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Gesetzliche Unfallversicherung – Wegeunfall

Unfallkausalität – Cannabiskonsum – Mindest-THC-Wert

SG Osnabrück – Az.: S 19 U 40/18 – Urteil vom 07.02.2019

1. Der Bescheid der Beklagten vom 05.09.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.012018 wird aufgehoben.

2. Es wird festgestellt, dass der Kläger am 04.05.2017 einen Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung erlitten hat.

3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Unfalls als Arbeits-(Wege)unfall.

Der am 00.00.1981 geborene Kläger erlitt am 04.05.2017 gegen 13:30 Uhr auf dem Weg von seinem Wohnort zum Beschäftigungsort einen Verkehrsunfall. Er befuhr mit seinem E-Fahrrad den Radweg an der C. Straße in Fahrtrichtung D.. In Höhe des E. weges fuhr er von dem Radweg nach rechts auf die Fahrbahn der C. Straße, um diese in Richtung E. weg zu überqueren. An dieser Stelle besteht auf der Landstraße eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h. Ein PKW-Fahrer, der die C. Straße mit dem PKW in Fahrtrichtung D. befuhr, konnte nicht mehr rechtzeitig abbremsen, so dass der Kläger mit dem PKW kollidierte. Er traf mit dem Vorderreifen auf die Front des PKW und schlug mit dem Körper auf die Windschutzscheibe auf. Der Kläger trug keinen Helm.

Der Kläger wurde mit dem Rettungswagen mit angelegtem Stiffneck und Beckengurt in die EUREGIO-Klinik A-Stadt gebracht. Nach dem Durchgangsarztbericht vom 04.05.2017 sowie des Verlegungsbriefes vom 05.05.2017 war der Kläger nicht bewusstlos gewesen. Während der Fahrt war der Kläger ABC stabil. Bei der Erstuntersuchung im Schockraum zeigte der Kläger eine normale Sprache ohne krankhafte Atemgeräusche. Das Bewertungsschema zur Beschreibung der Bewusstseinslage (GSC) ergab die maximale Punktzahl von 15/15, somit den Wert für volles Bewusstsein. Es bestand eine anterograde Amnesie, die Pupillen waren isocor und lichtreagibel. Ein Verdacht auf Alkohol-, Drogen- oder Medikamenteneinfluss wurde nicht gesehen. Nach klinischer und röntgenologischer Untersuchung wurden ein Schädel-Hirn-Trauma 1. Grades, eine Rippenserienfraktur 5. bis 8. Rippe rechts, eine offene Unterschenkelfraktur rechts, eine geschlossene Unterschenkelfraktur links, ein Pneumothorax rechts sowie eine Stirnplatzwunde diagnostiziert. Eine Thoraxdrainage wurde angelegt. Es erfolgte eine operative Versorgung der Frakturen noch am Unfalltag. Der Kläger wurde danach auf die Intensivstation verlegt, intubiert und beatmet. Der Kläger wurde am 05.05.2017 in die F. Kliniken G. in H. verlegt.

Nach dem Unfallbefundbericht des Polizeikommissariat A-Stadt vom 04.05.2017 konnte der Kläger am Unfallort nicht zum Sachverhalt befragt werden, da er sich in notärztlicher Behandlung befand. Im Krankenhaus konnte kurzzeitig mit dem Kläger gesprochen werden, der sich aber an den Vorfall nicht erinnern konnte. Der Unfallgegner gab noch an der Unfallstelle an, der Kläger sei auf dem links gelegenen Radweg gefahren und habe plötzlich die Fahrbahn gekreuzt. Er habe nicht mehr reagieren können. Nach den durchgeführten Zeugenbefragungen war der Kläger vor dem Überqueren der Fahrbahn unmerklich langsamer geworden. Er habe nach links geschaut und sei dann auf die C. Straße gefahren, um diese zu überqueren. Die Prozessbevollmächtigte des Unfallgegners gab mit späteren Schreiben vom 11.05.2017 an, er habe an der linken Einmündung einen Radfahrer bemerkt, der sein Fahrrad angehalten, jedoch plötzlich losgefahren und direkt in sein Auto hineingefahren sei. Er habe den Fahrradfahrer kommen sehen, den Unfall aber trotz Vollbremsung nicht verhindern können. Er vermute, dass der Fahrradfahrer – der Kläger – lediglich den linksseitigen Verkehr beobachtet, nicht jedoch auf den von rechts kommenden Verkehr geachtet habe.

