so ausgeprägt, dass er ständig auf einen Rollstuhl angewiesen wäre. Aus den vorliegenden medizinischen Gutachten sowie den Angaben des Klägers selbst ließen sich keine Hinweise auf eine derart hohe Sturzhäufigkeit finden.
- Grad der Behinderung: Das Merkzeichen „aG“ setzt außerdem einen Grad der Behinderung von mindestens 80 voraus. Das Gericht ermittelte für den Kläger einen Gesamtgrad der Behinderung von 80. Allerdings bezieht sich dieser Wert auf alle seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Für die Beurteilung des Merkzeichens „aG“ ist jedoch nur der Grad der Behinderung relevant, der sich auf die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung bezieht. In diesem Punkt kam das Gericht zu einem Wert von 60, was nicht ausreicht.
Begründung der Entscheidung: Enge Auslegung der Voraussetzungen
Das Gericht betonte, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ eng ausgelegt werden müssen. Hintergrund ist der begrenzte Parkraum, der für Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung zur Verfügung steht. Würde der Kreis der Berechtigten zu weit gefasst, würde dies letztlich denjenigen schaden, die am dringendsten auf die Parkerleichterungen angewiesen sind.
Relevanz der Ein- und Ausstiegsituation:
Der Kläger hatte insbesondere die Schwierigkeiten beim Ein- und Aussteigen in sein Fahrzeug als Argument für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ angeführt. Das Gericht erkannte zwar an, dass diese Situation für den Kläger problematisch ist, stellte jedoch klar, dass dies nicht zu den Voraussetzungen des § 229 Abs. 3 SGB IX gehört. Das Gesetz fokussiert auf die Gehfähigkeit außerhalb des Fahrzeugs, nicht auf die Situation beim Ein- und Aussteigen.
Einzelne Gesundheitsstörungen und deren Bewertung
Das Gericht setzte sich detailliert mit den einzelnen Gesundheitsstörungen des Klägers und deren Auswirkungen auf seine Gehfähigkeit auseinander.
Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule und Polyneuropathie:
Das Gericht erkannte die Folgen der Spinalkanalstenosenoperation und der Polyneuropathie als relevante Beeinträchtigungen der Gehfähigkeit an und bewertete diese mit einem Einzel-GdB von 50.
Verschleiß der Knie- und Hüftgelenke:
Die Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der Knie- und Hüftgelenke wurden mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet.
Gleichgewichtsstörungen und Schwindel:
Das Gericht stellte fest, dass die vom Kläger geltend gemachten Gleichgewichtsstörungen und Schwindel nicht auf eine somatische Ursache zurückzuführen sind und daher nicht als Gesundheitsstörungen im Sinne des Gesetzes gelten.
✔ FAQ zum Thema: Merkzeichen „aG“ und Mobilitätseinschränkungen
Was sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG?
Das Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) wird zuerkannt, wenn sich der schwerbehinderte Mensch wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen kann. Voraussetzung ist eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, die mindestens einem Grad der Behinderung (GdB) von 80 entspricht.
Zu den Personen, die die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG erfüllen, zählen insbesondere Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte und Personen, die diesem Personenkreis gleichgestellt sind und ebenfalls ständig auf einen Rollstuhl innerhalb des Hauses und außerhalb des Fahrzeugs angewiesen sind. Entscheidend ist, dass die Fortbewegung auf das Schwerste eingeschränkt ist und sich der Betroffene außerhalb des Autos nur unter großer Anstrengung oder mit Unterstützung durch eine andere Person fortbewegen kann.
Unterschiedliche Gesundheitsstörungen können die Ursache für eine außergewöhnliche Gehbehinderung sein. Nach der Rechtsprechung darf die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung aber nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Die Beeinträchtigung des Orientierungsvermögens allein reicht nicht aus. Es genügt auch nicht, dass ein Rollstuhl verordnet wurde. Der Betroffene muss vielmehr ständig darauf angewiesen sein.
Bei der Beurteilung, ob eine außergewöhnliche Gehbehinderung vorliegt, ist nicht zu prüfen, ob tatsächlich behinderungsbedingte Nachteile vorliegen oder behinderungsbedingte Mehraufwendungen entstehen. Auch bei Säuglingen und Kleinkindern gelten für die Beurteilung dieselben Kriterien wie bei Erwachsenen mit gleichen Gesundheitsstörungen.
Wie wirkt sich der Grad der Behinderung auf die Zuerkennung des Merkzeichens aG aus?
Für die Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) muss der Grad der Behinderung (GdB) mindestens 80 betragen. Dabei muss eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vorliegen, die diesem GdB von 80 entspricht.
Allein ein GdB von 100 oder auch die Gewährung des Merkzeichens G (Gehbehindert) reicht nicht aus, um das Merkzeichen aG zu erhalten. Entscheidend ist vielmehr, dass sich der schwerbehinderte Mensch wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen kann.
Bei der Beurteilung, ob die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG erfüllt sind, müssen die Auswirkungen aller Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt werden. Unterschiedliche Gesundheitsstörungen können die Ursache für eine außergewöhnliche Gehbehinderung sein. Dabei kommt es aber nicht auf die Ursache der Behinderung an, sondern nur auf die Auswirkungen auf die Gehfähigkeit.
Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, die sich auf die Gehfähigkeit auswirken und für sich genommen bereits einen GdB von wenigstens 50 bedingen, können in Kombination mit anderen Beeinträchtigungen die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG erfüllen. Auch Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 können ausreichen, wenn sie sich besonders schwerwiegend auf die Gehfähigkeit auswirken.
