OVG Lüneburg – Az.: 14 ME 310/22 – Beschluss vom 09.11.2022
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade – 4. Kammer – vom 30. August 2022 wird geändert.
Im Wege der einstweilige Anordnung wird der Antragsgegner vorläufig bis zu einer Entscheidung über die noch zu erhebende Klage in der Hauptsache verpflichtet, die durch ihre Eltern gesetzlich vertretene Antragstellerin von der Verpflichtung zur Zahlung der monatlichen Kosten für einen Betreuungsplatz im Umfang von bis zu zehn Stunden an die Kindertageseinrichtung D., …, E-Straße, B-Stadt, durch Kostenübernahmeerklärung gegenüber dieser Kindertageseinrichtung in Höhe von 1.863,90 Euro freizustellen.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Wirksamkeit der einstweiligen Anordnung endet auch dann, wenn die Antragstellerin nicht innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses gegen den Antragsgegner Klage auf Übernahme der Kosten für den von ihr selbst beschafften Betreuungsplatz erhoben hat.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Frau Rechtsanwältin B. bewilligt.
Gründe
Mit der Beschwerde verfolgt die von ihren Eltern gesetzlich vertretene Antragstellerin ihren vor dem Verwaltungsgericht erfolglosen Eilantrag nach § 123 Abs. 1 VwGO auf Übernahme der Kosten für einen selbstbeschafften Betreuungsplatz in B-Stadt weiter.
Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist begründet.
Nach § 146 Abs. 4 VwGO muss die Beschwerde gegen einen Beschluss des Verwaltungsgerichts im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Die Prüfung des Oberverwaltungsgerichts beschränkt sich gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zunächst darauf, ob die Beschwerde geeignet ist, die Begründung des angefochtenen Beschlusses zu erschüttern. Wenn dies der Fall ist, ist von Amts wegen darüber hinaus zu prüfen, ob sich der Beschluss auf der Grundlage der Erkenntnisse des Beschwerdeverfahrens im Ergebnis als richtig erweist oder geändert werden muss (vgl. Senatsbeschl. v. 14.3.2022 – 14 ME 175/22 -, juris Rn. 10 m.w.N.). Danach ist die angefochtene Entscheidung zu ändern.
1. Das Beschwerdevorbringen erschüttert die entscheidungstragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts.
a) Das Verwaltungsgericht hat zunächst entscheidungstragend angenommen, dass die Antragstellerin in Bezug auf den Primäranspruch nach § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII einen Anordnungsanspruch i.S.d. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO nicht hinreichend glaubhaft gemacht habe.
Nach § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII habe ein Kind, welches das erste Lebensjahr vollendet habe, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Dabei richte sich der zeitliche Umfang der täglichen Förderung nach dem konkret-individuellen Bedarf (§ 24 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 3 SGB VIII). Maßgeblich sei stets der durch die Erziehungsberechtigten definierte individuelle Bedarf, begrenzt durch das Wohl des zu betreuenden Kindes. Die Antragstellerin begehre offensichtlich die Kostenübernahme für einen Betreuungsplatz in der Kindertagesstätte D., …, in B-Stadt mit einem täglichen (Montag bis Freitag) Stundenumfang von zehn Stunden. Sie habe jedoch nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass eine Betreuung im Umfang von zehn Stunden täglich mit ihrem Kindeswohl zu vereinbaren sei. In Literatur und Rechtsprechung werde die Auffassung vertreten, dass Betreuungszeiten, die mehr als 45 Stunden in der Woche betrügen, als grundsätzlich nicht kindgerecht und möglicherweise kindeswohlbeeinträchtigend anzusehen seien. Hinzu kämen weitere Besonderheiten bei der Antragstellerin. So habe sie gerade erst das erste Lebensjahr vollendet. Aufgrund der erst vor wenigen Monaten erfolgten Trennung der Eltern könne zudem eine sozialemotionale Belastung bei ihr nicht ausgeschlossen werden. Schließlich hätte sie zusätzlich zu der zehnstündigen Betreuung noch tägliche Fahrtzeiten im Pkw von bis zu zwei Stunden hinter sich zu bringen. Daher hätte die Antragstellerin zu Fragen des Kindeswohls, insbesondere zu ihren individuellen Bedürfnissen und ihrem Entwicklungsstand, zur Qualität der Eltern-Kind-Beziehung, zur Qualifikation der Betreuungspersonen und zur Größe der Gruppe in der Kindertagesstätte vortragen und ihren Vortrag auch glaubhaft machen müssen. Dies sei nicht geschehen.
