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Höhe des GdB und Voraussetzungen für das Merkzeichen RF

Bayerisches Landessozialgericht – Az.: L 15 SB 83/10 – Urteil vom 27.10.2011

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 27. April 2010 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist, ob der Klägerin ein höherer Grad der Behinderung (GdB) als 60 gem. § 69 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) zusteht und ob sie einen Anspruch auf das Merkzeichen RF (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) hat.

Im Jahr 2003 war die Klägerin an einem Plattenepithelcarcinom des oberen Rektumdrittels erkrankt. Wegen dieser Enddarmerkrankung (in Heilungsbewährung) war mit Bescheid vom 10.02.2004 ein GdB von 100 festgestellt worden. Zusätzlich war mit Änderungsbescheid vom 14.03.2006 wegen einer bis zu 12-maligen täglichen Stuhlentleerung, oft auch eines unwillkürlichen Abgangs von Stuhl das Merkzeichen RF anerkannt worden.

Nach Ablauf der Heilungsbewährung setzte der Beklagte mit Änderungsbescheid vom 17.12.2008 den GdB auf 50 fest; ein Anspruch auf das Merkzeichen RF bestehe nicht. Dieser Festsetzung lagen folgende Gesundheitsstörungen zugrunde:

1. Entfernung der Gebärmutter bei Folgeerkrankung, Durchfallerkrankung, Afterschließmuskelschwäche – Einzel-GdB 40

2. Seelische Störung – Einzel-GdB 30

3. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule – Einzel-GdB 10.

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens machte die Klägerin geltend, sie habe ständig Stuhlgang. Sobald sie Essen zu sich nehme, fange der Stuhl wieder an zu laufen. Sie könne tagelang die Wohnung nicht verlassen. Der After sei ständig stuhlverschmiert und gerötet. Sie könne sich nicht in der Öffentlichkeit bewegen, dies sei für sie und ihre Mitmenschen unangenehm. Mit Teilabhilfebescheid vom 03.03.2009 wurde der GdB ab dem 22.12.2008 auf 60 festgesetzt, wobei nunmehr für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule ein Einzel-GdB 20 angenommen wurde. Das Merkzeichen RF wurde nicht zugesprochen. Im Übrigen wurde der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27.04.2009 zurückgewiesen.

Am 20.05.2009 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Augsburg erhoben. Mit einem GdB von 60 und dem Wegfall des Merkzeichens RF sei sie nicht einverstanden. Eine Heilung liege nur insofern vor, als der Krebs operativ entfernt worden sei. Von den Nebenwirkungen her sei eine massive Verschlechterung eingetreten. Ihr Schließmuskel habe keinerlei Funktion mehr. Sie könne den Stuhl überhaupt nicht mehr halten. Sie habe nicht nur Probleme nach dem Essen, sondern auch bei ungewohnten Situationen. Alles schlage sich auf den Darm. Sie könne dann tagelang das Haus nicht verlassen. Auf einen Arzttermin müsse sie sich stundenlang mit zeitaufwändigen und schmerzhaften Einläufen vorbereiten, damit sie ihn überhaupt wahrnehmen könne. Sie könne keinerlei soziale Kontakte mehr wahrnehmen. Zeitweise sei es ihr nicht mal mehr möglich, die täglichen Einläufe alleine zu machen, weil sich durch eine Fibromyalgie die Finger so verkrampfen würden, dass sie Hilfe benötige.