Welche praktischen Vorteile bietet das Merkzeichen aG im Alltag?
Das Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) im Schwerbehindertenausweis bietet im Alltag eine Reihe von praktischen Vorteilen und Erleichterungen:
- Parkerleichterungen: Mit dem blauen EU-Parkausweis, der aufgrund des Merkzeichens aG ausgestellt wird, dürfen Inhaber auf speziell gekennzeichneten Behindertenparkplätzen parken. Auch längeres Parken im eingeschränkten Halteverbot bis zu 3 Stunden und das Überschreiten der Parkdauer in Parkzonen ist möglich.
- Unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Nahverkehr: Das Merkzeichen aG berechtigt nach Erwerb einer Wertmarke zur kostenlosen Nutzung von Bussen und Bahnen im Nahverkehr.
- Kraftfahrzeugsteuerbefreiung: Inhaber des Merkzeichens aG sind von der Kraftfahrzeugsteuer befreit.
- Absetzbarkeit der Fahrtkosten: Fahrten zur Arbeit können alternativ zur Entfernungspauschale in tatsächlicher Höhe als außergewöhnliche Belastung steuerlich abgesetzt werden. Auch Privatfahrten sind bis 4.500 Euro pro Jahr absetzbar.
- Anspruch auf Fahrdienste: In vielen Städten und Gemeinden gibt es für Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung kostenlose oder vergünstigte Fahrdienste.
- Nachteilsausgleiche bei Sozialleistungen: Bei Bezug von Grundsicherung, Bürgergeld oder Sozialhilfe kann das Merkzeichen aG einen Mehrbedarf für eine größere, behindertengerechte Wohnung begründen.
Insgesamt erleichtert das Merkzeichen aG durch diese Nachteilsausgleiche die Mobilität und Teilhabe am Alltag für Menschen, die sich wegen ihrer Behinderung nur mit fremder Hilfe oder unter großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können.
§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils
- § 229 Abs. 3 SGB IX: Diese gesetzliche Bestimmung definiert, wer als schwerbehinderte Person mit außergewöhnlicher Gehbehinderung gilt. Sie besagt, dass der Betroffene eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung haben muss, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht und die Person sich dauerhaft nur mit fremder Hilfe oder großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeugs bewegen kann. Im vorliegenden Fall wurde festgestellt, dass der Kläger diese Kriterien nicht erfüllt.
- § 152 SGB IX: Dieser Paragraph regelt die Feststellung der Behinderung und des Grades der Behinderung durch die zuständigen Behörden. Im Kontext des Falls bezieht sich dies auf den Antrag des Klägers auf Feststellung des Merkzeichens aG und des entsprechenden Grades der Behinderung.
- § 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV): Diese Verordnung bestimmt, dass das Merkzeichen aG im Schwerbehindertenausweis eingetragen wird, wenn die Voraussetzungen nach § 229 Abs. 3 SGB IX erfüllt sind. Das Gericht stützt seine Entscheidung darauf, dass diese Voraussetzungen im Fall des Klägers nicht gegeben sind.
- Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG): Die Entscheidungen und Richtlinien des BSG sind maßgeblich für die Auslegung von Merkmalen der außergewöhnlichen Gehbehinderung. Die Gerichtsentscheidung verweist auf die Notwendigkeit, dass die Gehbehinderung so ausgeprägt sein muss, dass der Betroffene fast immer auf einen Rollstuhl angewiesen ist oder nach kürzester Strecke eine Pause einlegen muss, was im Fall des Klägers nicht zutrifft.
- §§ 54 Abs. 1, 4, 56 Sozialgerichtsgesetz (SGG): Diese Paragraphen erlauben es dem Kläger, eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zu erheben, was im vorliegenden Fall relevant ist, da der Kläger gegen den ablehnenden Bescheid bezüglich des Merkzeichens aG klagt.
Diese gesetzlichen Bestimmungen und Rechtsprechungen sind zentral für die Beurteilung des Anspruchs auf das Merkzeichen aG im deutschen Recht und beeinflussen direkt die Entscheidung des Gerichts im analysierten Fall.
➜ Das vorliegende Urteil vom Sozialgericht Braunschweig
SG Braunschweig – Az.: S 11 SB 373/20 – Urteil vom 28.02.2024
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger macht im Rahmen des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) die Zuerkennung des Merkzeichens aG für eine außergewöhnliche Gehbehinderung geltend.
Der Beklagte hatte ursprünglich bei dem 1940 geborenen Kläger mit Bescheid vom 14.01.2015 einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 und das Merkzeichen G ab dem 01.12.2013 anerkannt und seine Entscheidung auf die Funktionsbeeinträchtigungen Folgen nach Spinalkanalstenosenoperation in Höhe zwischen dem 12. Brustwirbel und 1. Lendenwirbel mit einem Einzel-GdB 50 und Verschleiß beider Kniegelenke mit Knie-TEP links, Totalendoprothesenimplantation rechte Hüfte, Pfannenlockerung rechts mit einem Einzel-GdB 40 gestützt. Ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB blieb die Funktionsbeeinträchtigung Hörminderung, Tinnitus mit einem Einzel-GdB 20.
Am 27.08.2019 beantragte der Kläger einen höheren GdB und das Merkzeichen aG ab Antragstellung. Als Gesundheitsstörungen machte er außergewöhnliche Gehbehinderung geltend. Mit dem Antrag übersandte der Kläger eine Begründung, ärztliche Berichte, eine Verordnung für häusliche Krankenpflege und einen Rehaentlassungsbericht von der G. Klinik H..