Dagegen wendet die Antragstellerin mit der Beschwerdebegründung ein, dass sie nicht – wie vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegt – zehn Stunden täglich, sondern lediglich achteinhalb bis neun Stunden in der Kindertagesstätte betreut werden solle. Die in Literatur und Rechtsprechung teilweise genannte Obergrenze von 45 Wochenstunden werde daher bereits nicht überschritten. Zwar umfasse das Betreuungsangebot der Kindertagesstätte bis zu zehn Stunden täglich, in diesem Umfang werde sie die Leistung jedoch nicht in Anspruch nehmen. Ein Betreuungsangebot von bis zu neun Stunden werde von der Kindertagesstätte nicht angeboten. Die Arbeitszeit ihrer Mutter beginne von Montag bis Freitag jeweils um 8:00 Uhr und ende um 16:30 Uhr. Die Entfernung mit dem Auto von der Arbeitsstätte zur Kita betrage nur ca. fünf Minuten. Überstunden fielen allenfalls selten und dann auch nur in ganz geringem Umfang von unter 30 Minuten an und könnten unmittelbar am nächsten Tag wieder abgebaut werden. Der Arbeitgeber nehme insofern Rücksicht auf die Situation ihrer Mutter und die Tatsache, dass diese sie alleine betreue. Die Fahrtzeiten seien für sie voraussichtlich nur mit einer geringen Belastung verbunden, da sie schlafen bzw. dösen könne und nicht mit anderen interagieren müsse. Ausreichend Bewegung habe sie durch den Aufenthalt in der Kindertageseinrichtung. Auch könne sie hin und wieder durch ihre Großmutter betreut werden, an diesen Tagen müsse sie nicht in die Kita. Die Antragstellerin hat zudem ein Schreiben einer Mitarbeiterin des Jugendamtes des Antragsgegners vom 8. September 2022 vorgelegt, nach dem aus pädagogischer Sicht in der Altersgruppe der Antragstellerin eine maximale Betreuungszeit von 45 Wochenstunden (max. neun Stunden Betreuung am Tag) angeraten werde. Dies ergebe sich unter anderem aus einem Rechtsgutachten des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht („Rechtsanspruch U3, Voraussetzungen und Umfang des Rechtsanspruchs auf Förderung in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege für Kinder unter drei Jahren“, 2013, S. 13). Die geplante Förderung der Antragstellerin, die bisher als fröhliches und aufgewecktes Kind erlebt werde, werde grundsätzlich als positiver Einfluss eingeschätzt. Die Mutter sollte allerdings die Auswirkungen der umfangreichen Betreuung auf die Entwicklung der Antragstellerin intensiv beobachten und prüfen.
Damit hat die Antragstellerin die Argumentation des Verwaltungsgerichts erschüttert. Die Antragstellerin hat jedenfalls mit ihrem Beschwerdevorbringen hinreichend glaubhaft gemacht, dass die geplante Betreuungszeit in der Kindertageseinrichtung die in Rechtsprechung und Literatur genannte Obergrenze von 45 Stunden in der Woche nicht überschreiten wird. Ihre Darstellung ist insoweit auch schlüssig und nachvollziehbar. Sie brauchte sich daher auch nicht mit Gesichtspunkten des Kindeswohls auseinanderzusetzen. Soweit der Antragsgegner demgegenüber meint, im Hinblick auf die Arbeitszeiten der Mutter der Antragstellerin und den Fahrtweg zwischen Arbeitsstätte und Kita würden die Betreuungszeiten mehr als neun Stunden täglich betragen und damit die Grenze von 45 Stunden in der Woche überschreiten, gibt es dafür keine Anhaltspunkte. Wenn die Mutter täglich achteinhalb Stunden arbeitet und nur wenige Minuten von der Arbeitsstätte zu Kita benötigt, werden die neun Stunden in aller Regel nicht überschritten. Hinzu kommt, dass die Antragstellerin an einzelnen Tagen auch durch ihre Großmutter betreut werden soll. Es bestehen daher unter Berücksichtigung der in der Literatur und der Rechtsprechung unter Kindeswohlgesichtspunkten auf der Grundlage pädagogischer Erkenntnisse herangezogenen Grenze von neun Stunden täglich und 45 Stunden wöchentlich keine Bedenken gegen den von der Antragstellerin geltend gemachten Bedarf. Dies wird auch durch das vorgelegte Schreiben des Jugendamtes gestützt. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners sind die Fahrtzeiten vom Wohnort zur Kita und zurück nicht zu den Zeiten der Fremdbetreuung in der Kindertageseinrichtung hinzuzurechnen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Antragsgegner benannten Fundstellen. Die Ausführungen des zitierten Verwaltungsgerichts Köln beziehen sich auf den Anspruch von über dreijährigen Kindern aus § 24 Abs. 3 SGB VIII. Das Verwaltungsgericht Köln führt dazu lediglich aus, dass ein Anspruch auf ganztägige Betreuung aus Gründen des Kindeswohls einem Arbeitstag von acht Stunden, unter Berücksichtigung von Wegezeiten von neun Stunden, entspricht, es geht also um die Ermöglichung einer Vollzeitstelle zuzüglich Anfahrt, für die somit ein Betreuungsumfang von neun Stunden zu gewährleisten ist. Auf diese Entscheidung bezieht sich die ebenfalls zitierte Kommentarstelle. Dafür, dass Fahrtzeiten in dem hier in Rede stehenden Umfang grundsätzlich eine Kindeswohlgefährdung begründen könnten, ist nichts ersichtlich und wird insbesondere von dem eigenen Jugendamt der Antragsgegnerin nicht geltend gemacht. Ebenfalls nicht erkennbar ist im Rahmen dieser vorläufigen Einschätzung, dass eine Kindeswohlgefährdung angesichts der beabsichtigten Ausgestaltung konkret droht. So hat die Mutter der Antragstellerin mit dem Beschwerdevorbringen etwa dargelegt, dass die Antragstellerin während der Zeit schlafen bzw. dösen könne. Sollte sich in täglicher Praxis Gegenteiliges herausstellen, kann dem bei der Hauptsacheentscheidung Rechnung getragen werden.
b) Das Verwaltungsgericht hat des Weiteren selbständig tragend angenommen, die Antragstellerin habe hinsichtlich des geltend gemachten Sekundäranspruchs auf Aufwendungsersatz analog § 36a Abs. 3 SGB VIII nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass ihr tatsächlich Aufwendungen entstehen, da sie den Abschluss des Betreuungsvertrages mit der Kindertagesstätte Kinderzimmer nur angekündigt, aber kein unterschriebenes Exemplar vorgelegt habe.
