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Voraussetzungen für Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen – Az.: L 21 R 741/20 – Urteil vom 19.08.2022

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 28.07.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die am 00.00.1985 geborene Klägerin absolvierte die Realschule und erlernte den Beruf der Konditorin. Zwei später begonnene Ausbildungen beendete sie nicht. Die Klägerin arbeitete zuletzt 2008 als Konditorin. Danach war sie noch in geringem Umfang im Betrieb der Eltern (Versicherungskaufleute) tätig. Seit 2018 arbeitet sie in geringem Umfang im Betrieb ihres Lebensgefährten. Der Kreis L stellte bei ihr ab 2009 einen GdB von 40 fest. Sie bezieht eine Berufsunfähigkeitsrente aus einer privaten Rentenversicherung.

2007 absolvierte die Klägerin eine stationäre orthopädische Rehabilitationsmaßnahme, aus der sie als vollschichtig leistungsfähig für den Beruf der Konditorin und körperlich mittelschwere Tätigkeiten entlassen wurde. 2009 und seitdem wiederholt befand sie sich in Behandlung der Rheumaklinik des F-Stifts T, wo insbesondere eine Fibromyalgie, eine somatoforme Schmerzstörung und rezidivierende Lumbalgien diagnostiziert wurden und eine Umschulung empfohlen wurde. Eine entzündlich rheumatische Erkrankung wurde dort wiederholt ausgeschlossen. Ende 2009 bis Anfang 2010 war die Klägerin in teilstationärer psychiatrischer Behandlung wegen mittelgradiger depressiver Episode, anhaltender somatoformer Schmerzstörung, Fibromyalgie und sonstiger Bandscheibenverlagerung. Im Verlauf hätten die Schmerzen im Vordergrund gestanden. Eine weitere Abklärung in Richtung beruflicher Rehabilitation sei ratsam. Die Klägerin ist seit dieser Zeit durchgehend und maßgeblich wegen ihrer Schmerzerkrankung in ambulanter und stationärer Behandlung. Die behandelnden Ärzte bescheinigten ihr immer wieder Arbeitsunfähigkeit.

2011 stellte die Klägerin einen ersten Rentenantrag, den die Beklagte mit Bescheid vom 14.04.2011 ablehnte. Die Klägerin legte am 29.04.2011 Widerspruch ein, nahm den Rentenantrag aber am 01.08.2011 zurück und beantragte gleichzeitig formlos Leistungen zur Teilhabe bzw. zur medizinischen Rehabilitation. Auf die Aufforderung der Beklagten, hierfür einen Formularantrag zu stellen, reagierte die Klägerin nicht. Die Beklagte behandelte den Antrag als erledigt. 2014 beantragte die Klägerin erneut Leistungen zur Teilhabe. Vom 04.05.2015 bis zum 03.02.2016 absolvierte sie unter Bezug von Übergangsgeld einen Lehrgang zur beruflichen Rehabilitation und Integration bei der AWO M.

Am 05.02.2016 beantragte die Klägerin bei der DRV Rheinland formlos eine weitere Maßnahme, hilfsweise eine Rente wegen Erwerbsminderung. Die Teilhabeleistung sei nicht erfolgreich gewesen. Schon aus der Aktenlage, insbesondere der langen Behandlungsdauer und den zahlreichen Arbeitsunfähigkeitszeiten, ergebe sich, dass die Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung erfüllten seien und zwar bereits ab 2011. Der Antrag wurde an die zuständige Beklagte weitergeleitet.

Im Auftrag der Beklagten wurde die Klägerin am 26.09.2016 vom Allgemeinmediziner und Schmerztherapeut Dr. N untersucht. Dieser diagnostizierte ein chronisches Schmerzsyndrom Stadium 3 nach Gerbershagen. Das Beschwerdebild sei seit 2011 im Wesentlichen gleich. Es sei eine Beschwerdebetonung zu beobachten gewesen. Die derzeit erfolgende Schmerztherapie sei nicht leitliniengerecht. Die Klägerin könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt werktäglich mehr als sechs Stunden körperlich leichte und mittelschwere Tätigkeiten ausüben. Der Arzt für Innere Medizin und Sozialmedizin Dr. G kam in einem Gutachten nach Aktenlage u.a. unter Bezugnahme auf das Gutachten von Dr. N zu dem Ergebnis, dass die Klägerin werktäglich mehr als sechs Stunden körperlich leichte und gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten ausüben könne. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 07.11.2016 ab.

