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Beurteilung einer somatoformen Schmerzstörung

Landessozialgericht Thüringen – Az.: L 6 R 592/09 – Urteil vom 26.06.2012

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 2. März 2009 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung hat.

Der 1968 geborene Kläger arbeitete nach seiner Ausbildung zum Zerspanungsfacharbeiter, bis Dezember 1991 als Gütekontrolleur und seit 4. Mai 1992 als Monteur. Beim letzten Arbeitgeber erlitt er am 8. September 1997 einen Arbeitsunfall mit einer Lendenwirbelkörper 1(LWK 1-)-Fraktur, die operativ versorgt wurde. Seitdem war er arbeitsunfähig erkrankt.

Beurteilung einer somatoformen Schmerzstörung
Symbolfoto: Von Joyseulay /Shutterstock.com

Erstmals im Jahr 1998 beantragte er die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Nach Ablehnung des Antrags erhob er beim Sozialgericht (SG) Nordhausen Klage (Az.: S 4 RJ 827/99), die diese mit Urteil vom 20. Juni 2000 abwies. Im Berufungsverfahren (Az.: L 2 RJ 374/00) holte das Thüringer Landessozialgericht u.a. ein psychiatrisches Gutachten der Dr. M. vom 6. Juni 2002 ein (Diagnosen: anhaltende somatoforme Schmerzstörung F 45.5, Schweregrad: schwer, Leistungsbild: allenfalls leichte Arbeiten maximal drei Stunden täglich). Die Beteiligten einigten sich in einem außergerichtlichen Vergleich dahingehend, dass die Beklagte dem Kläger ab 1. Dezember 2001 bis 30. November 2004 Rente wegen voller Erwerbsminderung zahlte und der Kläger den Rechtsstreit für erledigt erklärte.

Im August 2004 beantragte er die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte holte u.a. ein neuropsychiatrisches Gutachten des Dr. B. vom 11. Oktober 2004 (Diagnosen: degenerative Lendenwirbelsäulen- und Bandscheibenveränderungen, abhängige, selbstunsichere Persönlichkeit mit depressivem Reaktions- und Verhaltensstil; Leistungsbild: leichte körperliche Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens sechs Stunden täglich möglich). Mit Bescheid vom 3. November 2004 lehnte sie die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 8. März 2005).

Auf die Klageerhebung hat das SG u.a. diverse Befundberichte mit entsprechenden medizinischen Anlagen beigezogen sowie ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten der Dr. K. vom 5. April 2006 (Diagnosen: keine neurologischen oder psychischen Krankheiten, keine Funktionseinschränkungen aus neurologischer oder psychiatrischer Sicht; Leistungsbild: leichte bis mittelschwere Arbeiten mit Einschränkungen möglich) und eine ergänzende Stellungnahme vom 21. November 2006 eingeholt, sowie ein psychiatrisch-psychosomatisches Gutachten des Dr. B. vom 20. Juni 2007 (Diagnosen: Dysthymia mit Somatisierungsstörung (Kopfschmerzen, Spannungskopfschmerzen, Ein- und Durchschlafstörungen), chronische Schmerzstörung sowohl mit organischen Erklärungsfaktoren als auch psychogener Überlagerung, Verbitterungsstörung, mittelschwere bewegungs- und belastungsabhängige Funktionseinschränkungen der oberen und unteren Lendenwirbelsäule bei Zustand nach LWK 1-Fraktur mit operativer Spondylodese und Bandscheibenprotrusion L4/5 und L5/S1 bei degenerativen Veränderungen, leichtes neurologisch-sensorisches Defizit, leichtgradige bewegungs- und belastungsabhängige Schmerzen des rechten Kniegelenkes bei Zustand nach Patella-Fraktur mit mäßiggradiger Chondromalazie; Leistungsbild: leichte Arbeiten mit Einschränkungen sechs Stunden und mehr) und auf Antrag des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten des Dr. M. vom 13. August 2008 (Diagnosen: chronische Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen nach LWK 1-Fraktur; Leistungsbild: leichte Tätigkeiten maximal sechs Stunden täglich, Notwendigkeit der Einlegung von Pausen alle zwei Stunden) und eine ergänzende Stellungnahme vom 12. September 2008 (Leistungsbild: leichte Tätigkeiten drei bis unter sechs Stunden täglich) eingeholt.