Im Auftrag des Sozialgerichts hat der Facharzt für physikalische und rehabilitative Medizin und Allgemeinmedizin Dr. N. am 01.12.2009 ein Gutachten vorgelegt. Bei der Begutachtung – so der Sachverständige – habe die Klägerin einen dünnflüssigen Stuhl im Sinne eines Durchfalls und Harndrang mit Inkontinenz und Benutzung von Vorlagen angegeben. Auch wenn der Stuhlgang vereinzelt von fester Konsistenz sei, entleere er sich doch spontan. Tagsüber komme es gelegentlich zu spontanen Darmentleerungen. Am Abend fänden die Darmentleerungen häufiger statt als tagsüber. Ihre Einlage wechsle sie durchschnittlich 3-mal am Tag. Sie meine, dass bei Spontanentleerungen anwesende Personen eine Geruchsbelästigung wahrnehmen würden. Vereinzelt gehe auch spontan Urin ab. Die Stuhlinkontinenz werde gelindert durch Einläufe, verschlimmert durch Essen und Bewegung. Wenn sie auf die Nahrungsmittel achte, habe sie praktisch keine spontanen Stuhlentleerungen. Bei der über zwei Stunden dauernden gutachterlichen Untersuchung und Anamnese habe die Klägerin die Toilette nicht aufsuchen müssen. Weiter habe die Klägerin Rückenschmerzen im Bereich der LWS mit wechselnder Ausstrahlung rechts (ca. 2-mal jährlich starke Schmerzen), Fibromyalgie-Beschwerden im Bereich der Hände und Ein- und Durchschlafbeschwerden angegeben. Diese Beschwerden seien seit Anfang 2006 weitgehend unverändert.

Der Gutachter hat folgende Diagnosen gestellt und diese wie folgt bewertet:

1. Zustand nach Teilentfernung des Enddarms (nach Heilungsbewährung), Entfernung der Gebärmutter und der Eierstöcke als Folgerkrankung, rezidivierende Durchfallerkrankung, Afterschließmuskelschwäche – GdB 40

2. Seelische Störung – GdB 30

3. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei degenerativen Veränderungen und Bandscheibenschäden ohne Nervenwurzelreizsyndrom – GdB 20.

Den Gesamt-GdB hat der Gutachter auf 60 geschätzt.

Mit dem Ergebnis des Gutachtens ist die Klägerin nicht einverstanden gewesen. Die fehlenden spontanen Stuhlentleerungen seien darauf zurückzuführen, dass sie weitgehend nüchtern zur Untersuchung gekommen sei und zuvor noch zwei Einläufe gemacht habe; ein Behindertenausweis mit dem Merkzeichen RF stehe ihr zu.

Mit Urteil vom 27.04.2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Gesundheitsstörungen seien mit einem GdB von 60 zutreffend festgestellt. Eine wesentliche Änderung im Gesundheitszustand der Klägerin sei mit Ablauf der Heilungsbewährung bezüglich der Darmerkrankung eingetreten. Nach Ablauf der Heilungsbewährung richte sich der GdB nach den verbliebenen Folgeerkrankungen. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF seien nicht erfüllt. Notwendig sei ein allgemeiner und umfassender Ausschluss von den üblichen öffentlichen Veranstaltungen in ihrer Gesamtheit. Die bestehende Stuhlinkontinenz Grad III begründe keine objektiv unzumutbare Geruchsbelästigung, die einen dauerhaften und umfassenden Ausschluss von öffentlichen Veranstaltungen begründen könnte.

Am 10.06.2010 hat die Klägerin Berufung eingelegt. Ihr stehe das Merkzeichen RF zu, da sie an keinerlei öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne. Sie bitte zu berücksichtigen, wie es sei, wenn sie bei einer Veranstaltung einige Male ihren Platz verlassen müsse, um die Toilette aufzusuchen, oder wenn ihr im Schwimmbad der Stuhl weglaufe. Im Erörterungstermin vom 16.11.2010 hat die Klägerin zudem klar gestellt, dass sie auch einen höheren GdB anstrebe.

Zur weiteren Sachaufklärung hat der Internist Dr. B. (interdisziplinäres des Klinikums H.) am 16.03.2011 ein Gutachten erstellt. Die von der Klägerin zur Afterschließmuskelschwäche und zu den Rückenbeschwerden gemachten Angaben sind weitgehend identisch mit dem Beschwerdevortrag beim Sachverständigen Dr. N. gewesen. Weiter hat die Klägerin vorgetragen, die Darmkrebserkrankung nicht richtig verkraften zu können. Sie habe auch Schmerzen im Bereich der linken Schulter und Taubheitsgefühle in den Fingern der rechten Hand.

