Trotz erfolgreicher GdB-Herabsetzung nach Heilungsbewährung nach vollständiger Lungenentfernung sollte die Feststellung des Grades der Behinderung gesenkt werden, weil der Krebs als besiegt galt. Das Gericht musste jedoch prüfen, ob die rein organische Folge der Operation, eine Verschiebung innerer Organe, den hohen Grad der Behinderung weiterhin rechtfertigt.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Wieso wiegt eine entfernte Lunge schwerer als eine Statistik?
- Was war der Auslöser für den Streit?
- Warum argumentierte das Amt mit einer drastischen Senkung?
- Welche Argumente hatte der Kläger dagegen?
- Wie bewertete das Gericht die unklare Beweislage?
- Wieso zählte das Gutachten trotz fehlender Untersuchung?
- Welche Rolle spielte die Beweislast in der finalen Entscheidung?
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Wann darf das Versorgungsamt meinen GdB nach Ablauf der Heilungsbewährung senken?
- Wann liegt die Beweislast für die GdB-Senkung beim Versorgungsamt?
- Wie werden individuelle anatomische Folgen (z.B. Mediastinalverlagerung) beim GdB berücksichtigt?
- Ist ein ärztliches Gutachten zum Grad der Behinderung ohne körperliche Untersuchung zulässig?
- Welcher GdB wird für eine mittelgradige Einschränkung der Lungenfunktion festgesetzt?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: L 6 SB 1880/25 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Landessozialgericht Baden-Württemberg
- Datum: 18.09.2025
- Aktenzeichen: L 6 SB 1880/25
- Verfahren: Berufung
- Rechtsbereiche: Sozialrecht; Grad der Behinderung (GdB)
- Das Problem: Das Versorgungsamt wollte den Grad der Behinderung (GdB) eines Mannes nach Lungenkrebs von 80 auf 20 senken. Der Mann forderte, dass sein GdB wegen der verbliebenen Folgen der Lungenentfernung bei mindestens 50 bleibt.
- Die Rechtsfrage: Kann das Versorgungsamt den Grad der Behinderung nach Ablauf der Heilungsbewährung unter 50 senken, obwohl die Lungenfunktion durch den vollständigen Verlust eines Lungenflügels stark eingeschränkt ist?
- Die Antwort: Nein. Das Gericht wies die Berufung des Versorgungsamtes zurück. Die Funktionsstörungen wie die Verschiebung des Mittelfells und die schlechten Lungenwerte belegen eine mittelgradige Einschränkung. Deshalb muss der Grad der Behinderung weiterhin 50 betragen.
- Die Bedeutung: Im Herabsetzungsverfahren trägt das Versorgungsamt die Beweislast für den Umfang der Besserung. Bei einer vollständigen Lungenentfernung müssen individuelle, überdurchschnittliche Störungen der Atemmechanik berücksichtigt werden.
Der Fall vor Gericht
Wieso wiegt eine entfernte Lunge schwerer als eine Statistik?
Nach der Entfernung eines Lungenflügels verschiebt sich im Brustkorb alles. Das Herz, die Luftröhre, der verbliebene Lungenflügel – sie alle suchen sich einen neuen Platz in der entstandenen Leere. Diese anatomische Realität war der Kern im Streit eines Mannes mit dem Versorgungsamt. Er hatte den Lungenkrebs besiegt.

Das Amt sah darin den Grund, seinen Grad der Behinderung (GdB) massiv zu kürzen. Der Mann argumentierte, die Folgen der Operation, diese unsichtbare, aber spürbare Neuordnung in seinem Körper, rechtfertigten weiterhin einen hohen Schutzstatus. Das Gericht musste entscheiden, ob die Aktenlage der Behörde oder die erlebte Realität des Mannes schwerer wiegt.
Was war der Auslöser für den Streit?