Mit der Beschwerde hat die Antragstellerin einen unterschriebenen Betreuungsvertrag mit der Kindertagesstätte Kinderzimmer vorgelegt und damit die Annahme des Verwaltungsgerichts erschüttert.
c) Auch die weitere entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichts, die Antragstellerin habe nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass der von der Samtgemeinde F. angebotene Betreuungsplatz für den Zeitraum von 7:00 bis 15:00 Uhr angesichts des dabei zu berücksichtigenden Kindeswohls nicht bedarfsgerecht sei, wird durch das Beschwerdevorbringen erschüttert. Die Mutter der Antragstellerin hat nachvollziehbar dargelegt, dass sie nach ihrer Elternzeit wieder in Vollzeit, konkret täglich von 8:00 bis 16:30 Uhr, tätig sein werde. Dieser Bedarf wird von dem angebotenen Betreuungsplatz offenkundig nicht abgedeckt. Die Antragstellerin hat darüber hinaus dargelegt, dass auch ihr Kindesvater sie aufgrund seiner Arbeitszeiten von einem Betreuungsplatz in der Samtgemeinde F. nicht vor 17:00 Uhr abholen könnte. Die sich aus ihrem Vortrag ergebenden Betreuungszeiten von bis zu neun Stunden täglich sind – wie bereits ausgeführt – auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls problematisch.
d) Schließlich erschüttert die Beschwerde auch die selbständig tragende Begründung des Verwaltungsgerichts, die Antragstellerin habe einen Anordnungsgrund bezüglich des Sekundäranspruchs nicht glaubhaft gemacht. Das Verwaltungsgericht hat die Auffassung vertreten, dass es bei einem auf Aufwendungsersatz gerichteten Eilantrag u.a. erforderlich sei, dass der jeweilige Antragsteller glaubhaft mache, dass er das Geld bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache nicht aufbringen könnte. Zwar könne der monatliche Beitrag erkennbar nicht aus dem Einkommen der Mutter der Antragstellerin (… Euro brutto im Jahr) geleistet werden, jedoch habe die Antragstellerin zu dem Einkommen ihres Vaters sowie zu den Vermögensverhältnissen der Familienangehörigen keine Angaben gemacht.
Mit der Beschwerde hat die Antragstellerin mitgeteilt, dass ihr Vater als Heizungs- und Sanitärinstallateur ein regelmäßiges monatliches Nettoeinkommen i.H.v. …. Euro beziehe. Sie hat zudem eine Abrechnung der Brutto/Netto-Bezüge ihres Vaters für Juli 2022 vorgelegt, die diese Angabe für die Monate Januar bis Juli 2022 bestätigt. Die Eltern der Antragstellerin sind danach unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen monatlichen Ausgaben für Miete und Lebensunterhalt ersichtlich nicht in der Lage, aus ihrem Einkommen die monatlichen Beiträge für die Kindertagesstätte Kinderzimmer i.H.v. insgesamt 2.110,90 Euro (Kosten für die Leistungsart K10 i.H.v. 2.060,90 Euro zzgl. der Kosten für Vollverpflegung und Care-Paket) zu bestreiten. Die Antragstellerin und ihre Eltern verfügen auch nicht erkennbar über ein Vermögen, aus dem sie die monatlichen Kita-Beiträge über einen gewissen Zeitraum aufbringen könnten. Vielmehr ergibt sich aus den vorgelegten Prozesskostenhilfe-Unterlagen, dass weder bei der Antragstellerin noch bei ihren Eltern ein (nennenswertes) Vermögen vorhanden ist.
2. Nach Erschütterung der erstinstanzlichen Entscheidungsbegründung ist der von der Antragstellerin gestellte, zulässige Eilantrag vom Oberverwaltungsgericht eigenständig nach dem Maßstab des § 123 Abs. 1 VwGO zu prüfen.
Die Begründetheit des Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO setzt voraus, dass ein Antragsteller sowohl das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. seine materielle Anspruchsberechtigung, als auch eines Anordnungsgrundes, d.h. eine besondere Dringlichkeit, glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO. Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht regelmäßig nur vorläufige Entscheidungen treffen und einem Antragsteller noch nicht in vollem Umfang das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheverfahren erstreiten könnte. Im Hinblick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache jedoch nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile des Antragstellers unzumutbar und in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären sowie ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht, der Antragsteller dort also schon aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutz anzustellenden, bloß summarischen Prüfung des Sachverhalts erkennbar Erfolg haben würde (vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 30.4.2009 – 2 BvR 338/08 -, juris Rn. 3; Beschl. v. 25.10.1988 – 2 BvR 745/88 -, juris Rn. 17; BVerwG, Beschl. v. 26.11.2013 – 6 VR 3.13 -, juris Rn. 5, 7; Beschl. v. 10.2.2011 – 7 VR 6.11 -, juris Rn. 6).
Die Antragstellerin hat unter Berücksichtigung dieser erhöhten Maßstäbe sowohl einen Anordnungsgrund (a)) wie auch einen Anordnungsanspruch (b)) glaubhaft gemacht.
a) Die Antragstellerin hat zunächst einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Der Anordnungsgrund ist gleichzusetzen mit der Dringlichkeit bzw. Eilbedürftigkeit der Rechtsschutzgewährung (vgl. Senatsbeschl. v. 27.4.2022 – 14 ME 116/22 -, juris Rn. 12; NdsOVG, Beschl. v. 19.10.2010 – 8 ME 221/10 -, juris Rn. 4; Schoch/Schneider, VwGO, Stand: 42. EL Februar 2022, § 123 Rn. 81)
Dabei ist hier ein erhöhter Maßstab an das Vorliegen eines Anordnungsgrundes anzulegen, weil die Antragstellerin eine vorläufige Vorwegnahme der Hauptsache begehrt. Denn das Ziel der von ihr begehrten Regelungsanordnung – Freistellung von den Kosten für ihre Betreuung in der Kindertageseinrichtung Kinderzimmer – ist mit dem Ziel der noch zu erhebenden Klage identisch. Auch eine vorläufige Vorwegnahme der Hauptsache ist eine Vorwegnahme im Rechtssinn. Sie vermittelt dem Antragsteller für die Dauer des Klageverfahrens bereits die Rechtsposition, die er in der Hauptsache erst anstrebt (NdsOVG, Beschl. v. 22.9.2008 – 13 ME 90/08 -, juris Rn. 3).