Der zuständige Richter des Amtsgerichts I. wurde kontaktiert, der um 14:40 Uhr eine Blutentnahme zwecks Blutalkoholmessung bei dem Kläger anordnete. Die Blutentnahme wurde sodann um 15:50 Uhr in der J. -Klinik durchgeführt. Ein vorab erhobenes Alkoholscreening ergab einen Wert von 0,02 Promille. Das spätere Ergebnis der toxikologischen Untersuchung vom 26.06.2017 zur Frage einer Drogen-/Medikamentenbeeinflussung ergab einen THC-Wert von 10 ng/ml im Serum. Das Screening war hinsichtlich Cannabinoide und Benzodiazepine positiv.

Am 19.07.2017 teilte das Polizeikommissariat A-Stadt der Führerscheinstelle des Landkreises K. mit, dass der Kläger, der nicht Inhaber einer Fahrerlaubnis sei, bei der Fahrt mit einem Elektrorad unter Einfluss von Betäubungsmitteln oder eines anderen Stoffes angetroffen worden sei. Er habe angegeben, gelegentlich Cannabis zu konsumieren. Die Feststellung des Konsums sei mittels Blutprobe erfolgt. Es erfolgt die Abgabe an die Staatsanwaltschaft I..

Im Rahmen des sodann eingeleiteten Ermittlungsverfahrens gab der Kläger – vertreten durch seinen Verfahrensbevollmächtigten – mit Schreiben vom 28.08.2017 an, dass er am Abend vor dem Unfall zwischen 20 Uhr und 22 Uhr eine Cannabis-Zigarette geraucht habe. Er habe regelmäßig geraucht. Die Wirkung halte bei ihm aber nur wenige Stunden an, so dass er am nächsten Morgen nicht mehr unter dem Einfluss der Droge stünde. Er habe aus dem Augenwinkel nach rechts geschaut, aber kein Auto wahrgenommen. Er habe es schlicht übersehen, könne auch nicht sagen, warum. Es sei sonnig gewesen, eventuell habe er das Fahrzeug aufgrund der Sonnenblendung nicht wahrgenommen. Er könne absolut ausschließen, dass es zu dem Unfall gekommen sei, weil er am Abend vorher einen Joint geraucht habe. Mit Zustimmung des Amtsgerichts I. stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gem. § 153 Abs. 1 StPO mit der Begründung ein, dass der Beschuldigte – der Kläger – selbst schwer verletzt wurde. Die Aufklärung, ob der Fahrfehler betäubungsmittelbedingt gewesen sei, sei schwierig. Das Ordnungswidrigkeitenverfahren wurde ebenfalls eingestellt.

Mit Bescheid vom 05.09.2017 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 04.05.2017 als Arbeitsunfall ab. Der Versicherungsschutz auf dem Weg zur Arbeit auf dem direkten Weg zum Ort der Tätigkeit entfalle, wenn der Versicherte unter dem Einfluss von Drogen gestanden habe und deren Wirkung nach den Umständen die allein wesentliche Bedingung für den Unfall gewesen sei. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung könne Cannabis als allein wesentliche Ursache eines Verkehrsunfalls angesehen werden, wenn ein THC-Wert von mindestens 1 ng/ml festgestellt worden sei und weitere Beweiszeichen die drogenbedingte Fahruntüchtigkeit belegen würden. Im vorliegenden Fall sei ein THC-Wert von 10 ng/ml festgestellt worden, somit ein Wert, der das Zehnfache des obigen Richtwertes überschreite. Zudem seien positive Befunde von Benzodiazepine gesichert worden. Die Einbeziehung der Gesamtumstände führe zwingend zu dem Schluss, dass der Kläger zum Unfallzeitpunkt fahruntüchtig gewesen sei, da er die nötige Sorgfalt im Straßenverkehr rauschmittelbedingt nicht habe aufbringen können. Denn es lasse sich nur durch den Drogen- und Betäubungsmittelkonsum erklären, dass der Kläger eine Landstraße, bei der eine zugelassene Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h herrsche, bei optimalen Witterungs- und Straßenverhältnissen unvermittelt gekreuzt habe, ohne sich zu vergewissern, dass von beiden Fahrtrichtungen keine Gefahr drohe. Eine besondere Gefahrenlage sei nicht ersichtlich gewesen und den anderen Verkehrsteilnehmern kein Fehlverhalten nachzuweisen. Ein anderer, nicht unter Drogeneinfluss stehender Verkehrsteilnehmer sei bei gleicher Verkehrslage wahrscheinlich nicht verunfallt.