Ein Mann erkrankte 2017 an Lungenkrebs. Ärzte mussten ihm in einer Operation den gesamten linken Lungenflügel entfernen, eine sogenannte Pneumektomie. Das zuständige Versorgungsamt stellte daraufhin einen Grad der Behinderung von 80 fest. Fünf Jahre vergingen. In der Versorgungsmedizin gilt nach einer solchen Zeitspanne ohne Rückfall eine Krebserkrankung als überstanden – die sogenannte Heilungsbewährung ist abgelaufen. Für die Behörde war dies das Signal, den Fall neu zu prüfen. Sie kam zu dem Schluss, dass sich die Verhältnisse des Mannes gebessert hätten. Mit einem Bescheid senkte das Amt seinen GdB von 80 auf nur noch 20. Der Mann legte Widerspruch ein, scheiterte und zog vor das Sozialgericht.
Warum argumentierte das Amt mit einer drastischen Senkung?
Die Logik des Versorgungsamtes folgte einem formalen Schema. Der hohe GdB von 80 wurde ursprünglich wegen der aktiven Krebserkrankung gewährt. Mit Ablauf der Heilungsbewährung entfällt dieser Grund. Übrig bleiben die dauerhaften organischen Schäden – in diesem Fall der Verlust des linken Lungenflügels. Die versorgungsärztlichen Gutachter des Amtes bewerteten diese verbliebene Einschränkung mit einem Teil-GdB von 20. Dies entspricht laut den Tabellen der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) einer nur leichten Einschränkung. Das Amt kritisierte zudem die vom Kläger vorgelegten medizinischen Befunde. Die Messwerte der Lungenfunktion seien nicht über die Zeit konsistent und könnten fehlerhaft sein. Es fehlten objektive Belastungstests. Die vorgelegten Daten reichten nicht aus, um einen höheren GdB als 20 zu rechtfertigen.
Welche Argumente hatte der Kläger dagegen?
Der Mann bestritt nicht, dass die Heilungsbewährung eingetreten war. Er argumentierte aber, die Folgen der Operation seien weitaus gravierender als vom Amt angenommen. Seine Ärzte legten Werte vor, die eine massive Einschränkung seiner Lungenfunktion zeigten. Die forcierte Einsekundenkapazität (FEV1), ein Schlüsselwert für die Lungenleistung, lag nur noch zwischen 45 und 54 Prozent des Sollwertes. Seine Vitalkapazität (VC) erreichte nur 52 Prozent. Im Alltag bedeutete das: Belastungsatemnot, Probleme beim Treppensteigen, eine eingeschränkte Gehstrecke. Der entscheidende Punkt seiner Argumentation war die sogenannte Mediastinalverlagerung. Durch die Entfernung der linken Lunge hatten sich die Organe im Brustkorb verschoben. Diese anatomische Veränderung beeinträchtigt die Atemmechanik zusätzlich und führt zu überproportionalen funktionellen Störungen – ein Effekt, den pauschale Tabellenwerte nicht erfassen.
Wie bewertete das Gericht die unklare Beweislage?
Das Sozialgericht Reutlingen gab dem Mann recht und stellte einen GdB von 50 fest. Das Amt ging in Berufung. Das Landessozialgericht musste den Fall final klären. Im Zentrum stand die Frage: Sind die vom Kläger vorgelegten Messwerte und Arztberichte glaubhaft und ausreichend? Das Amt zweifelte ihre Validität an. Es forderte weitere, objektivere Tests wie einen 6-Minuten-Gehtest oder eine Spiroergometrie. Das Gericht durchkreuzte diese Argumentation mit einer klaren Feststellung. Hätte das Amt im ursprünglichen Verwaltungsverfahren diese Tests für notwendig erachtet, wäre es seine Aufgabe gewesen, diese auch zu veranlassen. Die Beweislast für eine wesentliche Besserung der Gesundheit des Mannes liegt nach § 48 Abs. 1 SGB X allein bei der Behörde, die den GdB senken will. Sie kann nicht im Nachhinein eine lückenhafte Beweislage beklagen, die sie selbst mitverursacht hat.