Bei der Untersuchung sei die Klägerin bewusstseinsklar und allseits orientiert gewesen; die Konzentrationsfähigkeit über den Zeitraum der Exploration und der Untersuchung sei gleichbleibend gut gewesen. Die Stimmungslage sei leichtgradig herabgesetzt bei noch erhaltener emotionaler Schwingungsfähigkeit; ein Hinweis auf eine bedeutsame Antriebsminderung sei nicht feststellbar gewesen. Es sei zweimal zu nach Angabe der Klägerin unwillkürlichen Stuhlabgängen gekommen. Dabei habe sich ein unangenehmer Fäkaliengeruch verbreitet.

Der Tonus des Afterschließmuskels sei bei der Untersuchung zwar deutlich herabgesetzt, aber noch erhalten gewesen. Dies entspreche dem Ergebnis einer Quark-Einlaufuntersuchung im Klinikum E-Stadt am 23.07.2009. Durchfälle träten auch und gerade im Zusammenhang mit psychischen Belastungen auf. Es komme dann zu einem unwillkürlichen und imperativen Stuhldrang, der Stuhlgang könne willentlich kaum oder oftmals gar nicht kontrolliert werden. Daraus habe sich eine chronische Angstsituation mit wiederkehrenden panikartigen Angstzuständen entwickelt, so dass die Klägerin aus Angst vor einem unwillkürlichen Stuhlabgang die Öffentlichkeit meide. Behandelt würden die chronisch-reaktive Depression und die Angststörung mit einer kombinierten antidepressiven und angstlösenden Dauermedikation. Die Durchfallerkrankung und Stuhlinkontinenz seien also zusätzlich überlagert und erschwert durch die begleitende seelische Erkrankung der reaktiven Depression mit wiederkehrenden Angstzuständen. Die Klägerin halte sich deswegen überwiegend zu Hause auf, Gänge außer Haus wie Einkaufserledigungen und Arztbesuche führe sie jedoch noch aus und würden auch zum Alltag gehören.

Der Sachverständige hat folgende Diagnosen gestellt:

1. Chronische Diarrhoe und Stuhlinkontinenz bei Zustand nach Operation eines Enddarmkrebses

2. Reaktive Depression mit Angstzuständen

3. Chronisches degeneratives Wirbelsäulensyndrom

4. Chronisch-rezidivierendes Schmerzsyndrom linke Schulter

5. Carpaltunnel-Syndrom rechte Hand

6. Hypercholesterinämie

7. Zustand nach Operation eines Basalzellkarzinoms im Bereich der rechten Stirn 10/2005.

Für die chronische Durchfallerkrankung und Schließmuskelinkontinenz sei ein GdB von 40 angemessen. Dies liege an der oberen Grenze des von der Versorgungsmedizin-Verordnung eröffneten Spielraums. Ein vollständiger Funktionsverlust des Afterschließmuskels, der einen höheren Einzel-GdB bedingen würde, liege nachweislich nicht vor. Die außergewöhnliche seelische Begleiterscheinung der reaktiven Depression verbunden mit Angstzuständen sei mit dem vorgeschlagenen Einzel-GdB von 30 ebenfalls in zutreffender Graduierung vorgeschlagen, es handle sich um eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Die Wirbelsäulenerkrankung ohne Wurzelreizerscheinung und mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen im LWS-Bereich sei mit einem GdB von 20 ausreichend bewertet. Die übrigen Gesundheitsstörungen würden keine Bewertung mit einem Einzel-GdB von wenigstens 10 rechtfertigen. Insgesamt gesehen sei ein GdB von 60 zutreffend. Das Merkzeichen RF stehe der Klägerin nicht zu, da sie den dafür erforderlichen Mindest-Gesamt-GdB von 80 nicht erreiche und auch eine krankheitsbedingte Bindung an ihr Haus in dem dafür erforderlichen Maß nicht vorliege.