Im Widerspruchsverfahren verwies der Kläger – vertreten durch seinen Verfahrensbevollmächtigten – auf die aktuelle Studienlage hin, wonach der Einfluss von Cannabis auf das Fahrvermögen nicht einfach zu bestimmen sei. Ein in der Rechtsmedizin L. durchgeführter Cannabis-Praxis-Test, bei dem Versuchspersonen Marihuana geraucht und anschließend mit dem Fahrrad einen Hindernisparcours absolviert hätten, hätte ergeben, dass sich keiner der Probanden auch nach drei Joints und deutlich erhöhtem Cannabis-Influence-Faktor (CIF) größere Fahrfehler als im nüchternen Zustand erlaubt habe. Bei trainierten Kiffern sei aus der THC-Konzentration allein kein Rückschluss auf die Fahrunsicherheit eines Radfahrers möglich.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.01.2018 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Regeln der Straßenverkehrsordnung, die Vernunft und der gesunde Menschenverstand würden es gebieten, beim Überqueren einer Landstraße die Fahrt zu unterbrechen und anzuhalten. Dass dies nicht geschehen ist, könne nur dem Drogengenuss geschuldet gewesen sein.

Hiergegen richtet sich die am 08.02.2018 vor dem Sozialgericht Osnabrück erhobene Klage. Der Kläger trägt vertiefend vor, dass im US-Staat Colorado der Grenzwert für THC im Straßenverkehr für Kraftfahrzeuge bei 10 ng/ml liege. Die berauschende Wirkung von Cannabis nehme sehr schnell ab. Die Bundesregierung habe auf eine kleine Anfrage zum Thema Drogen und Verkehrssicherheit im Jahr 2012 mitgeteilt, dass der Grenzwert für THC von 1 ng/ml im Serum kein Gefahrengrenzwert, sondern ein analytischer Messwert sei, bei dem nach dem Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit einer Fahruntüchtigkeit bestünde. Auch nach Auffassung der Bundesregierung sei es kein Grenzwert zur Abwendung einer Gefahr.

Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 05.09.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.01.2018 aufzuheben, festzustellen, dass er am 04.05.2017 einen Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung erlitten hat.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Entscheidungen weiterhin für zutreffend. Sie ist der Auffassung, dass im Hinblick auf den nachgewiesenen THC-Wert von 10 ng/ml im Serum keine weitergehenden Beweisanforderungen eines drogenbedingten Fehlverhaltens erforderlich seien. Der Kläger habe die Straße überquert, ohne das erforderliche Maß an Aufmerksamkeit und Achtsamkeit zu beachten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht als mit einer Anfechtungsklage verbundene Feststellungsklage erhobene Klage ist zulässig. Die grundsätzliche prozessrechtliche Nachrangigkeit der Feststellungsklage steht nach ständiger Rechtsprechung des BSG, der die Kammer folgt, in Fällen der vorliegenden Art nicht entgegen. Begehrt der Versicherte nämlich allein die von dem Unfallversicherungsträger abgelehnte Feststellung des Vorliegens eines Versicherungsfalls, kann er durch die Verbindung einer Anfechtungs- mit einer Feststellungsklage unmittelbar eine rechtskräftige, von der Verwaltung nicht mehr beeinflussbare Feststellung erlangen (vgl. hierzu Urteil des BSG vom 27.04.2010, Az.: B 2 U 23/09 R).

Die Klage ist auch begründet. Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 05.09.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.01.2018 beschwert. Die Beklagte hat es rechtswidrig abgelehnt, den Verkehrsunfall des Klägers vom 04.05.2017 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Der Kläger hat bei dem Unfall unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden. Es kann nicht festgestellt werden, dass dieser Unfallversicherungsschutz aufgrund des Cannabis-Konsums entfallen ist.

Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ist danach im Regelfall erforderlich, dass ein Unfallereignis vorliegt, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem Unfallereignis geführt hat (Unfallkausalität) und dass schließlich das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität). Gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII zählt zu den versicherten Tätigkeiten auch das Zurücklegen des mit der nach den §§ 2, 3 und 6 SGB VII versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Begründet wird dieser Versicherungsschutz damit, dass diese Wege nicht aus privaten Interessen, sondern wegen der versicherten Tätigkeit, also mit einer auf die versicherte Tätigkeit bezogenen Handlungstendenz unternommen werden (vgl. BSG vom 09.11.2010, Az.: B 2 U 14/10 R, juris Rdnr. 31 m.w.N.).

Die Merkmale „versicherte Tätigkeit“, „Verrichtung zur Zeit des Unfalls“, „Unfallereignis“ sowie „Gesundheitserst- bzw. Gesundheitsfolgeschaden“ müssen für das Gericht im Wege des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, feststehen (vgl. BSG vom 02.04.2009 – Az.: B 2 U 29/07 R, juris Rdnr. 15 f. m. w. N.). Lassen sich die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht nachweisen oder ist der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis oder zwischen diesem und der eingetretenen Gesundheitsstörung nicht wahrscheinlich, geht dies nach dem im Sozialrecht geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der hieraus eine ihm günstige Rechtsfolge herleiten will. Dagegen trägt die Beklagte die objektive Beweis- und Feststellungslast für anspruchsverhindernde, -vernichtende sowie -hemmende Gegennormen.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger am 04.05.2017 einen Wegeunfall erlitten hat.

Der Kläger hat einen Unfall (d.h. ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, vgl. § 8 Abs. 1 S 2 SGB VII) mit der Folge gesundheitlicher Schäden erlitten, als er mit seinem E-Fahrrad die C. überquerte und dabei mit einem PKW zusammenstieß. Der Kläger befand sich zum Unfallzeitpunkt auf dem direkten Weg zu dem Ort seiner nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versicherten Tätigkeit, also auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII versicherten Weg. Die durch den Zusammenstoß mit PKW verursachten gesundheitlichen Einwirkungen auf den Körper des Klägers traten auch im Sinne von § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII „infolge“ des Zurücklegens des versicherten Weges auf und sind damit nach dem Schutzzweck der Norm der versicherten Tätigkeit zuzurechnen (vgl. Urteil des BSG vom 04.07.2013, B 2 U 12/12 R, juris, Rdnr. 15).

Die Unfallkausalität zwischen dem Zurücklegen eines versicherten Weges und dem Unfallereignis wird vermutet, weil oft kein Grund zu erkennen ist, warum sich ein Unfall gerade jetzt und so zugetragen hat. Daher muss, wenn bei Ausübung einer Verrichtung, die im sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht, ein Unfallereignis eintritt, vom Vorliegen der Unfallkausalität ausgegangen werden, es sei denn, es ist eine konkurrierende Ursache, wie z.B. eine innere Ursache oder eine eingebrachte Gefahr feststellbar. Erst wenn eine solche konkurrierende Ursache neben der versicherten Ursache als naturwissenschaftliche Bedingung für das Unfallereignis festgestellt wurde, ist in einem zweiten Prüfungsschritt wertend zu entscheiden, ob die versicherte Ursache wesentlich nach der Theorie der wesentlichen Bedingung ist (Urteil des vom 30.01.2007, B 2 U 23/05 R, juris, Rndr. 17). Die Unfallversicherung des Zurücklegens des Weges nach und von dem Ort der (jeweiligen) versicherten Tätigkeit schützt nur gegen Gefahren für Gesundheit und Leben, die aus der Teilnahme am öffentlichen Verkehr, also aus eigenem oder fremden Verkehrsverhalten oder äußeren Einflüssen durch die Beschaffenheit des Verkehrsraumes hervorgehen (BSG, Urteil vom 13.11.2013, B 2 U 19/11 R, juris, Rdnr. 42, 45).