Wieso zählte das Gutachten trotz fehlender Untersuchung?
Ein vom Gericht bestellter Gutachter sollte Klarheit schaffen. Der Kläger sagte zwei Untersuchungstermine aus gesundheitlichen Gründen ab. Das Gericht wies den Gutachter an, sein Urteil auf Basis der Aktenlage und einer telefonischen Befragung des Mannes zu fällen. Das Versorgungsamt griff dies als Schwachpunkt an – ein Gutachten ohne persönliche Untersuchung sei nicht aussagekräftig. Auch hier folgte das Gericht nicht. Der Gutachter hatte die vorliegenden Lungenfunktionswerte als schlüssig bewertet. Er bestätigte die medizinische Logik hinter der Mediastinalverlagerung. Die Verschiebung der Organe erklärt plausibel, warum die Einschränkungen des Mannes stärker sind, als es der reine Verlust eines Lungenflügels vermuten ließe. Ein Gutachten nach Aktenlage ist zulässig und beweiskräftig, wenn die Faktenbasis – wie hier – ausreicht.
Welche Rolle spielte die Beweislast in der finalen Entscheidung?
Die Frage der Beweislast zementierte die Entscheidung des Gerichts. Das Versorgungsamt muss zweifelsfrei nachweisen, dass eine wesentliche Besserung eingetreten ist und in welchem Umfang. Die vorgelegten Messwerte des Klägers (FEV1 unter 55 %, VC um 52 %) fallen nach den Richtlinien der Versorgungsmedizin-Verordnung klar in den Korridor für eine „mittelgradige Einschränkung“ der Lungenfunktion. Dieser Bewertungsrahmen sieht einen GdB von 50 bis 70 vor. Die Einschätzung des Sachverständigen zur Mediastinalverlagerung stützte diese Einordnung. Die Zweifel des Amtes an den Messwerten blieben bloße Vermutungen. Konkrete Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Messung oder mangelnde Mitarbeit des Klägers lagen nicht vor. Restzweifel gehen zu Lasten der Behörde. Das Landessozialgericht bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz. Der Grad der Behinderung des Mannes beträgt weiterhin 50. Die Berufung des Amtes wurde zurückgewiesen.
Die Urteilslogik
Der Ablauf der Heilungsbewährung berechtigt die Behörde nicht, den Grad der Behinderung pauschal zu senken, wenn fortdauernde organische Schäden die mittelgradige funktionelle Einschränkung belegen.
- Beweislast bei Herabsetzung: Eine Behörde muss eine wesentliche Besserung des Gesundheitszustandes zweifelsfrei nachweisen; Restzweifel über eine lückenhafte Beweislage gehen stets zulasten der Behörde, die den Grad der Behinderung senken will.
- Organische Realität vor Pauschaltabelle: Anatomische Folgeschäden, die die Körperfunktionen zusätzlich beeinträchtigen (z. B. Mediastinalverlagerung), heben die pauschale Bewertung von Tabellenwerten auf und begründen einen Grad der Behinderung von 50, wenn sie eine mittelgradige Funktionseinschränkung verursachen.
- Pflicht zur Beweiserhebung: Zweifelt die Behörde die Validität der ärztlichen Messwerte des Betroffenen an, muss sie selbst zeitnah die notwendigen objektiven Tests (z.B. Belastungstests) veranlassen, statt im Nachhinein eine Beweislücke zu beklagen.
Die Bewertung des Grades der Behinderung erfordert stets die Berücksichtigung der individuellen anatomischen Realität, die über starre statistische Heilungsfristen hinausgeht.