Einem die Hauptsache vorwegnehmenden Antrag im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO ist nur ausnahmsweise (vgl. zum grundsätzlichen Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes: BVerwG, Beschl. v. 27.5.2004 – 1 WDS-VR 2/04 -, juris Rn. 3) dann stattzugeben, wenn durch das Abwarten in der Hauptsache für den Antragsteller schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes ist Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.4.2008 – 2 BvR 338/08 -, juris Rn. 3; Beschl. v. 25.10.1988 – 2 BvR 745/88 -, juris Rn. 17; BVerwG, Beschl. v. 10.2.2011 – 7 VR 6.11 -, juris Rn. 6; Senatsbeschl. v. 27.4.2022 – 14 ME 116/22 -, juris Rn. 13; NdsOVG, Beschl. v. 12.5.2010 – 8 ME 109/10 -, juris Rn. 15).
Die Antragstellerin hat vorliegend glaubhaft gemacht, dass das Einkommen ihrer Eltern und das Vermögen der Familie ein Tragen der Betreuungskosten i.H.v. insgesamt monatlich 2.110,90 Euro (Kosten für die Leistungsart K10 i.H.v. 2.060,90 Euro zzgl. der Kosten für Vollverpflegung und Care-Paket) nicht zulässt. Die Mutter der Antragstellerin verdient nach ihren Angaben und den vorgelegten Unterlagen … Euro brutto. Der Kindesvater verdient nach dem Beschwerdevorbringen und vorgelegten Unterlagen derzeit … Euro netto im Monat, nennenswertes Vermögen ist bei der Familie nach ihren Angaben ebenfalls nicht vorhanden. Eine Betreuung der Antragstellerin in dem geltend gemachten Umfang wäre daher bis zu einer Entscheidung der Hauptsache nicht möglich. Dies ist der Antragstellerin nicht zumutbar, sie kann insbesondere nicht darauf verwiesen werden, für die Dauer des Hauptsacheverfahrens – unter erheblicher Einschränkung der Berufstätigkeit ihrer Mutter und den damit verbundenen finanziellen Einbußen – ein Betreuungsangebot wahrzunehmen, das einen geringeren Betreuungszeitraum abdeckt. Ihr Anspruch auf eine bedarfsgerechte Betreuung würde damit schon aufgrund der zu erwartenden Dauer eines Hauptsacheverfahrens zu einem großen Teil faktisch leerlaufen.
b) Die Antragstellerin hat auch glaubhaft gemacht, dass ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Anordnungsanspruch zur Seite steht.
Rechtsgrundlage des von der Antragstellerin geltend gemachten Anspruchs auf Aufwendungsersatz bzw. Freistellung (vgl. § 257 BGB) von den monatlichen Kosten für die Kita-Betreuung ist § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII in entsprechender Anwendung.
Nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, wenn Hilfen abweichend von den Absätzen 1 und 2 vom Leistungsberechtigten selbst beschafft werden, zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen verpflichtet, wenn der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat (Nr. 1), die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen (Nr. 2) und die Deckung des Bedarfs bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat (Nr. 3).
Die Vorschrift ist auf die Fälle eines selbstbeschafften Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung oder Kindertagespflege analog anwendbar; der Analogieschluss ist dabei auf sämtliche Tatbestandsmerkmale, an die die Bestimmung die Rechtsfolge des Übernahmeanspruchs knüpft, sinngemäß zu erstrecken (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.10.2017 – 5 C 19/16 -, juris Rn. 8 ff. und Urt. v. 12.9.2013 – 5 C 35.12 -, juris Rn. 17 ff.). Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII liegen hier vor (aa)). Damit steht der Antragstellerin voraussichtlich ein Anspruch auf Freistellung in der tenorierten Höhe zu (bb)).
aa) Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit gegenüber dem Antragsgegner ein Anspruch auf Aufwendungsersatz bzw. Freistellung dem Grunde nach zusteht.
(1) Die Antragstellerin hat sich – gesetzlich vertreten durch ihre Eltern – ein Angebot zur frühkindlichen Förderung in einer Tageseinrichtung, der Kindertagesstätte D. in B-Stadt, selbst beschafft. Die Selbstbeschaffung erfolgte nicht auf der Grundlage einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe im Sinne des § 36a Abs. 1 SGB VIII analog und war auch kein Fall einer erlaubten Selbstbeschaffung im Sinne des § 36a Abs. 2 SGB VIII analog.
(2) Die Antragstellerin hat hinreichend glaubhaft gemacht, dass ihre Eltern den Antragsgegner vor der Selbstbeschaffung über den Betreuungsbedarf i.S.d. § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII rechtzeitig in Kenntnis gesetzt haben. Erforderlich ist insoweit, dass ein Antrag so rechtzeitig gestellt wird, dass der Jugendhilfeträger zu pflichtgemäßer Prüfung sowohl der Anspruchsvoraussetzungen als auch möglicher Angebote in der Lage ist (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 30.11.2015 – 12 A 1542/15 -, juris Rn. 3 m.w.N.; vgl. allgemein zu § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII: BVerwG, Urt. v. 12.9.2013 – 5 C 35/12 -, juris Rn. 19, 39 f.).