In der mündlichen Verhandlung vom 27.10.2011 hat die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 27.04.2010 aufzuheben und den Bescheid vom 17.12.2008 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 03.03.2009 sowie des Widerspruchsbescheides vom 27.04.2009 dahin abzuändern, dass das Merkzeichen RF belassen und ein GdB von mindestens 80 festgestellt werde.

Der Beklagte hat beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die Akten des Beklagten und des Sozialgerichts beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.

Die Klägerin wendet sich gegen den Bescheid vom 17.12.2008 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 03.03.2009 sowie des Widerspruchsbescheides vom 27.04.2009, mit dem der GdB von 100 auf 60 herabgesetzt und das Merkzeichen RF entzogen worden ist. Gleichzeitig hat sie die Festsetzung eines GdB von mindestens 80 beantragt. Es handelt sich damit nicht um eine isolierte Anfechtungsklage, bei der allein auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung abzustellen wäre (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Bundessozialgericht – BSG -, Urteil vom 12.11.1996, Az.: 9 RVs 5/95). Vielmehr liegt eine Anfechtungsklage vor, was die Herabsetzung des GdB und die Entziehung des Merkzeichens RF angeht, und – hilfsweise für den Fall, dass die Anfechtungsklage betreffend die Herabsetzung des GdB keinen Erfolg hat – eine Verpflichtungsklage, was die Höhe des GdB betrifft, wobei bei letzterer auch spätere, bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der (letzten) Tatsacheninstanz eintretende Änderungen tatsächlicher (oder rechtlicher) Art zu beachten sind (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BSG, Urteil vom 12.04.2000, Az.: B 9 SB 3/99 R). Bei klägerfreundlicher Auslegung ist zudem im Verpflichtungsantrag der Klägerin der Antrag enthalten, die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen RF erneut festzustellen, wenn die mit Bescheid vom 17.12.2008 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 03.03.2009 sowie des Widerspruchsbescheides vom 27.04.2009 erfolgte Entziehung des Merkzeichens RF nicht zu beanstanden ist. Dies bedeutet, dass der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung, ob die Herabsetzung des GdB von 100 auf 60 rechtmäßig war, der der letzten Behördenentscheidung am 27.04.2009 (Erlass des Widerspruchsbescheids) ist, für die (hilfsweise zu treffende) Entscheidung, wie hoch der GdB der Klägerin aktuell ist und ob die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen RF wieder vorliegen, hingegen der der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht am 27.10.2011.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 17.12.2008 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 03.03.2009 sowie des Widerspruchsbescheides vom 27.04.2009 ist nicht zu beanstanden. Der GdB ist zulässigerweise und zutreffend auf 60 herabgesetzt und das Merkzeichen RF entzogen worden. Auch nach der mit Widerspruchsbescheid vom 27.04.2009 erfolgten letzten Behördenentscheidung haben sich bis zur mündlichen Verhandlung am 27.10.2011 keine neuen Tatsachen ergeben, die einen höheren GdB als 60 oder die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen RF begründen würden.