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Experten Kommentar
Viele Behörden denken, eine Akte und starre Tabellen hätten immer das letzte Wort, wenn der Krebs besiegt ist und die Heilungsbewährung abgelaufen ist. Dieses Urteil zieht eine klare rote Linie: Die einfache Behauptung, die Gesundheit habe sich wesentlich gebessert, reicht dem Versorgungsamt für eine GdB-Senkung nicht aus. Die Behörde trägt die gesamte Beweislast und darf fehlende objektive Tests, die sie selbst versäumt hat, nicht nachträglich dem Betroffenen anlasten. Für Krebspatienten mit starken organischen Folgen, wie nach einer Pneumektomie, bedeutet dies: Es zählt, was die Lunge wirklich noch leistet und wie sich die Organschäden auswirken, nicht, was eine pauschale Statistik vorschreibt.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Wann darf das Versorgungsamt meinen GdB nach Ablauf der Heilungsbewährung senken?
Die Senkung des Grades der Behinderung (GdB) ist formal zulässig, sobald die Heilungsbewährung von in der Regel fünf Jahren abgelaufen ist. Diese Frist markiert das Ende des erhöhten GdB, der aufgrund einer aktiven Krebserkrankung gewährt wurde (typischerweise GdB 80). Das Versorgungsamt muss jedoch zwingend nachweisen, dass sich die verbliebenen funktionellen Einschränkungen des Betroffenen wesentlich gebessert haben.
Nach dem formalen Fristablauf entfällt der Grund für den GdB, der auf der Tumorerkrankung selbst basierte. Die Behörde muss danach die dauerhaften organischen Schäden neu bewerten, etwa den Verlust eines Lungenflügels. Dies führt oft zu einer drastischen Herabstufung, zum Beispiel von GdB 80 auf GdB 20, da die Ärzte des Amtes nur den reinen Organverlust nach Tabelle bewerten. Eine tatsächliche Senkung darf aber nicht allein durch diesen formalen Akt begründet werden. Das Amt muss die Besserung der tatsächlichen Alltagsbeeinträchtigungen wie die Atemfunktion oder Belastbarkeit gerichtsfest belegen.
Entscheidend ist, die unbestreitbaren, verbliebenen anatomischen Folgen zu betonen. Der Verlust einer Lunge führt beispielsweise zur Mediastinalverlagerung – die Organe verschieben sich, was die Atemmechanik zusätzlich stört. Liegen weiterhin mittelgradige Einschränkungen der Lungenfunktion vor (FEV1 unter 60 Prozent), ist eine Senkung auf GdB 20 fehlerhaft. Das Versorgungsamt muss konkret darlegen, inwiefern sich Ihre funktionellen Einschränkungen im Alltag tatsächlich verbessert haben, nicht nur, dass fünf Jahre vergangen sind.
Fordern Sie sofort die Aktennotiz des Versorgungsamtes an, in der die genaue Begründung für die angenommene „wesentliche Besserung“ dargelegt wird.
Wann liegt die Beweislast für die GdB-Senkung beim Versorgungsamt?
Die Regel ist klar: Die Beweislast für eine geplante Senkung des Grades der Behinderung (GdB) liegt stets und vollumfänglich beim Versorgungsamt. Wenn die Behörde Ihren GdB herabsetzen will, muss sie objektiv und zweifelsfrei nachweisen, dass eine wesentliche Besserung Ihres Gesundheitszustandes eingetreten ist. Das befreit Sie von der juristischen Bürde, Ihre anhaltende Einschränkung aktiv beweisen zu müssen.
Diese Verpflichtung leitet sich aus § 48 Abs. 1 SGB X ab, der die Änderung eines bereits erlassenen Verwaltungsaktes regelt. Das Versorgungsamt muss selbst die Fakten und medizinischen Gutachten liefern, welche die angenommene Besserung eindeutig belegen. Restzweifel oder Unklarheiten in der Aktenlage gehen dabei immer zulasten der Behörde, die die Senkung durchsetzen will. Damit schützt das Gesetz Menschen, deren Behinderungsgrad bereits rechtskräftig festgestellt wurde.
Das Versorgungsamt kann sich nicht im Nachhinein über fehlende oder unzureichende Beweise beklagen. Hätte die Behörde objektivere Messungen, wie einen 6-Minuten-Gehtest oder eine Spiroergometrie, für notwendig erachtet, wäre sie verpflichtet gewesen, diese Tests selbst im Verwaltungsverfahren anzuordnen. Die Behörde darf daher keine lückenhafte Beweislage beklagen, die sie selbst mitverursacht hat.