Die Klägerin legte am 16.11.2016 Widerspruch ein. Die Diagnose einer Fibromyalgie sei bei mehreren stationären Behandlungen gesichert worden. Es bestehe ein schwerer Verlauf, der unter Berücksichtigung der erheblichen Arbeitsunfähigkeitszeiten Erwerbsunfähigkeit begründe. Die Beklagte beabsichtigte die Durchführung einer weiteren Begutachtung, nunmehr auf orthopädischem Fachgebiet, die die Klägerin mit der Begründung ablehnte, dass das Erfordernis einer weiteren Begutachtung angesichts der Aktenlage von der Beklagten zu begründen sei. Nach zwischenzeitlicher Erhebung einer Untätigkeitsklage durch die Klägerin beim Sozialgericht Duisburg (S 21 R 635/17) wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14.08.2017 wegen fehlender Mitwirkung zurück. Nach Umstellung des Klageantrags durch die Klägerin hob das Sozialgericht Duisburg den Widerspruchsbescheid aus formalen Gründen mit Gerichtsbescheid vom 06.08.2018 auf und wies die Klage im Übrigen ab. Nach Wiedereintritt in das Vorverfahren wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26.09.2018 den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Klägerin könne noch täglich mindestens sechs Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten.

Hiergegen hat die Klägerin am 23.10.2018 Klage beim Sozialgericht Duisburg erhoben. Sie hat ein Gutachten des Nervenarztes und Facharztes für Psychosomatische Medizin Dr. P für das Landgericht Frankfurt am Main aus einem Rechtsstreit der Klägerin gegen die Ar Lebensversicherung aufgrund persönlicher Untersuchung vom 13.05.2013 und diverse Behandlungsunterlagen vorgelegt. Dr. P hielt die Klägerin in seinem Gutachten insbesondere wegen Fibromyalgie, Depressionen und somatoformer Störung ab 2008 im Hinblick auf ihren zuletzt ausgeübten Beruf der Konditorin für berufsunfähig zu 80%.

Die Klägerin hat vorgetragen, sie sei zum 31.05.2017 ausgesteuert worden. Wegen ihrer langjährigen, intensiven Behandlungen und umfangreicher Arbeitsunfähigkeitszeiten sei ab 2011 eine volle Erwerbsminderung erwiesen. Sie verweise auf den Beschluss des BSG vom 31.10.2012 – B 13 R 107/12 B. Es bestehe zudem eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen.

Die Beklagte hat unter Vorlage beratungsärztlicher Stellungnahmen vorgetragen, sie gehe ebenso wie Dr. P davon aus, dass die Klägerin bezogen auf den Beruf der Konditorin voll erwerbsgemindert sei. Eine quantitative Leistungseinschränkung für den allgemeinen Arbeitsmarkt ergebe sich aus dem Gutachten jedoch nicht. Dafür seien auch nicht die diversen Diagnosen oder die wiederholten Krankschreibungen ausreichend. Zu den vom Sozialgericht eingeholten Behandlungsunterlagen hat die Beklagte ausgeführt, der behandelnde Orthopäde Dr. S halte die Klägerin noch für in der Lage, körperlich leichte Tätigkeiten auszuüben.

Das Sozialgericht hat Befundberichte des Arztes für Orthopädie Dr. S, des Facharztes für Orthopädie Dr. C und der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. D sowie Sachverständigengutachten der Fachärztin für Orthopädie, Rheumatologie Dr. R aufgrund ambulanter Untersuchung am 05.05.2020 und des Arztes für Nervenheilkunde, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. U aufgrund ambulanter Untersuchung am 06.11.2019 eingeholt.

Dr. C hat angegeben, die Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei nennenswert eingeschränkt. Es werde jedoch eine Begutachtung empfohlen. Dr. D hat ausgeführt, sie könne zur Erwerbsfähigkeit keine Aussage treffen. Dr. S hat erklärt, die Klägerin könne noch leichte Tätigkeiten verrichten.