Rechtsgrundlage der mit der Klage angefochtenen Bescheide ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Bei Feststellungsbescheiden nach § 69 Abs. 1 SGB IX handelt es sich um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung (vgl. – noch zum Schwerbehindertengesetz – BSG, Urteil vom 19.09.2000, Az.: B 9 SB 3/00 R). Eine Aufhebung ist dabei nur insoweit zulässig, als eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist. Eine wesentliche Änderung ist dann anzunehmen, wenn sich durch eine Besserung (oder Verschlechterung) der Behinderung eine Herabsetzung (oder Erhöhung) des GdB um wenigstens 10 ergibt. Handelt es sich bei den anerkannten Behinderungen um solche, bei denen – wie dies bei Krebserkrankungen der Fall ist – der GdB wegen der Art der Erkrankung höher festgesetzt worden ist, als es die tatsächlichen Funktionseinschränkungen erfordern, liegt eine Änderung der Verhältnisse im Sinn des § 48 SGB X auch dann vor, wenn bei der der Festsetzung des GdB zugrunde liegenden Erkrankung die Zeit der sogenannten Heilungsbewährung abgelaufen ist.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht es zur Überzeugung des Senats fest, dass im Gesundheitszustand der Klägerin im Vergleich zu den gesundheitlichen Verhältnissen, die den bestandskräftigen Bescheiden vom 10.02.2004 und 14.03.2006 zugrunde gelegen haben, durch den rezidivfreien Ablauf der Zeit der Heilungsbewährung von fünf Jahren eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eingetreten ist. Diese rechtfertigt die Herabsetzung des GdB auf 60 und die Entziehung des Merkzeichens RF. Eine Änderung der Verhältnisse, die wieder einen höheren GdB oder die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens RF begründen würden, hat sich seitdem nicht ergeben.

1. Höhe des GdB:

Rechtsgrundlage für die Feststellung des Vorliegens einer Behinderung und des GdB ist § 69 Abs. 1 SGB IX in Verbindung mit den seit 01.01.2009 maßgeblichen Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung. Die VG haben die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) abgelöst, die für die Zeit vor 01.01.2009 weiterhin als antizipierte Sachverständigengutachten beachtlich sind (vgl. BSG, Urteile vom 18.09.2003, Az.: B 9 SB 3/02 R, und vom 24.04.2008, Az.: B 9/9a SB 10/06 R; Bundesverfassungsgericht – BVerfG -, Beschluss vom 06.03.1995, Az.: 1 BvR 60/95). Die AHP und nunmehr die VG sind ein auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhendes Regelwerk, das die möglichst gleichmäßige Anwendung der Bewertungsmaßstäbe im Bundesgebiet bezweckt und dem Ziel des einheitlichen Verwaltungshandelns und der Gleichbehandlung dient.

Der bei der Klägerin anerkannte GdB ist nach der Überzeugung des Senats mit einer Höhe von 60 zu dem für die Anfechtungsklage maßgeblichen Zeitpunkt am 27.04.2009 zutreffend bewertet; diese Bewertung ist nach wie vor richtig. Dies folgt aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme.

Der Senat stützt sich dabei auf die überzeugenden und nachvollziehbar begründeten Gutachten der Sachverständigen Dr. N. und Dr. B.. Beide Gutachter haben die bei der Klägerin vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen umfassend erfasst und in Übereinstimmung mit den zu beachtenden Vorgaben der AHP bzw. VG, die für die bei der Klägerin vorliegenden Beeinträchtigungen weitgehend identisch sind, zutreffend gewürdigt. Der Senat macht sich diese sachverständigen Feststellungen zu eigen.

Im Einzelnen ist zu den jeweiligen Gesundheitsstörungen und deren Bewertung Folgendes festzuhalten:

1.1. Chronische Diarrhoe und Stuhlinkontinenz bei Zustand nach Operation eines Enddarmkrebses (Afterschließmuskelschwäche):

Nicht mehr maßgeblich ist der GdB, wie er ursprünglich mit Bescheid vom 10.02.2004 für die Enddarmerkrankung in Heilungsbewährung angesetzt worden ist. Denn damals waren die Folgen einer akut aufgetretenen Krebserkrankung zu bewerten, jetzt hingegen ist der Zustand nach Ablauf der Heilungsbewährung die Grundlage für die Bemessung des GdB.