Verbotswidriges Handeln schließt nach § 7 Abs. 2 SGB VII auch den Versicherungsschutz nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII nicht aus. Dennoch gibt es Fallkonstellationen, in denen im Zusammenhang mit einem Normverstoß der Unfallversicherungsschutz zu verneinen ist. Erfüllt das verbotswidrige Verhalten des Versicherten gleichzeitig die Voraussetzungen für eine so genannte selbstgeschaffene Gefahr, so ist die Frage zu stellen, ob dieser Umstand trotz der Grundregel des § 7 Abs. 2 SGB VII zum Ausschluss des Versicherungsschutzes führen soll. Das Rechtsinstitut der selbstgeschaffenen Gefahr geht auf die Spruchtätigkeit des Reichsversicherungsamts zurück, welches angenommen hatte, dass der ursächliche Zusammenhang zwischen einem Unfall und der betrieblichen Tätigkeit infolge schuldhafter Gefahrerhöhung durch den Versicherten dann aufgehoben ist, wenn besondere betriebsfremde Zwecke auf Absicht und Verhalten des Versicherten derart eingewirkt haben, dass die Beziehung jener Tätigkeit zum Betriebe bei der Bewertung der Unfallursachen als unerheblich ausgeschieden werden muss. Das BSG hat sich diese Erwägungen in ständiger Rechtsprechung zu eigen gemacht und entschieden, dass eine aus betriebsfremden Motiven selbstgeschaffene Gefahr den Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall (erst) ausschließt, wenn die selbstgeschaffene Gefahr die betriebsbedingten Umstände soweit zurückdrängt, dass diese keine wesentliche Bedingung mehr für den Unfall bilden. Als Begründung hierfür hat es angeführt, dass – wie § 548 Abs. 3 RVO zeige – bei der Verfolgung betriebsbezogener Zwecke der ursächliche Zusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und Unfall selbst dann noch vorhanden sei, wenn der Unfall in hohem Maße selbst verschuldet ist. Die neuere Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteile vom 12.04.2005, Az.: B 2 U 11/04 R und vom 04.09.2007, Az.: B 2 U 28/06 R – juris Rdnr. 20) erkennt der selbstgeschaffenen Gefahr im System der gesetzlichen Unfallversicherung keine eigenständige Bedeutung mehr zu, sondern ordnet das Problem nunmehr dem inneren Zusammenhang zwischen Schaden stiftender Verrichtung und versicherter Tätigkeit zu und stellt in Anknüpfung an die frühere Rechtsprechung klar, dass im Hinblick auf den in § 7 Abs. 2 SGB VII enthaltenen Grundsatz auch leichtsinniges und unbedachtes Verhalten diesen Zusammenhang nicht beseitigt, wenn der Versicherte ausschließlich betriebliche Zwecke verfolgt (G. Wagner in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 2. Aufl. 2014, § 7 SGB VII, Rdnrn. 52, 56).

Ebenso wie Alkohol kann jede andere legal, z.B. als Medikament, oder illegal vom Versicherten aus nicht versicherten Gründen zu sich genommene Substanz den sachlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Verrichtung zur Zeit des Unfalls beseitigen, wenn sie zu einer Lösung vom Betrieb geführt hat, oder die Unfallkausalität zwischen der versicherten Verrichtung zur Zeit des Unfalls und dem Unfallereignis ausschließen, wenn sie die allein wesentliche Bedingung für den Unfall war.

Für Cannabis gibt es im Unterschied zu Alkohol – ebenso wie für zahlreiche andere Drogen – keine gesicherte Dosis-Wirkungs-Beziehung und deshalb auch keinen Wert für eine absolute Fahruntüchtigkeit. Übertragen auf die gesetzliche Unfallversicherung bedeutet dies nach der Rechtsprechung des BSG, der die Kammer folgt, dass ein Cannabiskonsum nur dann als allein wesentliche Ursache des Unfalls angesehen werden kann, wenn ein THC-Wert von mindestens 1 ng/ml festgestellt wurde und weitere Beweisanzeichen die drogenbedingte Fahruntüchtigkeit des Versicherten – ähnlich wie bei einer relativen Fahruntüchtigkeit mit einer BAK von unter 1,1 ‰ – belegen.