Der Beklagte holte Befundscheine von Herrn Dr. I. (Internist), Herrn Dr. J. (Orthopäde) und Herrn K. (HNO-Arzt) ein. Der Kläger übersandte auf Nachfrage ein Sprachaudiogramm. Der Beklagte holte eine versorgungsärztliche Stellungnahme von seinem ärztlichen Dienst ein und stellte mit Bescheid vom 02.12.2019 einen GdB von 80 und das Merkzeichen B ab dem 27.08.2019 fest. Die Zuerkennung des beantragten Merkzeichens aG lehnte er ab. Seine Entscheidung stützte der Beklagte auf die Funktionsbeeinträchtigungen Folgen nach Spinalkanalstenosenoperation in Höhe zwischen dem 12. Brustwirbel und 1. Lendenwirbel mit einem Einzel-GdB 50, Verschleiß beider Kniegelenke mit Knie-TEP links, Totalendoprothesenimplantation rechte Hüfte mit einem Einzel-GdB 40 und Wiederkehrende Gleichgewichtsstörungen und Schwindel mit einem Einzel-GdB 30. Ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB blieb die Funktionsbeeinträchtigung Hörminderung, Tinnitus mit einem Einzel-GdB 20.
Mit Schreiben vom 23.12.2020 erhob der Kläger Widerspruch und begründete diesen.
Der Beklagte holte eine Stellungnahme seines versorgungsärztlichen Dienstes ein und wies mit Widerspruchsbescheid vom 27.05.2020 den Widerspruch als unbegründet zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 11.06.2020 Klage erhoben, diese begründet und medizinische Unterlagen übersandt. Insbesondere hat der Kläger dargelegt, dass er sich ohne Gehhilfen überhaupt nicht fortbewegen könne. Entweder müsse er den Rollstuhl oder zwei Gehstützen benutzen. Selbst mit den Gehhilfen sei die Fortbewegung äußerst mühsam. Geringe Bodenunebenheiten könne er nicht überwinden, der freie Stand sei unmöglich. Darüber hinaus müsse er aufgrund seiner Fußheberschwäche beim Einsteigen in sein Fahrzeug die Fahrertür weit öffnen, um sich an der Tür oder dem Türrahmen festhalten zu können und mit der anderen Hand den Fuß in das Auto hineinziehen. Dies lasse sich aber nur auf einem entsprechend breiten Parkplatz vollziehen. Bereits wiederholt sei dem Kläger widerfahren, dass er bei seiner Rückkehr zu seinem in einer normalen Parkbucht abgestellten Auto das benachbarte Auto zu nah an seiner Fahrertür stand, so dass er auf die Rückkehr des anderen Fahrers warten musste, um nach dessen Wegfahren einsteigen zu können.
Weiter hat der Kläger vorgetragen, dass durch seine erheblichen und sofortigen Gleichgewichtsstörungen eine große Sturzneigung bestünde. Er sei bereits wiederholt gestürzt, überwiegend Zuhause und überwiegend ohne schwere Folgen. Ein Sturz am 01.09.2022 habe aber zu einem dreitägigen Krankenhausaufenthalt geführt. Bereits wenn zu starke Windstöße kämen, würde er gleich umfallen. Bei Glätte und wenn es zu heiß sei, könne er mit seinen Unterarmgehstützen gar nicht gehen.
Das Gericht hat von November 2020 bis Juni 2021 Befundberichte von Herrn Dr. J. (Orthopäde), Herrn K. (HNO-Arzt), Frau Dr. L. (Allgemeinmedizinerin) und Herrn Dr. M. (Nervenarzt) eingeholt.
Mit Beschluss vom 25.10.2021 hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens und Herrn Dr. N. als Sachverständigen ernannt. Der Sachverständige hat dem Gericht das Gutachten zum 28.12.2021 erstattet (Untersuchungsdatum 14.12.2021). Zum Gutachten hat der Kläger vorgetragen, dass die im Gutachten festgestellten Zustände die Zuerkennung des Merkzeichens aG rechtfertigen würden, allerdings entgegen der nicht nachvollziehbaren Schlussfolgerungen des Gutachters. Der Sachverständige hat ergänzend zum 14.10.2022 Stellung genommen.
Das Gericht hat im September 2022 einen weiteren Befundbericht von Herrn Dr. M. angefordert, welchen dieser dem Gericht zum 20.04.2023 übersandt hat.
Mit Beschluss vom 04.05.2023 hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines neurologischen Gutachtens und Herrn PD Dr. O. als Sachverständigen ernannt. Das Gutachten hat der Sachverständige dem Gericht zum 08.06.2023 erstattet (Untersuchungsdatum 05.06.2023). Eine Stellungnahme des Klägers auf das neurologische Gutachten erfolgte nicht mehr.
Der Kläger beantragt: Der Bescheid vom 2. Dezember 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Mai 2020, zugegangen am 30. Mai 2020, wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, dem Kläger das Merkzeichen „aG“ mit Wirkung ab dem 27. August 2019 zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Er verweist auf seine Ausführungen im Verwaltungsverfahren. Weder seien neue medizinisch verwertbare Gesichtspunkte vorgetragen noch würden sich aus den Befundberichten oder aus den Gutachten andere Befunde ergeben. Sowohl das orthopädische als auch das neurologische Gutachten würden die versorgungsmedizinische Einschätzung stützen, dass der Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht erfüllen würde.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts, des Ergebnisses der Beweisaufnahmen, des Vorbringens der Beteiligten und der vorliegenden Befundberichte wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§§ 54 Abs. 1, 4, 56 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid vom 02.12.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.05.2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens aG.