Bei Gesundheitsstörungen, die zu Rezidiven neigen, ergibt sich aufgrund der Notwendigkeit des Abwartens einer Heilungsbewährung gegenüber den Beeinträchtigungen, die von dem Organverlust selbst ausgehen, eine andere Konstellation, weshalb während der Zeit des Abwartens einer Heilungsbewährung ein höherer GdB gerechtfertigt ist, als er sich aus dem festgestellten Organ- oder Gliedmaßenschaden allein unter funktionellen Gesichtspunkten ergeben würde (vgl. Teil B Nr. 1 Buchst. c VG). Der Begriff der Heilungsbewährung beschreibt nicht nur, dass nach Ablauf der Bewährungszeit keine erhebliche Rezidivgefahr mehr besteht. Die Heilungsbewährung erfasst daneben auch die vielfältigen Auswirkungen, die mit der Feststellung, Beseitigung und Nachbehandlung eines Tumors in allen Lebensbereichen verbunden sind. Dies lässt es zu, bei Krebserkrankungen nicht nur den Organverlust zu bewerten, sondern unter Berücksichtigung der Krebserkrankung als solcher einen GdB von mindestens 50 anzunehmen und Krebskranken damit unterschiedslos zunächst den Schwerbehindertenstatus zuzubilligen. Diese umfassende Berücksichtigung körperlicher und seelischer Auswirkungen der Erkrankung hat andererseits zur Folge, dass der GdB auf einen den tatsächlichen funktionellen Beeinträchtigungen entsprechenden GdB herabzusetzen ist, wenn die Krebskrankheit nach rückfallfreiem Ablauf der Heilungsbewährungszeit von regelmäßig fünf Jahren aufgrund medizinischer Erfahrungen mit hoher Wahrscheinlichkeit überwunden ist und außer der unmittelbaren Lebensbedrohung damit auch die vielfältigen Auswirkungen der Krankheit auf die gesamte Lebensführung entfallen sind (vgl. BSG, Urteil vom 09.08.1995, Az.: 9 RVs 14/94).

Bei der Klägerin liegt eine Afterschließmuskelschwäche mit chronischer Durchfallerkrankung vor. Diese ist nach übereinstimmender Einschätzung der gerichtlichen Sachverständigen, der sich der Senat anschließt, mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten (vgl. Teil B Nr. 10.2.4 VG). Diese Einschätzung bewegt sich am obersten Rand des für eine Afterschließmuskelschwäche zur Verfügung stehenden Rahmens. Erst ein vollständiger Funktionsverlust des Afterschließmuskels würde einen GdB von 50 oder mehr begründen. Ein solcher Funktionsverlust kann aber vorliegend ausgeschlossen werden. So hat der Gutachter Dr. B. einen zwar herabgesetzten, aber immer noch erhaltenen Tonus des Afterschließmuskels festgestellt. Dies entspricht auch dem Ergebnis einer im Klinikum E-Stadt am 23.07.2009 im Rahmen der Behandlung der Klägerin durchgeführten Untersuchung.

1.2. Seelische Störung

Infolge der Krebserkrankung und der sich anschließenden Afterschließmuskelschwäche mit Durchfallerkrankung hat sich eine reaktive Depression mit Angstzuständen herausgebildet. Die Gutachter haben diese übereinstimmend mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet. Dieser Einschätzung schließt sich der Senat an. Eine Einordnung als stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und die Bewertung mit einem Einzel-GdB von 30 ist angesichts der von den Gutachtern berichteten psychischen Befunde sachgerecht, aber durchaus großzügig. Nach den eigenen Angaben der Klägerin liegen Ein- und Durchschlafschwierigkeiten vor. Bei den Untersuchungen durch die Sachverständigen war die Klägerin schwingungsfähig; eine relevante Antriebsminderung war nicht zu erkennen; die Stimmungslage war nur leichtgradig herabgesetzt. Ein Einzel-GdB von 30 dafür steht in Einklang mit den VG (vgl. dort Teil B Nr. 3.7), eine höhere Bewertung wäre nicht vertretbar.