Dr. U hat mitgeteilt, dass die Klägerin auf die Frage nach einer Tätigkeit an einer Nebenpforte angegeben habe, dass sie sich eine solche zwar prinzipiell vorstellen könne, dass sie sich aber ggf. aufgrund von Schmerzen nicht zur Arbeit in der Lage sehe und daher für einen Arbeitgeber nicht verlässlich sei. Außerdem könne sie sich nach einigen Stunden nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren. Es bestehe ein Dauerschmerz, der 7-8 auf einer Skala bis 10 betrage. Laut Dr. U hat die Klägerin bei der Untersuchung von Wirbelsäule und Extremitäten einen Wirbelsäulenklopfschmerz angegeben. Ansonsten sei die Beweglichkeit der Gelenke frei gewesen, keine Verschmächtigung der Muskulatur, physiologische bis kräftige Verschwielung der Fußsohlen. Die Klägerin habe über längere Zeit ohne Schmerzäußerung sitzen können. Neurologisch habe sich ein leichter hochfrequenter Tremor im Armhalteversuch beidseits gezeigt. Die Klägerin sei euthym bis subdepressiv gestimmt gewesen bei erhaltener Schwingungsfähigkeit. Die Gedächtnisleistung sei gesund gewesen, keine formalen Denkstörungen. Es bestünden eine anhaltend somatoforme Schmerzstörung mit körperlichen und psychischen Faktoren bei Nacken-Kopf-Schmerzen, Rückenschmerzen und Neurasthenie sowie ein essentieller Tremor. Eine auch nur leichte depressive Störung sei angesichts des erhobenen Befundes und der Angaben zur Alltagsgestaltung nicht anzunehmen. Während das grundsätzliche Bestehen der angegebenen Beschwerden glaubhaft sei, gelte dies nicht für das beklagte Ausmaß. Die Klägerin könne vollschichtig körperlich leichte bis mittelschwere und geistig mittelschwere Tätigkeiten ausüben. Arbeiten sollten in wechselnder Körperhaltung, im Innenbereich und in Tagschicht ausgeübt werden. Arbeiten mit hohem Anspruch an die Feinmotorik der Hände seien nicht mehr möglich. Es sei von einem gleichbleibenden Krankheitsbild auszugehen. Die Klägerin habe einen hohen Versorgungswunsch, der einer psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Behandlung im Wege stehe. Es bestehe Übereinstimmung mit den Gutachten von Dr. N und Dr. G.

Dr. R hat ausgeführt, im Vordergrund stehe eine Schmerzerkrankung des Halte- und Bewegungsapparates. Entzündlich-rheumatologische Erkrankungen seien nie bestätigt worden. Im Bereich der Wirbelsäule hätten sich Druckschmerzen bei weitgehend freier Beweglichkeit gezeigt. Bei pseudoradikulären Beschwerden seien schwere und haltungskonstante Tätigkeiten zu vermeiden. Im Februar 2020 seien bei einem Skiunfall eine Verletzung der Bänder und ein geringer Knorpelschaden eingetreten. Rechtsseitig bestehe ein geringes Streckdefizit. Der Heilungsverlauf sei zeitgerecht, wobei die therapeutischen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft würden. Die Klägerin schildere einen geregelten, selbstbestimmten und weitestgehend aktiven Tagesablauf mit Hilfestellungen bei Haushaltstätigkeiten durch den Lebensgefährten. Ein sozialer Rückzug sei nicht festzustellen. Es bestehe eine deutliche Diskrepanz zwischen diesen Alltagsaktivitäten und der geschilderten Beeinträchtigung. Gleiches gelte für den Vergleich der im Funktionsfragebogen Hannover (FFbH) angegeben Beeinträchtigung und den Möglichkeiten der Klägerin in der Untersuchungssituation bei nur wenigen funktionellen Einschränkungen im Bereich des Halte- und Bewegungsapparates. In der Regel begründe ein Fibromyalgiesyndrom keine Einschränkung für körperlich leichte Tätigkeiten. Im konkreten Fall könne die Klägerin noch vollschichtig leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten, wobei Tätigkeiten in Haltungskonstanz, Gerüst- und Leiterarbeiten, Arbeiten im Freien, Nachtschichttätigkeiten und Arbeiten mit hohen Anforderungen an die Feinmototrik zu vermeiden seien. Die Fibromyalgieerkrankung lasse sich ab 2009 nachweisen, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule ab 2015, aktuell sei das Knieleiden hinzugetreten, bei dem allerdings mit zeitnaher Besserung zu rechnen sei. Abgesehen von leichten Unterschieden in den qualitativen Einschränkungen bestehe mit den Gutachten aus dem Verwaltungsverfahren Übereinstimmung.

Das Sozialgericht hat die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört und die Klage mit Gerichtsbescheid vom 28.07.2020 abgewiesen. Die Klägerin könne noch körperlich leichte und geistig mittelschwere Tätigkeiten ausüben bei qualitativen Einschränkungen entsprechend der eingeholten Gutachten. Der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bedürfe es nicht. Es lägen weder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor.