Rechtsgrundlage für den von dem Kläger erhobenen Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens aG ist § 152 Abs. 1 und Abs. 4 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX). Nach § 152 Abs. 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Vierzehnten Buches zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest und treffen gemäß Absatz 4 die erforderlichen Feststellungen über weitere gesundheitliche Merkmale als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen. Diese Regelungen knüpfen materiell-rechtlich an den in § 2 Abs. 1 SGB IX bestimmten Begriff der Behinderung an. Nach Satz 1 sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung liegt gemäß Satz 2 vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.
Ein gesundheitliches Merkmal nach § 154 Abs. 4 SGB IX ist auch die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 229 Abs. 3 SGB IX für die im Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen aG einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV)).
§ 229 Abs. 3 Satz 1 SGB IX bestimmt, dass schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung sind, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt nach der Legaldefinition des § 229 Abs. 3 Satz 2 SGB IX dann vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können. Nach Satz 3 der Vorschrift zählen hierzu insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind. Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen (§ 229 Abs. 3 Satz 4 SGB IX). Nach § 229 Abs. 3 Satz 5 SGB IX sind diese als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter Satz 1 genannten Beeinträchtigung gleichkommt.
Der Kläger erfüllt die beiden in § 229 Abs. 3 Satz 1 und 2 SGB IX genannten kumulativen Voraussetzungen für eine außergewöhnliche Gehbehinderung nicht. Bei ihm besteht weder nach Satz 2 eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung infolge seiner Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule, des Knies, der Hüfte und der wiederkehrenden Gleichgewichtsstörungen und Schwindel (1.) noch entsprechen diese gemäß Satz 1 in ihren Auswirkungen einem GdB von 80 (2.).
1. Bei dem Kläger besteht keine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung nach § 229 Abs. 3 Satz 2 SGB IX. Eine solche liegt dann vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können. Gemäß Satz 3 zählen hierzu insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (vgl. hierzu Urteile des BSG vom 9. März 2023 – B 9 SB 1/22 und B 9 SB 8/21 R, juris, Rn. 24 f. mit weiteren Verweisen, insbesondere BSG, Urteil vom 29. März 2007 – B 9a SB 1/06 R, juris, Rn. 18; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 23. Februar 2021 – L 10 SB 75/19, juris, Rn. 37, 19-21), der sich das Gericht anschließt, setzt das Merkzeichen aG nicht voraus, dass ein schwerbehinderter Mensch nahezu unfähig sein muss, sich auf seinen Beinen fortzubewegen. Vielmehr ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass der schwerbehinderte Mensch – selbst unter Einsatz orthopädischer Hilfsmittel – praktisch von den ersten Schritten außerhalb eines Kraftfahrzeugs an nur mit fremder Hilfe oder nur mit äußerster Anstrengung gehen kann oder sein Restgehvermögen so unbedeutend ist, dass er schon nach kürzester Strecke schmerz- und/oder erschöpfungsbedingt eine Pause einlegen muss, bevor er weitergehen kann. Wenn eine Sturzgefahr als die Mobilität beschränkender Faktor im Vordergrund steht, dann muss die Sturzgefahr so ausgeprägt sein, dass der behinderte Mensch praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeugs an dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen ist (vgl. BSG, Urteil vom 9. März 2023 – B 9 SB 1/22 R, juris, Rn. 26). Dafür muss eine gleichbleibende Häufigkeit von Stürzen erreicht werden, die „ständig“ einen Rollstuhl erforderlich macht. Ein solcher Zustand wäre etwa erreicht, wenn eine verantwortungsbewusste Begleitperson den behinderten Menschen wegen der Selbstgefährdung und der Gefährdung anderer nicht mehr führen, sondern regelmäßig nur noch im Rollstuhl bewegen würde (vgl. BSG aaO).
Das BSG hat die Regelung über die Anerkennung der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG ihrem Zweck entsprechend eng ausgelegt (vgl. BSG aaO, Rn. 24). Das Merkzeichen aG soll lediglich eine stark eingeschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der Wege mithilfe der gewährten Parkerleichterungen ausgleichen, wobei wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, hohe Anforderungen zu stellen sind, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (BSG aaO; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 23. Februar 2021 – L 10 SB 75/19, juris, Rn. 19-21). Zudem wird mit jeder Vermehrung der Parkflächen dem gesamten Personenkreis eine durchschnittlich längere Wegstrecke zugemutet, weil ortsnaher Parkraum nicht beliebig geschaffen werden kann. Daher würde bei einer an sich wünschenswerten Ausweitung des begünstigten Personenkreises der in erster Linie zu begünstigende Personenkreis wieder benachteiligt.
Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nach Überzeugung des Gerichts nicht. Dies ergibt sich sowohl aus dem orthopädischen als auch aus dem neurologischen Gutachten. Der Kläger ist nicht bereits im Sinne des Satz 3 und auch nach eigenen Angaben medizinisch notwendig auf die Verwendung eines Rollstuhls auch für sehr kurze Entfernungen angewiesen; er kann sich mithilfe von Unterarmgehstützen bewegen. Er kann ohne äußerste Anstrengung bei nicht unbedeutendem Restgehvermögen gehen. Der Kläger muss auch nicht nach kürzester Strecke schmerz- oder erschöpfungsbedingt eine Pause einlegen, bevor er weitergehen kann. Es besteht beim Kläger auch keine Sturzgefahr, die so ausgeprägt ist, dass er praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeugs an dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen ist.