Mit Urteil vom 2. März 2009 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 3. November 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8. März 2005 verurteilt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren und zur Begründung ausgeführt, es schließe sich den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. M. zur Leistungsfähigkeit des Klägers an. Der Leistungsanspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bestehe seit dem 1. Dezember 2004 auf Dauer, weil eine markante Verbesserung des Leidens nicht zu erwarten sei. Die Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. Dezember 2004 sei auf drei Jahre nach Verkündung des Urteils zu befristen, weil die Erwerbsfähigkeit nicht auf unter drei Stunden täglich gesunken sei.

Im Berufungsverfahren hat die Beklagte vorgetragen, das SG stütze sich ausschließlich auf das Gutachten des Dr. M. vom 13. August 2008. Sowohl ein maximal auf sechs Stunden limitiertes Leistungsvermögen als auch die Notwendigkeit einer Pausenregelung von 15 Minuten alle zwei Stunden sei sozialmedizinisch nicht schlüssig begründet. Das Gutachten stütze sich ausschließlich auf eine Selbsteinschätzung des Klägers und stehe im Widerspruch zu den im Zeitraum von 2004 bis 2007 auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet eingeholten Gutachten.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 2. März 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung verweist er auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils. Ein Fehler in der Beweiswürdigung sei nicht erkennbar, so dass schon aus diesem Grund der Berufung der Erfolg versagt bleiben müsse. Berücksichtigt habe das SG auch, dass er in dem Zeitraum von Dezember 2001 bis November 2004 voll erwerbsgemindert war und nun auf einmal ohne weitere Maßnahmen nicht mehr erwerbsgemindert sein solle.

Der Senat hat u.a. diverse Befundberichte mit entsprechenden medizinischen Anlagen beigezogen sowie ein orthopädisches Gutachten des Dr. T. vom 6. Dezember 2010 und ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten des Dr. Sch. vom 21. Dezember 2010 eingeholt. Danach kann der Kläger auf orthopädischem Gebiet noch mittelschwere und leichte Tätigkeiten verrichten, während schwere körperliche Arbeit nicht mehr zugemutet werden sollten. Eine zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens sei orthopädisch nicht zu begründen, so dass er noch mindestens sechs Stunden täglich mit Einschränkungen arbeiten könne. Nach Dr. Sch. liegt auf nervenärztlichem Fachgebiet eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren vor; es finden sich Hinweise auf eine negative Antwortverzerrung. Der Kläger sei in der Lage leichte bis mittelschwere Arbeiten mindestens sechs Stunden an fünf Tagen pro Woche ohne besondere nervliche Belastung auch als Produktionshelfer ausüben.

Der Kläger hat gegen das neurologisch-psychiatrische Gutachten des Dr. Sch. vom 21. Dezember 2010 Einwände erhoben und beantragt, ihn wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Dr. Sch. hat hierzu eine ergänzende Stellungnahme vom 13. April 2011 abgegeben. Mit Beschluss vom 10. August 2011 hat der Senat dem Gesuch des Klägers nicht entsprochen.

Die Senat hat den Beteiligten die anonymisierten Kopien der Gutachten der berufskundlichen Sachverständigen Janke zur Tätigkeit eines Produktionshelfers aus einem anderen Verfahren vor dem Thüringer Landessozialgericht (Az.: L 6 RJ 301/02) vom 6. Juni 2004 zur Kenntnisnahme übersandt.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozess- der beigezogenen Gerichtsakte (Az.: L 2 RJ 374/00) und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten ist begründet, der Kläger hat keinen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bei Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes.

Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI in der Fassung ab 1. Januar 2001 (n.F.) scheidet aus, denn die Leistungsfähigkeit des Klägers ist nicht in dem für eine Rentengewährung erforderlichen Umfang herabgesunken. Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (Satz 2). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann (§ 43 Abs. 3 Halbsatz 1 SGB VI). Dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 Halbsatz 2 SGB VI).

