SG Dortmund – Az.: S 17 U 955/14 – Urteil vom 02.11.2016
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 03.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2014 verurteilt, das Ereignis vom 19.10.2012 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Die Beklagte hat die die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Ereignisses als Arbeitsunfall.
Der im Jahre 1963 geborene Kläger befuhr am 19.10.2012 mit seinem Motorrad zu dem Zwecke einzukaufen eine Straße in K., als ihm ein Fahrradfahrer die Vorfahrt nahm. Bei dem folgenden Ausweichvorgang kam der Kläger zu Sturz und zog sich u.a. Luxationen beider Schultergelenke zu.
Die Beklagte sichtete die strafrechtlichen Ermittlungsunterlagen und lehnte es sodann mit Bescheid vom 03.01.2014 ab, das Ereignis als Arbeitsunfall anzuerkennen. Zur Begründung ist ausgeführt, zwar seien Personen dem Grunde nach gesetzlich unfallversichert, die bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfe leisteten oder einen Anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für seine Gesundheit retteten, der Kläger habe indes nur in Anbetracht eines drohenden Zusammenstoßes eine Vollbremsung eingeleitet, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Er habe in Sekundenbruchteilen gehandelt, so dass erhebliche Zweifel daran bestünden, dass er dabei bewusst an mögliche Unfallfolgen für den Radfahrer gedacht habe. Darüber hinaus habe für den Kläger eine annähernd gleiche Gefahr bestanden, so dass die Vollbremsung auch dem Selbstschutz des Klägers gedient habe.
Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein, welchen er damit begründete, dass er eine bewusste Entscheidung getroffen habe und nicht instinktiv gehandelt habe.
Mit Bescheid vom 19.11.2014 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Beklagte begründete ihre Entscheidung damit, dass angesichts der hohen Verletzungsgefahr für den Kläger selbst keine Rettungsabsicht festgestellt werden könne.
Hiergegen ist am 08.12.2014 beim erkennenden Gericht Klage erhoben worden.
Der Kläger trägt vor, er begehre die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall und Entschädigungsleistungen. Sein Begehren werde durch Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gestützt. Hätte er wirklich unbewusst gehandelt, wäre er in den Radfahrer hineingefahren.
Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 03.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2014 zu verurteilen, das Ereignis vom 19.10.2012 als Arbeitsunfall anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hält ihre Entscheidung für rechtmäßig und trägt ergänzend vor, aus der strafrechtlichen Ermittlungsakte ergebe sich, dass der Kläger die Kontrolle über das Motorrad verloren habe. Motorradfahrer und Radfahrer seien im Straßenverkehr im Übrigen gleichen Gefährdungen ausgesetzt.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 03.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2014 ist rechtswidrig. Bei dem Ereignis vom 19.10.2012 handelt es sich um einen Arbeitsunfall im Sinne des Gesetzes.
Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 S. 1 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit. Der Kläger ist bei dem Ereignis unfallversichert gewesen. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 13a) SGB VII sind solche Personen versichert, die bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfe leisten oder einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für seine Gesundheit retten. Dieser Tatbestand ist hier erfüllt. Der Kläger hat, indem er seinem potentiellen Unfallgegner ausgewichen ist, diesen aus erheblicher Gefahr für dessen Gesundheit gerettet, möglicherweise ihm sogar das Leben gerettet. Der Umstand, dass der Kläger die Rettungshandlung nicht mit zeitlichem Vorlauf geplant vorgenommen, sondern in Sekundenbruchteilen gehandelt hat, begründet keine andere Bewertung. Auch eine spontan, ohne intensive Überlegung verrichtete Rettungstat unterfällt dem zitierten Tatbestand des § 2 Abs. 1 Nr. 13a) SGB VII. Dies hat das Bundessozialgericht gerade für ein Ausweichmanöver im Straßenverkehr entschieden (BSG, Urteil v. 30.11.1982, Az.: 2 RU 70/81, BSGE 54, S. 190 ff., zur Vorgängervorschrift des § 539 Abs. 1 Nr. 9a) der Reichsversicherungsordnung – RVO). Die Entscheidung erscheint der Kammer sachgerecht, nachdem Gefahrensituationen geradezu immanent ist, dass sie überraschend auftreten und für die Rettungsentscheidung keine lange Überlegung dulden. Entsprechend hat das BSG zutreffend weiter entschieden, dass selbst bei reflexartigen Ausweichmanövern im Straßenverkehr Versicherungsschutz gegeben ist, wenn die konkrete Gefahrenlage bei natürlicher Betrachtungsweise objektiv geeignet ist, eine Rettungshandlung auszulösen (BSG, Urteil v. 08.12.1988, Az.: 2 RU 31/88, BSGE 64, S. 218 ff.).