Die Mutter der Antragstellerin hat ihren Bedarf hinsichtlich eines Betreuungsplatzes für die Antragstellerin ausweislich ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 9. August 2022 bereits im November 2021 und damit etwa ein dreiviertel Jahr vor dem seinerzeit gewünschten Betreuungsbeginn zum Kindergartenjahr 2022/23 (Beginn: Mitte August 2022) gegenüber der Samtgemeinde F., die verschiedene Kindertagesstätten in der Samtgemeinde F. als öffentliche Einrichtung betreibt, angemeldet und darauf hingewiesen, dass sie nach dem Ablauf ihrer Elternzeit in Vollzeit an ihren Arbeitsplatz als Speditionskauffrau zurückkehren möchte. Zwar findet sich die Anmeldung nicht in den Akten, der Antragsgegner hat eine (rechtzeitige) Anmeldung der Antragstellerin für einen Krippenplatz jedoch zu keinem Zeitpunkt in Abrede gestellt. Im Zeitpunkt der Anmeldung boten die Kindertagesstätten der Samtgemeinde F. ausweislich der genannten eidesstattlichen Versicherung der Mutter der Antragstellerin noch Betreuungszeiten von 7:00 Uhr bis 17:00 Uhr an (vgl. auch die „Satzung über den Betrieb und die Benutzung der Kindertagesstätten in der Samtgemeinde F.“ vom 17. Dezember 2020). Nachdem der Antragstellerin mit Schreiben vom 10. Dezember 2021 ein Betreuungsplatz im „Kindergarten G.“ in der Zeit von 8:00 Uhr bis 16:00 Uhr (Frühdienst von 7:00 Uhr bis 8:00 Uhr) angeboten worden war, teilte ihre Mutter per E-Mail vom 24. Januar 2022 – immer noch mehr als ein halbes Jahr vor dem gewünschten Betreuungsbeginn – zudem einer Mitarbeiterin der Samtgemeinde F. u.a. mit, dass sie mit den Öffnungszeiten der Kindertageseinrichtung nicht hinkämen. Spätestens in diesem Zeitpunkt war die Samtgemeinde F. daher darüber informiert, dass eine Betreuung bis 16:00 Uhr für die Antragstellerin nicht ausreicht und sie offensichtlich eine Betreuung entsprechend der bislang angebotenen Betreuungszeiten, also bis 17:00 Uhr, benötigt. Dies ergibt sich auch aus der Antwort der Mitarbeiterin der Samtgemeinde F., in der sie der Mutter der Antragstellerin mitteilte, dass es längere Betreuungszeiten als bis 16:00 Uhr in der Samtgemeinde nicht gebe. Der gesetzliche Rechtsanspruch liege bei vier Stunden täglich. Den Bedarf der Antragstellerin hat sie somit zur Kenntnis genommen.
Zwar nahm die Antragstellerin den angebotenen Platz dennoch zunächst an, daraus konnte jedoch nicht geschlossen werden, dass sie an dem bisher geltend gemachten Bedarf nicht mehr festhielt. Mit Schreiben vom 4. Juli 2022 teilte die Samtgemeinde F. ihr zudem mit, dass in der Kindertagesstätte „Kindergarten G.“ nur noch eine Betreuungszeit von 7:00 Uhr bis maximal 15:00 gewährleistet werden könne. Ausweislich der genannten eidesstattlichen Versicherung bemühte sich die Mutter der Antragstellerin daraufhin um eine Alternative in der Samtgemeinde F., ihr sei jedoch mitgeteilt worden, dass in allen Kindertageseinrichtungen der Samtgemeinde die Betreuungszeiten auf 15:00 Uhr gekürzt worden seien. Die Samtgemeinde F. musste daher nach der bisherigen Korrespondenz mit der Mutter der Antragstellerin davon ausgehen, dass eine Betreuung lediglich bis 15:00 Uhr auf keinen Fall mehr ausreichte.
Träger der Jugendhilfe ist zwar der Antragsgegner, dieser muss sich jedoch die Kenntnis der Samtgemeinde F. zurechnen lassen (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 5.7. 2022 – 12 A 352/21 -, juris Rn. 8), da eine Anmeldung ausweislich der „Satzung der Samtgemeinde F. über den Betrieb und die Benutzung der Kindertagesstätten in der Samtgemeinde F.“ im Rathaus der Samtgemeinde zu erfolgen hat.
Den Betreuungsvertrag mit der Kindertageseinrichtung D. hat die Mutter der Antragstellerin erst am 15. August 2022 unterschrieben, durch die Kindertageseinrichtung wurde der Vertrag erst am 8. September 2022 unterzeichnet. Damit ist der Betreuungsvertrag erst nach Beginn des Kindergartenjahres 2022/23 unterzeichnet worden. Bis dahin ist der Antragstellerin kein bedarfsgerechter Betreuungsplatz angeboten worden. Nach Beginn des Kindergartenjahres war eine Selbstbeschaffung jedenfalls zulässig.
(3) Auch lagen die Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII für die Gewährung der Hilfe vor. Die Antragstellerin hatte zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII gegenüber dem Antragsgegner einen Anspruch auf Nachweis eines bedarfsgerechten Betreuungsplatzes. Der Anspruch der Antragstellerin war fällig und wurde vom Antragsgegner nicht erfüllt.
§ 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII vermittelt der Antragstellerin einen Anspruch, dass ihr der Antragsgegner einen bedarfsgerechten Platz in einer Tageseinrichtung oder in der Kindertagespflege nachweist. Nach § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII hat ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres einen Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege.
Die Voraussetzungen des Anspruchs sind bei der Antragstellerin, die am 26. August 2022 das erste Lebensjahr vollendet hat, erfüllt. Mithin hat sie einen auf frühkindliche Förderung gerichteten Rechtsanspruch gegenüber dem Antragsgegner, der auch unstreitig fällig ist.