Zwar gilt der Grundsatz, dass je höher die im Blut festgestellte Wirkstoffkonzentration, z.B. von THC, ist, umso geringer die Anforderungen an Art und Ausmaß der drogenbedingten Ausfallerscheinungen bzw. Beweisanzeichen sein können, um eine drogenbedingte Fahruntüchtigkeit als allein wesentliche Ursache für den Unfall zu bejahen (BSG vom 30.01.2007, Az.: B 2 U 23/05 R, juris, Rdnr. 29, 30).

Entgegen der Ansicht der Beklagten müssen aber immer Beweisanzeichen gegeben seien, die es nahelegen, dass der Versicherte zum Unfallzeitpunkt rauschmittelbedingt zu einer zweckgerichteten Absolvierung des Weges nicht mehr imstande gewesen ist. Hierfür ist es erforderlich, eine konkrete Beeinträchtigung des Klägers im Unfallzeitpunkt durch den Drogenkonsum festzustellen. Allein ein objektiv riskantes Verhalten reicht nicht aus (Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 02.09.2015, Az.: L 17 U 313/14). Denn allein aufgrund der Blutuntersuchung nach dem Unfall lässt sich keine konkrete Beeinträchtigung der Wegefähigkeit nachweisen (Urteil des BSG vom 31.08.2017, Az.: B 2 U 2/16 R, juris, Rdnr. 21).

Auch die zivilgerichtliche Rechtsprechung weist darauf hin, dass ein Schluss auf drogenbedingte Fahruntüchtigkeit zur Tatzeit sich nicht ohne Weiteres aus den Blutwerten selbst ergibt. Weder der Umstand, dass sich im Blutentnahmezeitpunkt rund eine Stunde nach der Tat sowohl Wirkstoffe als auch Abbauprodukte der Drogen Cannabis und Kokain im Blut des Angeklagten befunden haben, noch die Höhe der festgestellten Werte können für sich genommen oder in Gesamtschau den für eine Verurteilung nach § 316 StGB erforderlichen Schluss auf eine dadurch begründete Fahruntüchtigkeit erbringen. Aufgrund der unterschiedlichen Wirkungen und Wirkungsverläufe von Drogen bestünde eine beschränkte Aussagekraft einzelner Werte und deren etwaiger Bewertung als „hoch“. Daher müssten etwaig weitere konkrete Indiztatsachen und/oder Argumente dafür benannt werden, dass und warum sich aus den Wirkstoff- und Abbauproduktkonzentrationen im Blut auf die Annahme drogenbedingter Fahruntüchtigkeit zur Tatzeit geschlossen werden kann (Hanseatisches OLG vom 19.02.2018, Az.: 2 Rev 8/18, juris Rdnr. 30, 31).

Damit gibt es weiterhin keine Grenze, ab welcher Höhe von einer absoluten Fahr-/Wegeuntüchtigkeit ausgegangen werden kann, so dass nicht allein aus der Höhe des THC-Wertes auf die Wegeuntüchtigkeit geschlossen werden kann. Vielmehr ist zusätzlich stets das Vorliegen weiterer Indizzeichen, die für eine Wegeuntüchtigkeit sprechen, nachzuweisen. Dies gilt zur Überzeugung der Kammer auch im Fall des Klägers, bei dem nach dem streitigen Verkehrsunfall ein THC-Wert von 10 ng/ml im Serum festgestellt worden ist, somit ein Wert, der den Wert von 1 ng/ml um das Zehnfache übersteigt.

Zu beachten ist zudem, dass die Höhe des festgestellten THC-Wertes für einen regelmäßigen/gelegentlichen Cannabis-Konsum spricht (vgl. hierzu Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 10.04.2018, Az.: 11 BV 18.259, juris Rdnr. 20 ff.). Der Kläger hat dies bestätigt und angegeben, dass er nur abends geraucht habe und am nächsten Morgen nicht mehr unter dem Einfluss der Joints gestanden habe. Daher lässt sich allein aus dem festgestellten THC-Wert eine absolute Fahruntüchtigkeit nicht feststellen. Vielmehr müssten sich weitere Indizzeichen feststellen lassen, die für eine Wegeuntüchtigkeit zum Unfallzeitpunkt sprechen, was vorliegend nicht der Fall ist. Für den Nachweis weiterer Beweiszeichen trägt die Beklagte die Beweislast, weil es für sie günstig ist, wenn die nicht versicherte Ursache gegenüber der versicherten Ursache von überragender Bedeutung und kein Arbeitsunfall vorliegt (Urteil des BSG vom 30.01.2007, Az.: B 2 U 23/05 R, juris Rdnr. 26).