Führen Sie im Widerspruchsschreiben explizit § 48 Abs. 1 SGB X an und fordern Sie das Versorgungsamt auf, die objektiven Beweise für die angenommene Besserung vorzulegen.
Wie werden individuelle anatomische Folgen (z.B. Mediastinalverlagerung) beim GdB berücksichtigt?
Anatomische Besonderheiten müssen zwingend berücksichtigt werden, auch wenn die reinen Tabellenwerte der Versorgungsmedizin-Verordnung diese nicht direkt abbilden. Die Verlagerung von Organen im Brustkorb, bekannt als Mediastinalverlagerung, ist eine anatomische Realität. Diese führt oft zu überproportionalen funktionellen Störungen der Atemmechanik, die über den eigentlichen Organschaden hinausgehen.
Nach der Entfernung eines Lungenflügels (Pneumektomie) verschieben sich die umliegenden Organe wie Herz und Luftröhre in den leeren Raum. Diese Verlagerung behindert die Bewegungsfreiheit des verbleibenden Lungenflügels und erschwert die Atemarbeit. Gerichte erkennen an, dass diese Veränderung zu einer zusätzlich beeinträchtigten Atemmechanik führt. Daher können die resultierenden Einschränkungen im Alltag deutlich schwerwiegender sein, als es die Statistik eines Teil-Lungenverlusts erwarten lässt.
Für eine erfolgreiche Berücksichtigung müssen Gutachten die medizinische Logik hinter der Organverschiebung klar darlegen. Es genügt nicht, nur Lungenfunktionswerte wie FEV1 einzureichen. Ihr behandelnder Arzt muss die Kausalität herstellen. Er muss begründen, warum die Mediastinalverlagerung die Atemnot des Patienten plausibel verstärkt. Liegt dieser explizite ärztliche Bericht vor, triumphieren die tatsächlichen Einschränkungen über starre pauschale Tabellenwerte.
Bitten Sie Ihren Arzt, den Terminus ‚Mediastinalverlagerung‘ im Bericht zu verwenden und zu ergänzen, dass dies die funktionellen Störungen über das zu erwartende Maß hinaus verstärkt.
Ist ein ärztliches Gutachten zum Grad der Behinderung ohne körperliche Untersuchung zulässig?
Viele Betroffene fragen sich, wie ein Gutachten zum Grad der Behinderung (GdB) ohne persönlichen Termin erstellt werden kann. Ein solches Gutachten, das ausschließlich auf der Aktenlage basiert, ist grundsätzlich zulässig und kann volle Beweiskraft entfalten. Die Voraussetzung hierfür ist, dass die vorhandenen medizinischen Unterlagen und Messwerte ausreichend schlüssig und nachvollziehbar sind. Die Gerichte beurteilen die Gültigkeit des Sachverständigenbeweises nicht nach der Untersuchungsmethode, sondern nach der Qualität der Ergebnisse.
Gerichte weisen Sachverständige oft an, ihr Urteil auf der Basis der vorhandenen Akten zu fällen, wenn beispielsweise Untersuchungstermine aus gesundheitlichen Gründen nicht zustande kommen. Die Zulässigkeit eines Aktenlagegutachtens hängt maßgeblich von der Qualität der Dokumentation ab. Wenn konsistente und objektive Messwerte, wie schlüssige Lungenfunktionswerte, vorliegen, reicht diese Faktenbasis aus. Das Versorgungsamt kann dieses Gutachten nicht allein deshalb ablehnen, weil eine körperliche Begutachtung unterblieb, wenn der Sachverständige die Faktenbasis als ausreichend bewertet hat.