Der Anspruch des Kindes aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 26.10.2017 – 5 C 19.16 -, juris Rn. 27) auf den Nachweis eines bedarfsdeckenden Betreuungsplatzes in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege gerichtet. Die Nachweispflicht trägt dem Umstand Rechnung, dass die dem Rechtsanspruch korrespondierende Pflicht des Trägers der Jugendhilfe in einem aktiven Tun besteht. Der Nachweis eines Angebots zur frühkindlichen Förderung genügt den Anforderungen des § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII (nur), wenn es dem konkret-individuellen Bedarf des anspruchsberechtigten Kindes und seiner Erziehungsberechtigten insbesondere in zeitlicher und räumlicher Hinsicht entspricht (BVerwG, Urt. v. 26.10.2017 – 5 C 19.16 -, juris Rn. 41). Dieser individuelle Bedarf wird durch die Sorgeberechtigten bestimmt und ist vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe beim Nachweis eines Betreuungsplatzes grundsätzlich auch zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.10.2017 – 5 C 19.16 -, juris Rn. 42; VGH BW, Urt. v. 8.12.2016 – 12 S 1782/15 -, juris Rn. 41; BayVGH, Urt. v. 22.7.2016 – 12 BV 15.719 -, juris Rn. 45). In zeitlicher Hinsicht ist lediglich zu prüfen, ob der Umfang der von den Sorgeberechtigten als individueller Bedarf geltend gemachten Betreuung mit dem Kindeswohl vereinbar ist, da der Anspruch aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB unbedingt ausgestaltet ist und damit insbesondere eine „Erforderlichkeit“ der Betreuung in dem begehrten Umfang nicht voraussetzt. Der Anspruch des Kindes gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII auf Nachweis eines Angebots zur frühkindlichen Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege unterliegt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch nicht dem Einwand der Kapazitätserschöpfung (BVerwG, Urt. v. 26.10.2017 – 5 C 19.16 -, juris Rn. 34).
Soweit der Antragsgegner auf verschiedene obergerichtliche Entscheidungen, auch des beschließenden Gerichts, verweist, nach denen sich lediglich ein Anspruch auf Förderung in einer Kindertageseinrichtung im Umfang von sechs Stunden ergebe, sind diese Entscheidungen vorliegend nicht einschlägig. Sie verhalten sich sämtlich lediglich zum Förderanspruch nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, der Kinder betrifft, die das dritte Lebensjahr vollendet haben, und dessen gesetzliche Ausgestaltung nicht mit dem hier in Rede stehenden Anspruch nach § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII identisch ist. Anders als § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII gewährt § 24 Abs. 3 SGB VIII kein subjektives Recht auf einen (bedarfsgerechten) Ganztagsplatz, vielmehr sollen die Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach dem Wortlaut lediglich „darauf hinwirken“, dass für die Altersgruppe ab dem vollendeten dritten Lebensjahr ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagsplätzen zur Verfügung steht (BVerwG, Urt. v. 14.11.2002 – 5 C 57.01 -, juris Rn. 21; NdsOVG, Beschl. v. 24.7.2019 – 10 ME 154/19 – und vom 19.12.2018 – 10 ME 395/18 -, jeweils juris m.w.N.). Ob diese Unterscheidung rechtspolitisch sinnvoll ist, ist nicht von den Gerichten zu überprüfen. Der klare Wortlaut der beiden Normen lässt jedenfalls keinen Spielraum für eine einheitliche Auslegung in die eine oder andere Richtung.
Die Antragstellerin hatte durch ihre Sorgeberechtigten bei der Samtgemeinde F. einen Bedarf von neun Stunden in der Zeit von 8:00 Uhr bis 17:00 Uhr angemeldet. Bei einer solchen Betreuungszeit, die zunächst auch angeboten worden sind, könnten ihre Eltern wunschgemäß in Vollzeit arbeiten, ihr Vater hätte ihre Abholung übernehmen können. Dieser Betreuungsbedarf überschreitet die teilweise in Rechtsprechung und Literatur unter Kindeswohlgesichtspunkten mit 45 Stunden in der Woche festgelegte Obergrenze bereits nicht. Es sind bei einer solchen Betreuung auch keine individuellen Gründe für eine Kindeswohlgefährdung bei der Antragstellerin erkennbar.
Mit dem Angebot eines Betreuungsplatzes in der Kindertageseinrichtung „Kindergarten G.“ in der Zeit von 7:00 Uhr bis 15:00 Uhr (vgl. die Mitteilung der Betreuungszeiten vom 4. Juli 2022) hat der Antragsgegner den Primäranspruch der Antragstellerin nicht erfüllt. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Antragstellerin den Platz zunächst angenommen hatte. Zu diesem Zeitpunkt sind jedenfalls noch Betreuungszeiten bis 16:00 Uhr garantiert worden und die Mutter der Antragstellerin war bereit, ihre Arbeitszeit (geringfügig) zu reduzieren. Dass eine Betreuung bis 15:00 Uhr nicht dem Bedarf der Antragstellerin entspricht, hat die Mutter stets deutlich gemacht.
(4) Die Gewährung der Hilfe – in diesem Fall die Beschaffung eines Betreuungsplatzes – ist im Hinblick auf Art und Dringlichkeit des Hilfebedarfs auch unaufschiebbar. Die Kinderbetreuung, die – trotz Rechtsanspruchs – nicht für den Zeitraum gewährt wird, für den sie begehrt wird, lässt sich nicht verschieben oder nachholen, sondern bleibt für diesen Zeitraum in irreversibler Weise unerfüllt; der Anspruch auf Zuweisung eines real verfügbaren Platzes erledigt sich durch Zeitablauf. Soweit der Primäranspruch auf einen Betreuungsplatz nicht auf andere Weise durchgesetzt werden kann, ist der Betroffene – wenn er den endgültigen Anspruchsverlust verhindern will – auf eine Selbstbeschaffung verwiesen, die es ihm dann noch ermöglicht, den Bedarf zu decken und zumindest die erforderlichen Aufwendungen hierfür erstattet zu bekommen (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.9.2013 – 5 C 35.12 -, juris Rn. 38).