Aus der ambulanten Untersuchung bei Herrn Dr. N. ergab sich aus den dort erhobenen Befunden zusammenfassend für die unteren Extremitäten, dass der Kläger orthopädisch in nur geringem Maße von der Altersnorm eine 81jährigen im rechten Hüft- und linken Kniegelenk abwich. Ansonsten lagen altersgemäße Funktionen vor und die Gelenke waren passiv stabil und wurden aktiv zusätzlich ohne Koordinationsstörungen bewegt und aktiv stabilisiert. Zwar wirkten sich die Folgen einer Prothesenimplantation in das rechte Hüft- und linke Kniegelenk sowie auch die Folgen eines zu engen Spinalkanals in der Lendenwirbelsäule aus, aber bei der gleichmäßig stabilen Muskulatur, die im Hüft-, Knie- und Sprunggelenksbereich beiderseits gut koordiniert und stabil wirkte, konnte Dr. N. mit diesem orthopädischen Befund eine mögliche Wegstrecke von unter 100 m oder in 15 Minuten mit zwei kleineren Pausen weniger als 250 m nicht nachvollziehbar begründen. Da Herr Dr. N. allerdings nur einen grob neurologischen Status erheben konnte und die Funktionsbeeinträchtigungen der vom Kläger vorwiegend geltend gemachten Gleichgewichtsprobleme in seiner Bewertung richtigerweise außen vor lies, kam es nachfolgend zum weiteren neurologischen Gutachten.
Auch nach der ambulanten neurologischen Untersuchung bei Herrn Dr. O. ergab sich zwar, dass beim Kläger eine Polyneuropathie (unklarer Ätiologie) mit peripherer Störung und insbesondere mit Reflexminderung und fehlendem Achillessehnenreflex beidseits im Vordergrund stand. Das vom Kläger subjektiv erlebte deutlich geminderte Vibrationsempfinden fand bei objektiv klinischen neurologischen Befund des Gutachters ohne Spastik, ohne erkennbare Pyramidenzeichen, ohne spastische Tonuserhöhung, ohne gesteigerte Reflexe und ohne verbreiterte Reflexzonen keine Entsprechung. Auch Dr. O. vermochte mit dem von ihm erhoben neurologischen Befund nicht zu begründen, dass der Kläger, wenn auch mit Pausen, nur weniger als 200 Meter gehen könnte. Er sei an Unterarmgehstützen draußen gehfähig und dies teilweise auch für weitere Strecken und insbesondere und auch nach eigenen Angaben in der Lage, täglich zur „Rentnerbank“ gehen zu können.
Diesen von den Gutachtern erhobenen orthopädischen und neurologischen Befunde stehen auch keine aus den Befundberichten der behandelnden Ärztinnen und Ärzte entgegen. Ihnen gemeinsam ist hingegen, dass auch auf Nachfrage des Gerichts alle eine noch mit Unterarmgehstützen möglichen Wegstrecke von 100 m oder mehr benannten.
Auch für die vom Kläger geltend gemachte Sturzgefahr lassen sich nach Überzeugung des Gerichts keine Anzeichen insbesondere in den Gutachten finden, dass die bei ihm zwar durchaus bestehende Sturzgefahr aber so stark ausgeprägt ist, dass er deswegen praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeugs an ständig auf einen Rollstuhl angewiesen ist und eine verantwortungsbewusste Begleitperson ihn nicht mehr gehen lassen würde. So häufige Stürze werden weder aus den Befundscheinen im Verwaltungsverfahren noch aus den Befundberichten oder aus dem klägerischen Vortrag selbst ersichtlich. Aus den von den Gutachtern erhobenen orthopädischen und neurologischen Befunden, insbesondere die Polyneuropathie, ergeben sich für eine so stark ausgeprägte und gleichbleibend häufige Sturzgefahr ebenfalls keine Anhaltspunkte. Zu beiden vermochte der Kläger beispielsweise auch alleine anzureisen und die Fußwege zu bewältigen. Auch auf die vom Kläger geltend gemachten (und vom Beklagten als wiederkehrende Gleichgewichtsstörungen und Schwindel mit einem Einzel-GdB 30 berücksichtigten) Gleichgewichtsstörungen lässt sich eine solche Sturzgefahr nicht zurückführen, da ein objektiver (neurologischer oder psychiatrischer) Befund mit Diagnose hierzu fehlt. Auf die unter 2. folgenden Ausführungen des Gerichts zur geltend gemachten mobilitätsbezogenen Gesundheitsstörung Gleichgewichtsstörungen wird verwiesen.
Letztlich widerspricht auch der Kläger selbst diesen Befunden nicht. Im gesamten Verfahren, in seiner Klagebegründung, bei den beiden Gutachtern oder zuletzt in der mündlichen Verhandlung trägt der Kläger vor, dass es ihm vor allem auf das Parken dürfen auf den Behindertenparkplätzen ankäme, weil diese breit genug seien, so dass er beim Aus- und Einsteigen die Autotür weit genug öffnen könne, um sich festhalten und sein Bein heraus oder hereinheben zu können. Das Gericht kann dieses erhebliche Problem des Klägers, dass ihn sicherlich immer wieder in seiner Lebensführung massiv einschränkt, nachvollziehen. Es findet auch seine Entsprechungen in den vorliegenden Befunden. Aber es führt nicht dazu, dass die oben dargelegten Voraussetzungen für eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung iSd § 229 Abs. 3 Satz 2 SGB IX erfüllt werden.