Der Kläger ist nicht teilweise erwerbsgemindert. Nach den Gutachten des Dr. T. vom 6. Dezember 2010 und des Dr. Sch. vom 21. Dezember 2010, denen der Senat folgt, ist er trotz seiner Gesundheitseinschränkungen nicht gehindert, eine Arbeitsleistung von mindestens sechs Stunden täglich an fünf Tagen in der Woche zu erbringen. Nach dem orthopädischen Gutachten des Dr. T. begründen die auf diesem Fachgebiet vorliegenden Diagnosen – Verformung des 1. Lendenwirbels durch einen Wirbelbruch und Versteifung mit dem 12. Brustwirbel sowie daraus resultierender Bewegungsstörung des Überganges von der Brustwirbelsäule zur Lendenwirbelsäule und mäßige degenerative Veränderungen der unteren Lendenwirbelsäule ohne neurogene Ausfallerscheinungen sowie Hinweise auf leichte Knorpelschäden im rechten Kniescheibengelenk ohne funktionelle Beeinträchtigung – keine quantitative Einschränkung des Leistungsvermögens. Der Wirbelbruch im Jahr 1997 ist stabil ausgeheilt. Die keilartige Verformung dieses Wirbels ist nur mäßig und hat dementsprechend auch nur zu einer geringen lokalen Knickung von knapp 10° geführt, was statisch als nicht relevant gilt. Eine relevante Bewegungsstörung der unteren Lendenwirbelsäule im Hinblick auf die dort nur mäßig ausgeprägten degenerativen Bandscheibenschäden ist nicht plausibel. Nach objektiven Kriterien besteht eine genügende Leistungsfähigkeit der Wirbelsäule für mittelschwere bis leichte Arbeiten an mindestens sechs Stunden täglich, auch als Produktionshelfer entsprechend der Tätigkeitsbeschreibung der Sachverständigen Janke. Zu vermeiden sind Zwangshaltungen des Rumpfes, Arbeiten im Hocken und Knien und Heben und Tragen von Gewichten von mehr als 20 Kilogramm. Einschränkungen der Wegefähigkeit bestehen nicht; zusätzliche betriebsunübliche Pausen sind nicht erforderlich.

Nach dem Gutachten des Dr. Sch. besteht auf neurologischem Fachgebiet keine Erkrankung. Bei der klinisch-neurologischen Untersuchung fand sich kein pathologischer Befund, insbesondere kein Hinweis auf eine periphere Nervenschädigung im Sinne einer Nervenwurzelschädigung bei stattgehabter LWK 1-Fraktur. Auf psychiatrischem Fachgebiet hat der Sachverständige eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren diagnostiziert und eine negative Antwortverzerrung angenommen. Ich-Störungen, Wahrnehmungsstörungen oder kognitive Störungen liegen nicht vor. Die Überprüfung der kontinuierlichen Tagesstruktur hat ergeben, dass der Kläger noch durchaus aktiv, aber reduziert seinen Tag gestaltet. Die vorgetragenen Beschwerden stehen nur teilweise in Übereinstimmung mit den körperlichen Untersuchungsbefunden. Hier hat die Auswertung der Bremer Symptom-Validierung (BSV) Kurzzeitgedächtnistest A durch Dr. Sch. auffällige Befunde ergeben, die den Verdacht auf eine negative Antwortverzerrung nahelegen. Diese Beschwerdevalidierung ist nicht zu beanstanden, denn im Rahmen der Begutachtung von Schmerzen ist grundsätzlich eine Abklärung erforderlich (sog. „Konsistenzprüfung“), ob und aufgrund welcher Fakten die geklagten Funktionsbeeinträchtigungen zur Gewissheit des Sachverständigen in dem geklagten Zustand bestehen (vgl. Widder „Schmerzsyndrome“ in Widder/Gaidzik, Begutachtung in der Neurologie, 2. Auflage 2011, S. 389; Leitlinie für die Begutachtung von Schmerzen Nr. 030/102 der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) 4.5, Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen Nr. 051/029 der AWMF). Zur Überprüfung der Compliance und der negativen Antwortverzerrung erfolgte eine Überprüfung der Serumkonzentrationen der Medikamente. Danach war für das vom Kläger angegebene Antidepressivum Doxepin kein nennenswerter Medikamentenspiegel vorhanden. Die Einschränkung der Leistungs- und Partizipationsfähigkeit hat der Sachverständige unter Berücksichtigung der Exploration und Verhaltensbeobachtung als leicht eingeschätzt. Die neurologisch-psychiatrische Leistungseinschätzung steht in Übereinstimmung mit dem Ergebnis im nervenärztlichen Gutachten der Dr. K. vom 5. April 2006 sowie im Wesentlichen mit dem Untersuchungsbefund im psychiatrisch-psychosomatischen Gutachten des Dr. B. vom 20. Juni 2007. Hinsichtlich der Einschätzung des Restleistungsvermögens des Klägers stimmen diese Sachverständigen im Wesentlichen überein. Einschränkungen der Wegefähigkeit bestehen nicht; zusätzliche betriebsunübliche Pausen sind nicht erforderlich.