Die Gewährung frühkindlicher Förderung ist ein mit Schulantritt endender und damit zeitlich beschränkter Anspruch, der allein durch Zeitablauf fortschreitend untergeht und deshalb stets unaufschiebbar ist. Hinzu kommt, dass die Eltern der Antragstellerin beide berufstätig sind. Familiäre Betreuungsmöglichkeiten bestehen ebenfalls nicht, so dass die Inanspruchnahme einer Kinderbetreuung unaufschiebbar ist.
(5) Der Anspruch ist auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Antragstellerin sich nicht im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um einen Kita-Platz bemüht hat. Auch das Bundesverwaltungsgericht hält es zumindest für zweifelhaft, ob im Rahmen des Anspruchs auf Aufwendungsersatz nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII die vorherige Inanspruchnahme von Eilrechtsschutz geboten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.9.2013 – 5 C 35.12 -, juris Rn. 51). Im Wortlaut des § 36a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII, der nur verlangt, dass die Deckung des Bedarfs durch die selbstbeschaffte Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet haben darf und der dabei zwischen dem Fall der Bedarfsdeckung bis zu einer Entscheidung des Trägers der er öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung (Buchst. a)) und dem Fall bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung (Buchst. b)) unterscheidet, hat das Erfordernis des Eilrechtsschutzes keinen Ausdruck gefunden. Die grundsätzliche Möglichkeit, im Eilverfahren durch eine einstweilige Anordnung (§ 123 VwGO) den Bedarf zu decken, bleibt zwar unberührt. Da aber auch dieses Verfahren länger dauern kann, schließt diese Möglichkeit die Selbstbeschaffung jedenfalls dann nicht aus, wenn der Eilrechtsschutz unzumutbar ist, d.h., wenn mit der Inanspruchnahme des Eilrechtsschutzes eine rechtzeitige Abhilfe nicht erwartet werden kann (vgl. VG Bremen, Beschl. v. 17.5.2021 – 3 K 2333/18 -, juris Rn. 40 m.w.N.). Das war hier der Fall, wie die auch noch im Beschwerdeverfahren vertretenen rechtsgrundsätzlichen Positionen des Antragsgegners zeigen.
(6) Der Antragsgegner wendet ein, er sei nicht zur Übernahme der Kosten verpflichtet, weil die in Anspruch genommene Betreuungszeit mehr als neun Stunden täglich betrage. In Literatur und Rechtsprechung werde jedoch unter Kindeswohlgesichtspunkten eine Obergrenze von neun Stunden täglich oder 45 Stunden wöchentlich befürwortet. Einen Betreuungsumfang von mehr als neun Stunden pro Werktag schulde der Antragsgegner nicht, zumal ein solcher Betreuungsumfang kindeswohlgefährdend sei. Zu berücksichtigen seien hier zudem noch die sehr langen Fahrtzeiten von jeweils ca. einer Stunde zur Einrichtung in B-Stadt und zurück.
Dieses Vorbringen dringt nicht durch. Erbringt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe – wie hier – die von Gesetzes wegen geschuldete Leistung nicht, so sind die Betroffenen gezwungen, eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und die Erforderlichkeit der Maßnahmen zur angemessenen Lösung der Betreuungssituation zu treffen. Dies hat zur Folge, dass die Verwaltungsgerichte nur das Vorhandensein des jugendhilferechtlichen Bedarfs zu prüfen haben, sich aber hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbstbeschafften Hilfe auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus ex-ante Sicht der Leistungsberechtigten beschränken müssen (BVerwG, Urt. v. 18.10.2012 – 5 C 21.11 -, juris Rn. 23; VGH BW, Urt. v. 8.12.2016 – 12 S 1782/15 -, juris Rn. 68; BayVGH, Urt. v. 22.7.2016 – 12 BV 15.719 -, juris Rn. 52). Nach diesen Maßstäben sind Art und Umfang der gewählten Betreuung der Antragstellerin nicht zu beanstanden. Dies gilt zunächst mit Blick auf den zeitlichen Umfang der Betreuung. Ausweislich des zwischen den Eltern der Antragstellerin und der Betreiberin der Kindertageseinrichtung D. geschlossenen Betreuungsvertrages kann die Antragstellerin werktäglich zehn Stunden flexibel in der Zeit von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr betreut werden. Tatsächlich hat die Antragstellerin aber – wie bereits ausgeführt – schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass sie täglich nur bis zu neun Stunden betreut werden wird. Damit bestehen hier keine Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung. Auch unter Berücksichtigung der Anfahrtszeiten zur Kindertageseinrichtung D. in B-Stadt ist eine Kindeswohlgefährdung nicht ersichtlich. Auf die obigen Ausführungen wird verwiesen. Die Mutter der Antragstellerin hat hinreichend dargelegt, wie sie die Fahrtzeiten gestalten will, um eine Belastung der Antragstellerin möglichst gering zu halten. Insoweit genügt es nicht, wenn der Antragsgegner, der der Antragstellerin keinerlei bedarfsgerechtes Angebot gemacht hat, nunmehr pauschal und ohne substantiierte Begründung von einer Kindeswohlgefährdung ausgeht. Hinzu kommt, wie bereits ausgeführt, dass das Jugendamt des Antragsgegners selbst in seiner von der Antragstellerin erbetenen Stellungnahme im Hinblick auf die geplante Betreuung zunächst nicht von einer Gefährdung des Kindeswohls ausgeht.
bb) Der Freistellungsanspruch besteht im Wesentlichen auch in der von der Antragstellerin geltend gemachten Höhe.