Mit Inkrafttreten dieser Norm, bei der der Gesetzgeber die bisherige (ebenfalls oben dargelegte) Rechtsprechung des BSG übernommen hat (vgl. Lampe, Neugestaltung der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG, NZS 2017, S. 655 ff.), hat sich der Gesetzgeber ausdrücklich darauf festgelegt, dass der Maßstab das Restgehvermögen des schwerbehinderten Menschen außerhalb seines Kraftfahrzeugs bleibt.
Dabei kommt es nur darauf an, unter welchen Bedingungen es dem schwerbehinderten Menschen noch möglich ist, sich außerhalb seines Kraftfahrzeugs zu bewegen. Denn Ziel des Merkzeichens aG war und bleibt insbesondere, dass Parkraum für diejenigen Schwerbehinderten geschaffen werden sollte, denen längere Wege zu Fuß nicht zuzumuten sind (vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/9522, S. 318). Angesichts des Wortlauts der Vorschrift und bei dieser Begründung und Zielsetzung durch den Gesetzgeber ist nach Überzeugung des Gerichts eine noch so problematische Ein- und Aussteigesituation des schwerbehinderten Menschen aus seinem Kraftfahrzeug nicht unter die alleine zu betrachtende und zu wertende Wegefähigkeit (von den ersten Schritten) außerhalb des Kraftfahrzeugs zu fassen.
2. Bei dem Kläger besteht auch keine durch seine Funktionsbeeinträchtigungen bedingte mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, die einem GdB von 80 entspricht (§ 229 Abs. 3 Satz 1 SGB IX).
Nach § 152 Abs. 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Vierzehnten Buches zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Nach § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, beginnend ab einem Grad von mindestens 20, § 152 Abs. 1 Satz 6 SGB IX. Bei Vorliegen mehrerer Teilhabebeeinträchtigungen ist der Grad der Behinderungen gemäß § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzusetzen. Der maßgebliche Gesamt-GdB ergibt sich dabei aus der Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen.
Ergänzend kommt die nach § 153 SGB IX und § 5 Abs. 2 SGB XIV erlassene Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (VersMedV) zur Anwendung, die über § 241 Abs. 5 SGB IX (vgl. BSG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – B 9 SB 1/18 R, juris, Rn. 12) Gesetzesrang erhalten hat. Die dort festgelegten Maßstäbe wiederum erfahren in den „Versorgungsmedizinischen Grundsätzen“ der Anlage zu § 2 VersMedV (AnlVersMedV) weitere Konkretisierungen. Dort sind u.a. die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) i.S.d. § 5 Abs. 2 SGB XIV festgelegt worden, die die sog „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) abgelöst haben. Die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ sind auch für die Feststellung des GdB maßgebend, weil beide Begriffe – insoweit übereinstimmend – ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens bilden (vgl. Teil A Nr. 2 AnlVersMedV). Die zum 01. Januar 2009 in Kraft getretene AnlVersMedV (aktueller Stand: Mai 2020) stellt ihrem Inhalt nach ein antizipiertes Sachverständigengutachten dar.
Grundsätzlich ist der GdB nach ständiger Rechtsprechung (stRspr) des BSG (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 9. März 2023 – B 9 SB 8/21 R, juris, Rn. 32 mwN), der sich das Gericht anschließt, in drei Schritten zu ermitteln: Im ersten Schritt sind die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (vgl § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX) und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festzustellen. Im zweiten Schritt sind diese den in Teil A Nr. 2 e) AnlVersMedV genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Im dritten Schritt ist – in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (Teil A Nr. 3 c) AnlVersMedV) – in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden (Teil A Nr. 3 d) AnlVersMedV). Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind im Rahmen der Gesamtwürdigung die Auswirkungen der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen mit denjenigen von Gesundheitsstörungen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der AnlVersMedV feste Grade angegeben sind (vgl Teil A Nr. 3 b) AnlVersMedV).“
Die auf diese Weise vorzunehmende Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (stRspr, zB BSG Urteil vom 27.10.2022 – B 9 SB 4/21 R, juris, Rn. 21). Dabei müssen die Tatsachengerichte bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) in der Regel ärztliches Fachwissen heranziehen (stRspr, zB BSG Beschluss vom 24.2.2021 – B 9 SB 39/20 B, juris, Rn. 11 mwN). Bei der Bemessung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es indessen nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 3 Satz 1 SGB IX maßgeblich auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem zweiten und dritten Prüfungsschritt haben die Tatsachengerichte über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere in die AnlVersMedV einbezogene Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (stRspr; zB BSG Urteil vom 16.12.2021 – B 9 SB 6/19, juris, Rn. 38).
Bei der Bestimmung des Kreises der schwerbehinderten Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung durch § 229 Abs. 3 Satz 1 SGB IX werden die vorstehend ausgeführten Grundsätze nur insoweit modifiziert, dass anstelle des Gesamt-GdB der GdB in Bezug auf die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung zu bestimmen ist (BSG, Urteil vom 9. März 2023 – B 9 SB 8/21 R, juris, Rn. 34: Anhaltspunkte für weitergehende Abweichungen von den genannten Grundsätzen bestehen nicht).