Ob im Jahr 2001, wie im Gutachten der Dr. M. vom 6. Juni 2002 angenommen, eine anhaltende schwere somatoforme Schmerzstörung mit einer quantitativen Einschränkung des Leistungsvermögens des Klägers auf leichte Arbeiten maximal drei Stunden täglich vorlag, kann für das Verfahren dahinstehen. Jedenfalls haben die Sachverständigen Dres. Sch …, K. und B. eine solche und daraus resultierende quantitative Einschränkungen des Leistungsvermögens des Klägers zum Untersuchungszeitpunkt nicht feststellen können.

Soweit der Kläger gegen das Gutachten des Dr. Sch. einwendet, die Diagnose der chronischen Schmerzstörung begründe seine Erwerbsunfähigkeit, ist ein solcher Schluss unzulässig (vgl. Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen Nr. 051/029 der AWMF). Hinsichtlich der diesbezüglich vorgetragenen Einwände gegen die Anamneseerhebung verweist der Senat auf die Stellungnahme des Dr. Sch. vom 13. April 2011 und das Gutachten vom 21. Dezember 2010, wonach der Kläger auf Nachfrage angegeben hat, außer den genannten, keine weiteren Beschwerden zu haben. Überdies sind aus den eingeholten Befundberichten der behandelnden Ärzte des Klägers keine darüber hinausgehenden Beschwerden ersichtlich, die einer Behandlung zugeführt wurden.

Auf die behauptete notwendige Qualifikation des Sachverständigen als Neuropsychologe kommt es nicht an; sie ist für die Begutachtung von Schmerzen nicht notwendig (vgl. BSG, Beschluss vom 9. April 2003 – Az.: B 5 RJ 80/02 B, nach juris). Erforderlich sind vielmehr die notwendigen fachübergreifenden für Diagnostik und Beurteilung von Schmerzstörungen. Der Sachverständige besitzt u.a. die Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“ und ist – wie sich aus seinen gut nachvollziehbaren Ausführungen ergibt – aufgrund seiner Qualifikation durchaus in der Lage, eine nachvollziehbare Validisierung der vorgetragenen Schmerzen nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand durchzuführen.

Der Senat folgt nicht der Einschätzung im Gutachten des Dr. M. r vom 13. August 2008 und in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 12. September 2008. Seine qualitative Einschränkung des Restleistungsvermögens auf drei bis unter sechs Stunden täglich hat er nicht schlüssig begründet. Es ist bereits nicht nachvollziehbar, dass er zuerst angegeben hat, der Kläger könne noch Arbeiten bis maximal (also einschließlich) sechs Stunden ausüben und diese Leistungsfähigkeit dann mit unverständlicher Begründung („unpräzise Wortwahl“) dann nach unten korrigiert. Auf seine Qualifikation als behandelnder Arzt für Schmerzen kommt es für die Schlüssigkeit des Gutachtens nicht an, denn hierfür ist die berufliche Stellung des Sachverständigen nicht wesentlich. Relevant ist für die Entscheidung hingegen die Qualität und Schlüssigkeit des erstellten Gutachtens. Dr. Sch. weist hinsichtlich des Gutachtens vom 13. August 2008 zu Recht auf das Fehlen der (auch von der Leitlinie für die Begutachtung von Schmerzen der AWMF, 2. Spezielle Aspekte der Begutachtung von Schmerzen geforderten) Validierung der Behauptungen des Klägers durch kritische Zusammenschau von Exploration, Untersuchungsbefunden, Verhaltensbeobachtung und Aktenlage (vgl. Widder „Schmerzsyndrome“ in Widder/Gaidzik, Begutachtung in der Neurologie, 2. Auflage 2011, S. 389) hin. Unverständlich ist zudem die Bedeutung der Angaben, an der Glaubwürdigkeit der geschilderten Beschwerden bestehe „kein erheblicher Zweifel“. Hinsichtlich der Motivationsproblematik behauptet der Sachverständige, es gebe keine Anhaltspunkte für eine ausgeprägte Steuerbarkeit der geklagten Beschwerden. Dies erscheint angesichts der gegenüber ihm (Führung des Haushalts, Arbeiten im Garten und Schafstall (alles mit Pausen), Kirchenbesuche etc.) bzw. Dr. Sch. (Versorgung der Wohnung und der Hühner, Betreuung der Friedhofsgräber, Ehrenmitgliedschaft in der Feuerwehr, Treffen mit 10 guten Freunden) geschilderten Umstände zweifelhaft. Damit ist zumindest kein Rückzug von den angenehmen Dingen des Lebens (vgl. Leitlinie für die Begutachtung von Schmerzen Nr. 030/102 der AWMF, Tabelle 7; Widder „Schmerzsyndrome“ in Widder/Gaidzik, Begutachtung in der Neurologie, 2. Auflage 2011, S. 390) ersichtlich.