Im Einzelfall kann ein Gutachten nach Aktenlage dem Kläger sogar helfen. Nehmen wir an, der Sachverständige bestätigt die medizinische Logik hinter komplexen anatomischen Folgen, etwa einer Mediastinalverlagerung. Der Gutachter kann diese anatomische Realität anhand von MRT- oder CT-Berichten bestätigen. Diese Bestätigung untermauert, warum die funktionellen Einschränkungen stärker sind, als es der reine Tabellenwert vermuten ließe.
Wenn Ihnen ein Gutachten nach Aktenlage zugestellt wird, prüfen Sie zuerst, ob der Sachverständige alle Ihre aktuellen Befunde berücksichtigt hat, und markieren Sie sofort alle Passagen, die Ihre erlebte Realität bestätigen.
Welcher GdB wird für eine mittelgradige Einschränkung der Lungenfunktion festgesetzt?
Der Grad der Behinderung (GdB) richtet sich bei Lungenerkrankungen primär nach der forcierten Einsekundenkapazität (FEV1). Eine mittelgradige Einschränkung liegt vor, wenn dieser Schlüsselwert zwischen 45 Prozent und 60 Prozent des Sollwertes misst. Nach den geltenden Richtlinien der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) wird für diesen medizinisch definierten Bereich ein GdB-Korridor von 50 bis 70 festgesetzt.
Diese GdB-Werte basieren auf der klaren Annahme, dass Einschränkungen in diesem Bereich bereits erhebliche Auswirkungen auf die körperliche Belastbarkeit haben. Die FEV1 dient als objektives Maß dafür, wie schnell und wie viel Luft ein Mensch nach maximaler Einatmung ausstoßen kann. Liegt der Messwert konstant unter 60 Prozent, spiegelt das eine Funktionseinschränkung wider, die keinesfalls als leichte Behinderung (GdB 20) gewertet werden darf.
Konkret: In einem Fall, bei dem ein Lungenflügel entfernt wurde, argumentierte das Amt fälschlicherweise für eine drastische Senkung des GdB auf 20. Die medizinischen Berichte zeigten jedoch FEV1-Werte von nur 45 Prozent bis 54 Prozent des Sollwertes. Das Gericht stellte klar, dass diese Messwerte eindeutig in den höheren Korridor GdB 50 bis 70 fallen und bestätigte den GdB 50.
Überprüfen Sie Ihren letzten Lungenfunktionsbericht und nutzen Sie den FEV1-Wert unter 60 Prozent als klare Verhandlungsgrundlage für einen GdB von mindestens 50.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Aktenlagegutachten
Ein Aktenlagegutachten ist ein Sachverständigenbeweis, den das Gericht anordnet, obwohl keine körperliche Untersuchung des Betroffenen stattgefunden hat.
Juristen nennen diese Form der Beweiserhebung zulässig, wenn die medizinischen Unterlagen und Messwerte in den Akten ausreichend schlüssig sind, um ein fundiertes Urteil zu erlauben. Das Gericht spart dadurch Zeit und berücksichtigt gesundheitliche Hürden des Klägers.
Beispiel: Das Landessozialgericht wies den gerichtlich bestellten Gutachter an, das Aktenlagegutachten zu erstellen, nachdem der Kläger die Untersuchungstermine mehrfach gesundheitsbedingt absagen musste.
Beweislast
Die Beweislast bestimmt im Prozess, welche Partei die tatsächlichen Umstände beweisen muss, wenn das Gericht eine Entscheidung treffen soll.
Dieses juristische Prinzip verteilt das Risiko der Unaufklärbarkeit eines Sachverhalts; können wichtige Tatsachen nicht bewiesen werden, geht dies zu Lasten der Partei, die die Beweislast trägt. Im Sozialrecht schützt dies oft den Bürger, indem es Behörden in die Pflicht nimmt, Änderungen stichhaltig zu belegen.
Beispiel: Weil das Versorgungsamt den Grad der Behinderung des Mannes senken wollte, lag die volle Beweislast für die angenommene wesentliche Besserung seines Zustandes allein bei der Behörde.