Der GdB „für“ die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung ist dementsprechend ausgehend von den Grundsätzen und Funktionssystemen der AnlVersMedV mit Rücksicht auf den Zweck des Merkzeichens aG, die stark eingeschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der neben der Kraftfahrzeugbenutzung unausweichlichen Wegstrecke auszugleichen, unter Berücksichtigung aller Beeinträchtigungen zu bilden, die sich nachteilig auf die Gehfähigkeit auswirken (BSG aaO, Rn. 35). Dabei darf sich nicht nur auf bestimmte Gesundheitsstörungen, etwa des orthopädischen Fachgebiets, beschränkt werden, weil eine außergewöhnliche Gehbehinderung nicht nur in einer Beeinträchtigung der Beine, sondern beispielsweise auch in einer Störung der Herztätigkeit, der Lungenfunktion, neurologischen Beeinträchtigungen, weiteren Gesundheitsstörungen oder in einer Kombination derselben begründet sein kann (BSG aaO, Rn. 35).
Mithin sind entsprechend den allgemeinen Grundsätzen über die Bildung des Gesamt-GdB (Teil A Nr. 3 AnlVersMedV) zunächst die Einzel-GdB für alle Funktionsbeeinträchtigungen zu bestimmen, die sich in relevanter Weise nachteilig auf die Gehfähigkeit auswirken (BSG aaO, Rn. 36; vgl Lemke, NZS 2017, 655, 659). Abzüge von den hierfür in Teil B der VMG angegebenen Werte, weil diese stets auch andere als ausschließlich die Mobilität betreffende Teilhabebeeinträchtigungen berücksichtigen, sind nicht vorzunehmen, da eine zutreffende Bestimmung des nur hierauf entfallenden Teil-GdB in der Praxis regelmäßig nicht möglich sein wird und durch den Wortlaut „mobilitätsbezogen“ auch nicht geboten ist (BSG aaO, Rn. 36).
Im Anschluss ist ausgehend von dem höchsten Einzel-GdB in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen ein eigenständiger (Teil-)Gesamt-GdB für die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung zu bilden. Auch hier können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei dieser (Teil-)Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen von mobilitätsbezogenen Gesundheitsstörungen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VMG feste Grade angegeben sind (BSG aaO, Rn. 36).
Bei dem Kläger besteht der vom Beklagten anerkannte Gesamt-GdB von 80. Seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat der Beklagte die Funktionsbeeinträchtigungen Folgen nach Spinalkanalstenosenoperation in Höhe zwischen dem 12. Brustwirbel und 1. Lendenwirbel mit einem Einzel-GdB 50, Verschleiß beider Kniegelenke mit Knie-TEP links, Totalendoprothesenimplantation rechte Hüfte mit einem Einzel-GdB 40 und Wiederkehrende Gleichgewichtsstörungen und Schwindel mit einem Einzel-GdB 30. Diese Funktionsbeeinträchtigungen wirken sich auch alle nachteilig auf die Gehfähigkeit aus, so dass diese für die Bestimmung des mobilitätsbezogenen GdB heranzuziehen sind.
Diese Einzel-GdB sind grundsätzlich auch hier vorauszusetzen, da ansonsten der vom Beklagten anerkannte („nicht mobilitätsbezogene“) Gesamt-GdB von 80 bereits wohl nicht mehr zu rechtfertigen wäre. Denn jedenfalls die beiden Gutachter Dr. N. und Dr. O. und vor allem Dr. N. kommen schlüssig und nachvollziehbar und zur Überzeugung des Gerichts zu zum Teil gleichen Gesundheitsstörungen, aber daraus resultierenden geringeren Funktionsbeeinträchtigungen.
Bei dem Kläger liegt danach als mobilitätsbezogene Hautbehinderung im Funktionssystem Rumpf, die sich in relevanter Weise nachteilig auf die Gehfähigkeit auswirkt, die Funktionsbeeinträchtigung Folgen nach Spinalkanalstenosenoperation in Höhe zwischen dem 12. Brustwirbel und 1. Lendenwirbel vor, die der Beklagte gemäß Teil B Ziffer 18.9 AnlVersMedV mit einem Einzel-GdB 50 bewertet hat. Aus dem fehlstatischen Belastungsaufbau der Gesamtwirbelsäule, den neurologischen Störungen nach Bandscheiben/Spinalkanalstenosen-Operation und der Dekompression beider Beine und insbesondere und inklusive der Polyneuropathie unklarer Ätiologie ergeben sich ein deutlicher Haltungsverfall der Gesamtwirbelsäule mit starker Fixierung der inklinierten Körperhaltung und entsprechende Anpassungserscheinungen der Muskulatur. Dies ist, worauf Herr Dr. N. zu Recht hinweist, insgesamt gerade noch als Wirbelsäulenschäden mit besonders schweren funktionellen Auswirkungen zu werten. Für eine schwerere Funktionsbeeinträchtigung, wie die lediglich ambulant geäußerte neurologische Auffassung, dass beim Kläger eine inkomplette Querschnittssymptomatik mit einer paraspastischen und spinalataktischen Gangstörung vorläge, fanden beide Gutachter keine Anzeichen in ihrer ambulanten Untersuchung.