Der Umfang der nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII vom Träger der Jugendhilfe zu übernehmenden Aufwendungen entspricht in der Regel dem Betrag, der bei rechtzeitiger Gewährung der Hilfe entsprechend den zugrundeliegenden öffentlich-rechtlichen Bestimmungen zu tragen gewesen wäre (vgl. BVerwG, Urt. v. 1.3.2012 – 5 C 12.11 -, juris Rn. 22; BayVGH, Urt. v. 22.7.2016 – 12 BV 15.719 -, juris Rn. 51). Können die Anspruchsteller die erforderliche Hilfe zu diesen Konditionen jedoch selbst nicht beschaffen, etwa weil diese durch erhebliche staatliche Förderungen unter dem ansonsten Üblichen gehalten wird, so haben sie Anspruch auf Ersatz der Aufwendungen, die sie bei rechtmäßigem Handeln des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe erspart hätten. Damit bezieht sich der Erstattungsanspruch aus § 36a Abs. 3 SGB VIII grundsätzlich auf die Aufwendungen, die im Rahmen anderweitiger Selbstbeschaffung tatsächlich entstanden sind. In der Höhe orientiert sich der Aufwendungsersatz infolgedessen letztlich an § 670 BGB (OVG BW, Urt. v. 8.12.2016 – 12 S 1782/15 -, juris Rn. 55 m.w.N.; BayVGH, Urt. v. 22.7.2016 – 12 BV 15.719 -, juris Rn. 51). Der Anspruch unterliegt insoweit grundsätzlich weder dem Mehrkostenvorbehalt des § 5 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII noch sind die Anspruchsteller verpflichtet, einen Leistungserbringer zu wählen, mit dem der Träger eine Vereinbarung nach § 78b SGB VIII abgeschlossen hat (OVG BW, Urt. v. 8.12.2016 – 12 S 1782/15 -, juris Rn. 55 m.w.N.). Zu erstatten sind damit in der Regel diejenigen Aufwendungen, die der Selbstbeschaffer unter Berücksichtigung der Verpflichtung zu wirtschaftlichem Handeln nach Lage der Dinge für erforderlich halten durfte (OVG BW, Urt. v. 8.12.2016 – 12 S 1782/15 -, juris Rn. 55 m.w.N.; OVG NRW, Beschl. v. 17.3.2014 – 12 B 70/14 -, juris Rn. 31). Dies schließt vermeidbare, nicht auf einem zwingenden Leistungskatalog des privaten Anbieters beruhende Luxusaufwendungen aus und aus sachlichen Gründen zu rechtfertigenden Mehrausgaben ein. Gegebenenfalls ist eine Deckelung auf das Erforderliche vorzunehmen (OVG BW, Urt. v. 8.12.2016 – 12 S 1782/15 -, juris Rn. 55 m.w.N.; BayVGH, Urt. v. 22.7.2016 – 12 BV 15.719 -, juris Rn. 51). Den Nachweis einer (behaupteten) Unverhältnismäßigkeit der Aufwendungen hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu führen (OVG BW, Urt. v. 8.12.2016 – 12 S 1782/15 -, juris Rn. 55 m.w.N.).
Der Anspruchsberechtigte muss sich im Wege des Vorteilsausgleichs allerdings etwaige Kostenbeiträge nach § 90 Abs. 1 SGB VIII anspruchsmindernd entgegenhalten lassen (OVG BW, Urt. v. 8.12.2016 – 12 S 1782/15 -, juris Rn. 62 m.w.N.; BayVGH, Urt. v. 22.7.2016 – 12 BV 15.719 -, juris Rn. 61). Dies hat zur Folge, dass der Sekundäranspruch im Falle der mangelnden Kostenfreiheit des Primäranspruchs der Sache nach lediglich auf den Ersatz der Mehrkosten der Selbstbeschaffung gerichtet ist.
Nach diesen Maßstäben sind hier zunächst die monatlichen Betreuungskosten in der Kindertageseinrichtung D. in Höhe von 2.110,90 Euro (Kosten für die Leistungsart K10 i.H.v. 2.060,90 Euro zzgl. der Kosten für Vollverpflegung und Care-Paket in Höhe von jeweils 25,00 Euro) anzusetzen. Von diesen tatsächlichen Aufwendungen sind die vom Antragsgegner als fiktive Aufwendungen für eine Unterbringung in einer Einrichtung der Samtgemeinde F. berechneten 247,00 Euro (entgegen der Ausführungen des Antragsgegners verdient die Mutter der Antragstellerin ausweislich ihres vorgelegten Arbeitsvertrages nicht erst ab dem 1. Januar 2023, sondern bereits seit dem 1. Januar 2020 ein Jahresgehalt von … Euro brutto) abzuziehen. Die Verpflegungskosten und die Kosten für das Care-Paket sind nicht abzusetzen, da die Antragsgegnerin nicht vorgetragen hat, dass ein solcher Beitrag zusätzlich zu dem monatlichen Beitrag noch separat erhoben wird.
Die Antragstellerin durfte sich auch in B-Stadt, also außerhalb der Samtgemeinde F., einen Betreuungsplatz suchen, da in der Samtgemeinde F. die Betreuungszeiten in sämtlichen Kindertageseinrichtungen um 15 Uhr schließen und die Plätze bei den Tagespflegepersonen bereits ausgebucht waren. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Kindertagesstätte D. von dem Antragsgegner nicht zu übernehmende „Luxusleistungen“ anbietet.
cc) Soweit das Gericht nach dem Vorstehenden entschieden hat, den Fortbestand der einstweiligen Anordnung an die rechtzeitige Erhebung der Klage in der Hauptsache zu binden, ist diese Bedingung rechtlich zulässig (vgl. ausführlich bereits NdsOVG, Beschl. v. 30.5.2018 – 8 ME 3/18 -, juris Rn. 62 m.w.N.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Da der Antragsgegner nur geringfügig obsiegt, erscheint es billig, ihm die Kosten des Verfahrens insgesamt aufzuerlegen. Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.
Der Antragstellerin war Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwältin B. beizuordnen. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für Prozesskostenhilfe liegen ausweislich der vorgelegten Unterlagen vor und die Rechtsverfolgung bot hinreichende Erfolgsaussicht (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).