Bei vollschichtig einsatzfähigen Versicherten bedarf es grundsätzlich keiner Benennung einer Verweisungstätigkeit. Angesichts der Rechtsprechung des 13. Senats des Bundessozialgerichts, dass eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung zur Verpflichtung der Benennung einer Verweisungstätigkeit führen kann (vgl. BSGE 81,15), benennt der Senat dem Kläger die ihm jedenfalls zumutbare und angesichts seiner gesundheitlichen Einschränkungen mögliche ungelernte Tätigkeit als Produktionshelfer entsprechend dem Gutachten der Sachverständigen Janke vom 6. Juni 2004 aus einem anderen Verfahren des Senats (Az: L 6 RJ 301/02). Dabei handelt es sich um einfache wiederkehrende Tätigkeiten, die in vielen Branchen und bei unterschiedlichsten Produkten anzutreffen sind, zum Teil auch bei Firmen, die sich auf derartige Arbeiten im Kundenauftrag spezialisiert haben und die nach kurzer Einweisung ausgeübt werden können. In nennenswerter Zahl sind sie z.B. in der Metall-, Elektro- oder Kunststoffindustrie sowie im Spielwaren und Hobbybereich vorhanden. Sie belasten nur leicht; Wirbelsäulen- oder gelenkbelastende Körperhaltungen kommen nicht vor. Das Arbeitstempo wird nicht durch Maschinen und Anlagen vorgegeben; der Lohn wird nicht nach Akkordsätzen errechnet. Als Einzelaufgaben werden Waren beklebt, eingehüllt, gezählt, sortiert; es werden Abziehbilder, Warenzeichen oder Etiketten angebracht. Eingepackt wird in Papp-, Holzschachteln oder sonstige Behältnisse. Als Beispiel nennt die Sachverständige leichte Verpackungsarbeiten in der Dentalbranche. Dabei werden die im Unternehmen hergestellten Produkte in der Endverpackung so verpackt, wie sie an den Endverbraucher ausgeliefert werden. Z.B. werden kleine Dosen in Faltschachteln gepackt, Spritzen werden in Tiefziehteile gelegt und kommen dann zusammen mit einer Gebrauchsanweisung oder Mischblöcken in die Faltschachtel. Die Tätigkeit ist körperlich leicht und das Gewicht der zu verpackenden Teile liegt unter fünf Kilogramm. Sie kann im Wechsel von Gehen und Stehen erledigt werden; es kann auch gesessen werden.

Diesem Anforderungsprofil entspricht das festgestellte Leistungsvermögen des Klägers in dem Gutachten des Dr. Sch. vom 21. Dezember 2010 und des Dr. T. vom 6. Dezember 2010. Dr. Sch. hat dies in seinem Gutachten ausdrücklich bejaht.

Unwesentlich ist, ob dem Kläger mit dem festgestellten Leistungsvermögen eine entsprechende Tätigkeit als Produktionshelfer vermittelt werden kann. Das Risiko, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu finden, trägt nicht die Beklagte, sondern die Arbeitslosenversicherung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

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