Als weitere mobilitätsbezogene Funktionsbeeinträchtigung besteht bei dem Kläger im Funktionssystem Beine ein Verschleiß beider Kniegelenke mit Knie-TEP links, Totalendoprothesenimplantation rechte Hüfte, den der Beklagte mit einem Einzel-GdB 40 bewertet hat. Das wird für das Gericht weder anhand des Befundberichtes von Herrn Dr. J. noch insbesondere anhand des von Herrn Dr. N. erhobenen Befundes nachvollziehbar. Es ergeben sich nachvollziehbar vielmehr nur Funktionsbeeinträchtigungen des linken Knie und der rechten Hüfte, die gemäß Teil B Ziffer 18.13 AnlVersMedV mit zusammen insgesamt (und höchstens) 30 zu bewerten sind, weil sich die leichten Funktionsbeeinträchtigungen der linken und rechten unteren Extremität etwas gegenseitig verstärken. Beim linken Knie besteht nach der TEP eine exakte Stellung und nur eine in der Beugung und Streckung endgradige und mithin unbedeutende Behinderung sowie eine gute muskuläre Stabilisierung durch den Oberschenkelmuskel bei in der Untersuchung nicht auslösbaren Schmerzen, was nicht höher als mit einem Einzel-GdB 20 bewertet werden kann. Nach der letzten Hüft-TEP (Wechsel der Prothesenpfanne im Januar 2015) bestehen reizfreie Narben, keine Schleimbeutelentzündung und auch keine Sehnenansatzentzündungen in den Muskeln, sondern nur endgradige Funktionseinschränkungen bei den Rotationsbewegungen mit einer leichten Außenrotationskontraktur. Die Muskeln stützen das Hüftgelenk ausreichend gut stabil. Auch die Funktionsbeeinträchtigungen der Hüfte vermögen einen höheren Einzel-GdB als 20 nicht zu begründen.
Die mobilitätsbezogene Funktionsbeeinträchtigung Wiederkehrende Gleichgewichtsstörungen und Schwindel hat der Beklagte (zum Bescheid vom 02.12.2019 und seitdem) mit einem Einzel-GdB 30 und wohl gemäß Teil B Ziffer 5.3 AnlVersMedV im Funktionssystem Ohr bewertet. Jedenfalls ist dies zu vermuten, da alleine ein Befundschein von Herrn K. (neu) vorlag, der lediglich als Diagnose Gleichgewichtsstörung Gangunsicherheit benannte. Warum der Beklagte ohne weitere Angaben dann von mittelgradigen Folgen der Gleichgewichtsstörungen ausging, erschließt sich dem Gericht nicht; bereits Anhaltspunkte für ein Ausmaß ließen sich, auch in den anderen Befundscheinen, nicht finden. Wie sich dann im Befundbericht von Herrn K. an das Gericht zum Januar 2021 nachträglich zeigt, ging Herr K. zum letzten Behandlungstermin des Klägers im September 2019 von einer fachfremden Diagnose aus, indem er mitteilte, dass Gleichgewichtsprobleme wegen Polyneuropathie bestünden. Auch aus den beiden Befundberichten aus Juni 2021 und April 2023 des behandelnden Nervenarztes Dr. M. ergeben sich keine Hinweise auf eine (selbst gestellte) Diagnose Gleichgewichtsstörungen. Gleichgewichtsstörungen werden nur als vom Kläger geäusserte Beschwerden von Herrn Dr. M. wiedergegeben. Zuletzt lassen sich auch bei der neurologischen Befunderhebung von Dr. O. keine objektiven Anzeichen für Befunde von Gleichgewichtsstörungen ausmachen; vielmehr benennt der Gutachter eine erheblich somatoform überlagerte Untersuchung. Mithin besteht für das Gericht kein Anlass von einer (somatischen) Gleichgewichtsstörung im Funktionssystem Ohr auszugehen.
Vielmehr dürfte es sich bei den vom Kläger empfundenen Gleichgewichtsstörungen um eine somatoforme Störung handeln, deren Funktionsbeeinträchtigungen gemäß Teil B Ziffer 3.7 AnlVersMedV zu bewerten wären. Allerdings lässt sich hierzu bereits keine fachärztlich psychiatrisch oder psychosomatisch gestellte Diagnose finden. Auch hausärztlich ergeben sich keine Hinweise für eine solche diagnostizierte Gesundheitsstörung. Insbesondere auch der behandelnde Nervenarzt Dr. M., der als solcher auch psychiatrisch diagnostizieren könnte, führt insoweit lediglich ein reaktiv-depressives Syndrom als Diagnose auf. Behandlungen oder Therapien werden ebenso nicht ersichtlich. Sowohl der orthopädische Gutachter Dr. N. als auch der neurologische Gutachter Dr. O. diagnostizieren in ihren Gutachten dann auch keine (fachfremde) somatoforme Störung iSd F45, sondern weisen nur darauf hin, dass sie ganz besondere subjektive Beschwerden oder eine somatoforme Überlagerung im Rahmen ihrer Untersuchungen wahrgenommen haben. Mithin kann das Gericht bei den wiederkehrenden Gleichgewichtsstörungen und dem Schwindel bereits nicht von einer bestehenden Gesundheitsstörung ausgehen, so dass sich auch die Frage nach deren Auswirkung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nicht zu stellen vermag.
In der Gesamtschau der mobilitätsbezogenen Funktionsbeeinträchtigungen ergibt sich nach Überzeugung des Gerichts ein Gesamt-GdB 60 für die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung. Ausgehend von dem schwachen Einzel-GdB 50 für die Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule und der Polyneuropathie verstärken die leichten Funktionsbeeinträchtigungen aus Knie und Hüfte mit einem mäßigen Einzel-GdB 30 diese Auswirkungen, so dass das Ausmaß der mobilitätsbezogen Behinderung größer wird und 10 Punkte hinzuzufügen sind, um der mobilitätsbezogenen Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Diese insgesamt beim Kläger bestehenden Auswirkungen sind vergleichbar mit denen bei einem Verlust eines Beines im Unterschenkel bei ungenügender Funktionstüchtigkeit des Stumpfes und der Gelenke sowie denen bei erheblichen beidseitigen Teilverlusts der Füße zwischen Rückfuß und Mittelfuß (Teil B Ziffer 18.13 AnlVersMedV jeweils Einzel-GdB 60).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.