Ohne Erfolg weist die Beklagte darauf hin, dass der Kläger mit seiner Ausweichhandlung nicht allein den betreffenden Fahrradfahrer, sondern auch seine eigene Person habe retten wollen. Die Kammer hat nach sorgfältiger Sichtung der aktenkundigen, insbesondere der von der Polizeibehörde des Kreises U. beigezogenen Unterlagen bereits nicht die Erkenntnis gewinnen können, dass der Kläger sich mit der von ihm vorgenommenen Ausweichhandlung besser steht, als wenn er es auf eine Kollision mit dem Fahrrad hätte ankommen lassen. Dies gilt nicht nur wegen der vom Kläger nunmehr tatsächlich davongetragenen Verletzungen, sondern auch in Anbetracht der abstrakten Gefahrenlage als solcher. Es bestehen bei den in Rede stehenden Gewichten eines Motorrades einerseits und eines Fahrrades andererseits vielmehr gute Gründe für die Annahme, dass der Kläger mit seinem Motorrad überhaupt nicht gestürzt wäre, wenn er geradeaus in das Fahrrad hineingefahren wäre.
Schlechterdings nicht verständlich ist in diesem Zusammenhang der von der Beklagten im Klageverfahren unterbreitete Vortrag, Motorradfahrer und Fahrradfahrer seien im Straßenverkehr gleichen Gefährdungen ausgesetzt. Es kommt hier auf die konkrete Gefahrenlage an, die für den Kläger bei einem Aufprall der Fahrzeuge entstanden wäre, im Verhältnis zu der Gefahr, welcher der potentielle Unfallgegner ausgesetzt gewesen wäre. Für die Kammer besteht kein vernunftgetragener Zweifel daran, dass bei einem Zusammenstoß die Gefahr für den Unfallgegner ungleich größer gewesen wäre, eine schwerwiegende Verletzung zu erleiden, als für den Kläger. Es kommt hinzu, dass die Beklagte sogar nach dem eigenen von ihr in dem angefochtenen Bescheid vom 03.01.2014 gewählten Subsumtionsansatz das Bestehen eines Arbeitsunfalles hätte annehmen müssen. Wenn die Beklagte selbst dort das Bestehen einer annähernd gleichen Gefahr für den Kläger annimmt, so konzediert sie geradezu das Bestehen von Kausalität der Handlung des Klägers für die Abwendung einer Gefahr von dem Fahrradfahrer, denn eine annähernd gleiche Gefahr für den Kläger impliziert eine ebenfalls mindestens annähernd gleiche Gefahr für den Fahrradfahrer und nach der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung zur Ermittlung von Kausalität vorherrschenden allgemein anerkannten Theorie der wesentlichen Bedingung reicht die annähernde Gleichwertigkeit für die Bejahung von Kausalität bekanntlich gerade aus.
Ebenfalls schlechterdings nicht nachvollziehbar ist die Zielrichtung des im Klageverfahren von der Beklagten unterbreiteten Vortrages, der Kläger habe die Kontrolle über sein Motorrad verloren. Der Kläger hat in der Tat die Kontrolle über sein Motorrad verloren, eben weil er das gewichtige Fahrgerät infolge des Ausweichmanövers nicht mehr hat halten können. Sollte die Beklagte mit ihrem Vortrag suggerieren wollen, der Kläger habe einen bloßen Fahrfehler begangen, der mit dem Vorfall mit dem Radfahrer nicht in Zusammenhang stehe, so ergeben die Ermittlungsakten hierfür nicht im Ansatz einen Anhalt.
Der Klage war damit stattzugeben, wobei sich die Kostenentscheidung aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes ergibt.