Heilungsbewährung
Die Heilungsbewährung bezeichnet im Schwerbehindertenrecht die gesetzlich festgelegte Zeitspanne, während der nach einer Krebserkrankung ein erhöhter Grad der Behinderung (GdB) gewährt wird.
Typischerweise beträgt dieser Zeitraum fünf Jahre und soll dem Betroffenen während der größten Gefahr eines Rückfalls einen höheren Schutzstatus bieten. Nach Ablauf der Heilungsbewährung wird der GdB neu bewertet, wobei nur die bleibenden organischen Schäden zählen.
Beispiel: Nach fünf Jahren ohne Rückfall war die Heilungsbewährung des Mannes abgelaufen und das Versorgungsamt sah dies als formalen Grund, den GdB von 80 drastisch auf 20 zu senken.
Mediastinalverlagerung
Die Mediastinalverlagerung beschreibt die anatomische Verschiebung von Organen wie dem Herz und der Luftröhre in den leeren Raum des Brustkorbs, der nach der Entfernung eines Lungenflügels entstanden ist.
Obwohl dieser medizinische Effekt nicht direkt in den Tabellen der Versorgungsmedizin-Verordnung steht, erkennen Gerichte an, dass diese Organverschiebung die Atemmechanik zusätzlich behindert. Dieser Mechanismus kann erklären, warum die tatsächliche funktionelle Einschränkung die reinen Statistikwerte übertrifft.
Beispiel: Der Kläger argumentierte erfolgreich, dass die durch die Pneumektomie entstandene Mediastinalverlagerung zu überproportionalen funktionellen Störungen führte, die einen GdB 50 rechtfertigten.
Pneumektomie
Als Pneumektomie wird der medizinische Fachbegriff für die vollständige chirurgische Entfernung eines gesamten Lungenflügels bezeichnet, die meist aufgrund von Lungenkrebs notwendig wird.
Diese tiefgreifende Operation ist lebensrettend, führt aber unweigerlich zu dauerhaften und gravierenden Einschränkungen der Atemfunktion. Die verbliebenen Beeinträchtigungen müssen nach den Richtlinien der Versorgungsmedizin-Verordnung bewertet werden.
Beispiel: Die Pneumektomie führte beim Kläger zum Verlust des linken Lungenflügels, was die Grundlage für die spätere Neubewertung seines Grades der Behinderung durch das Versorgungsamt bildete.
§ 48 Abs. 1 SGB X
Dieser Paragraph regelt im Sozialgesetzbuch Zehntes Buch, dass eine Behörde einen rechtmäßig erlassenen Verwaltungsakt (wie die Feststellung des GdB) nur dann zuungunsten des Bürgers ändern darf, wenn sich die zugrundeliegenden Verhältnisse wesentlich gebessert haben.
Diese zentrale sozialrechtliche Norm gewährleistet den Vertrauensschutz in bereits ergangene Bescheide: Die Behörde muss die angenommene Besserung der Gesundheit des Betroffenen gerichtsfest belegen können, bevor sie den GdB senkt.
Beispiel: Das Landessozialgericht bestätigte, dass nach § 48 Abs. 1 SGB X die lückenhafte Beweislage des Versorgungsamtes über die Besserung des Mannes zu Lasten der Behörde gehen musste.
Das vorliegende Urteil
Landessozialgericht Baden-Württemberg – Az.: L 6 SB 1880/25 – Urteil vom 18.09.2025
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Ich bin Dr. Christian Gerd Kotz, Rechtsanwalt und Notar in Kreuztal. Als Fachanwalt für Verkehrs- und Versicherungsrecht vertrete ich Mandant*innen bundesweit. Besondere Leidenschaft gilt dem Sozialrecht: Dort analysiere ich aktuelle Urteile und erkläre praxisnah, wie Betroffene ihre Ansprüche durchsetzen können. Seit 2003 leite ich die Kanzlei Kotz und engagiere mich in mehreren Arbeitsgemeinschaften des Deutschen Anwaltvereins.