1.3. Chronisches degeneratives Wirbelsäulensyndrom

Nach der übereinstimmenden Einschätzung der Sachverständigen, der sich der Senat anschließt, kann der Einzel-GdB für die im LWS-, teilweise auch im Schulter-Nacken-Bereich vorliegenden Beschwerden nach den VG (vgl. dort Teil B Nr.18.9) nicht auf mehr als 20 geschätzt werden. Nervenwurzelreizsyndrome fehlen. Anlass für weitere Ermittlungen besteht nicht. Auch wenn die Klägerin mit Schreiben vom 10.07.2011 mitgeteilt hat, dass eine neue – offenbar radiologische – Untersuchung der Wirbelsäule gemacht worden sei, und erkennen lässt, dass sie an der übereinstimmenden Beurteilung der Wirbelsäule durch die Gutachter deshalb Zweifel habe, da dabei keine Röntgenaufnahmen angefertigt worden sind, sind weitere Ermittlungen nicht angezeigt. Die Klägerin verkennt, dass für die Bewertung des GdB funktionelle Beeinträchtigungen, nicht aber radiologische Befunde maßgeblich sind. Irgendwelche Hinweise auf neu aufgetretene funktionelle Beeinträchtigungen hat die Klägerin nicht gegeben, auch nicht in der mündlichen Verhandlung vom 27.10.2011.

1.4. Sonstige Beschwerden

Weitere funktionelle Beeinträchtigungen, die einen Einzel-GdB von 10 oder mehr begründen würden, kann der Senat in Übereinstimmung mit den gutachterlichen Feststellungen nicht erkennen.

1.5. Gesamt-GdB

Zur Höhe des GdB besteht unter den Gutachtern Übereinstimmung: Es ist mit 60 zutreffend eingeschätzt. Der Senat macht sich diese sachverständige Bewertung, die in Einklang mit den Vorgaben der VG (dort Teil A Nr. 3) steht, zu eigen.

2. Merkzeichen RF:

Auch soweit das Merkzeichens RF entzogen worden ist, ist diese Entscheidung rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Entziehung ist unter Zugrundelegung der zum maßgeblichen Zeitpunkt am 27.04.2009 vorliegenden Verhältnisse nicht zu beanstanden. Zudem haben sich seitdem keine neuen Tatsachen ergeben, die einen Anspruch der Klägerin auf Eintragung des Merkzeichens RF in ihren Schwerbehindertenausweis, wieder begründen würden. Dies hat die Beweisaufnahme ergeben.

Anspruchsgrundlage ist § 69 Abs. 4 SGB IX i.V.m. § 6 Abs. 1 Nrn. 7, 8 Rundfunkgebührenstaatsvertrag (RGebStV). Nach § 69 Abs. 4 SGB IX stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Hierzu gehören auch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht, bei deren Erfüllung das Merkzeichen RF in den Schwerbehindertenausweis einzutragen ist. Eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erhalten aus gesundheitlichen Gründen gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 7 RGebStV

a) blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von 60 allein wegen der Sehbehinderung;

b) hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist; und gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 8 RGebStV behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.

Die Klägerin gehört nicht zu diesem begünstigten Personenkreis. Sie ist weder wesentlich sehbehindert noch schwer hörgeschädigt (§ 6 Abs. 1 Nr. 7 RGebStV). Für sie ist auch nicht ein GdB von 80 festgestellt, so dass schon allein aus diesem Grund die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF nicht erfüllt sind (§ 6 Abs. 1 Nr. 8 RGebStV). Auf die Frage, ob die Klägerin wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann, kommt es daher nicht an; die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 8 RGebStV – GdB von 80 einerseits und fehlende Teilnahmemöglichkeit an öffentlichen Veranstaltungen andererseits – müssen nämlich kumulativ vorliegen.

Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die Klägerin mit ihrer Berufung unter keinem Gesichtspunkt Erfolg hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

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