Es kann dahinstehen, ob der Kläger die Fahrt vor dem Überqueren der Straße nur verlangsamt oder angehalten hat – wobei die Kammer davon ausgeht, dass der Kläger selbst sich nicht ausreichend an den Unfallhergang erinnern kann. Denn es hat sich um ein traumatisches Ereignis gehandelt und eine anterograde Amnesie war festgestellt worden. Vorliegend steht fest, dass sich der Kläger nicht an die Straßenverkehrsordnung gehalten hatte. Denn er hat die Straße überquert, ohne ausreichend auf den von rechts kommenden Verkehr zu achten. Der Kläger hat offenbar nur nach links und nicht ausreichend nach rechts („Schulterblick“) gesehen, bevor er die Straße überquert hat. Zur Überzeugung der Kammer handelt es sich bei dem Verkehrsverstoß selbst nicht um ein klares Anzeichen für eine drogenbedingte Fahruntüchtigkeit. Vielmehr kann die Unachtsamkeit, die zu dem Verkehrsunfall geführt hat, auch ohne Drogeneinfluss geschehen. Wenn ein Versicherter aus bloßer Unachtsamkeit die Fahrspur wechselt oder fahrlässig auf die Gegenfahrbahn gerät, beendet dies nicht den Versicherungsschutz (BSG, Urteil vom 04.07.2012, B 2 U 12/12 R, juris, Rdnr. 20).

Über den Verkehrsverstoß hinaus haben die Zeugen keine irgendwie gearteten drogenbedingten Anzeichen (wie z.B. eine vorherige Fahrunsicherheit) angegeben. Auch die Notärzte haben keinen Anhalt für einen Alkohol-, Drogen- oder Medikamenteneinfluss festgestellt. Bei der Erstuntersuchung im Schockraum der J. -Klinik zeigte der Kläger eine normale Sprache. Das Bewertungsschema zur Beschreibung der Bewusstseinslage (GSC) ergab die maximale Punktzahl von 15/15. Es bestand eine anterograde Amnesie, die Pupillen waren isocor und lichtreagibel. Damit haben die Ärzte keine Anzeichen gesehen, die für eine konkrete Beeinträchtigung der Wegefähigkeit sprechen. Die Blutentnahme wurde auch nicht bereits von der Polizei, die den Unfall aufgenommen hat, sondern zeitlich später erst von dem zuständigen Richter des Amtsgerichts angeordnet.

Der Vortrag des Klägers, er habe möglicherweise aufgrund der Sonnenblendung das Fahrzeug nicht gesehen, ist plausibel. Denn der Verkehrsunfall hat sich an einem sonnigen Tag im Mai mittags um 13:30 Uhr ereignet. Der Kläger hat ferner angegeben, dass die Wirkung der Joints, die er nur abends geraucht hatte, bei ihm aber nur wenige Stunden angehalten hätte, so dass er am nächsten Morgen nicht mehr unter dem Einfluss der Droge gestanden habe. Im Übrigen wurde auch das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren mit Zustimmung des Gerichts eingestellt, weil der Kläger selbst schwer verletzt wurde und die Aufklärung, ob der Fahrfehler betäubungsmittelbedingt gewesen sei, schwierig war.

Damit steht weder sicher fest, dass dem Kläger bewusst gewesen ist, dass er durch die den am Vorabend gerauchten Joint fahruntüchtig sein könnte, noch, dass er tatsächlich drogenbedingt fahruntüchtig gewesen ist. Daher ist der Cannabiskonsum nicht als rechtlich allein wesentliche Ursache für das Zustandekommen des Unfalls werten. Da die Beklagte die so genannte objektive Beweis- und Feststellungslast für das Vorliegen einer alkohol- oder betäubungsmittelbedingten Fahruntüchtigkeit trägt, ist der Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung zum Unfallzeitpunkt zu bejahen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

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