Am 31.07.2020 hat die Klägerin ergänzend vorgetragen und auf ihre umfangreiche Behandlungsgeschichte verwiesen, am 25.08.2020 hat sie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt, was das Sozialgericht abgelehnt hat.

Am 03.08.2020 ist dem Bevollmächtigten der Klägerin versehentlich nur ein Entwurf des Gerichtsbescheides zugestellt worden. Nach dessen Rückforderung ist dem Bevollmächtigten der Klägerin am 06.10.2020 die Endfassung des Gerichtsbescheids vom 28.07.2020 zugestellt worden.

Am 03.09.2020 hat die Klägerin Berufung eingelegt. Sie begehre eine Rente wegen Erwerbsminderung ab August 2011, spätestens ab März 2016. Sie hat weitere Unterlagen, insbesondere zu Arbeitsunfähigkeitszeiten, vorgelegt und ihr Vorbringen aus dem Klageverfahren wiederholt und vertieft. Die bestehenden Erkrankungen verstärkten sich gegenseitig. Die Beweislast liege bei der Beklagten. Es liege eine schwere Form der Fibromyalgie vor, die nicht heilbar und kaum durch Behandlungen zu beeinflussen sei. Leitliniengemäß habe sie zuletzt vermehrt Eigentraining wahrgenommen. Wegen der Corona-Pandemie und besserer Verträglichkeit des südlichen Klimas habe sie 2020-2021 vier Kreuzfahrten durchgeführt und dabei Wellness- und Fitnessangebote wahrgenommen. Da rechtzeitig mündliche Verhandlung beantragt worden sei, müsse der Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückverwiesen werden.

Die Klägerin beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 28.07.2020 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 07.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.09.2018 zu verurteilen, ihr ab August 2011, spätestens ab März 2016 eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte trägt vor, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen lägen weiterhin vor. Die Beweislast für eine Erwerbsminderung liege bei der Klägerin. Die zahlreichen Arbeitsunfähigkeitszeiten seien nicht ausreichend. Aus den vom Senat eingeholten Behandlungsunterlagen ergebe sich nichts Gegenteiliges.

Der Senat hat ergänzende Befundberichte von Dr. K, Dr. D und Dr. C sowie eine ergänzende Stellungnahme von Dr. U eingeholt. Dr. C hat ausgeführt, die Klägerin sei bei ihm seit seinem letzten Bericht aus März 2019 nicht mehr vorstellig gewesen. Dr. D hat angegeben, es sei keine Besserung festzustellen. Dr. K hat vollschichtig leichte Tätigkeiten im Wechsel zwischen Sitzen und Laufen bei Vermeidung des Hebens und Tragens von Lasten über 15kg für möglich gehalten. Der Sachverständige Dr. U hat zu den Befundberichten in seiner ergänzenden Stellungnahme ausgeführt, diese führten zu keiner abweichenden Beurteilung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten des vorliegenden Verfahrens, die Gerichtsakten des beigezogenen Verfahrens S 31 R 635/17 und die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, deren jeweiliger wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Statthaftes Rechtsmittel gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 28.07.2020 ist die Berufung. Gemäß § 105 Abs. 2 Satz 1-2 SGG können die Beteiligten innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids das Rechtsmittel einlegen, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte. Ist die Berufung nicht gegeben, kann mündliche Verhandlung beantragt werden. Hier wird um Rentenleistungen für mehr als ein Jahr gestritten, so dass es bei der grundsätzlichen Statthaftigkeit der Berufung gemäß § 143 SGG bleibt. Die ausnahmsweise Beschränkung nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG greift schon wegen des wirtschaftlichen Werts der begehrten Rente nicht. Im Übrigen wird diese Ausnahmevorschrift von § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG verdrängt. Ist die Berufung statthaft, ist der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht nicht statthaft gewesen. Dass er gleichwohl gestellt worden ist, hindert den Senat nicht daran, über die statthafte Berufung zu entscheiden (Burkiczak, in: jurisPK-SGG, § 105 SGG (Stand: 26.07.2022) Rn. 143, 149).

Der Zulässigkeit der Berufungseinlegung am 03.09.2020 steht nicht entgegen, dass das Sozialgericht zunächst nicht die endgültige Fassung des Gerichtsbescheides vom 28.07.2020 übersandt hat. Zwar ist es unzulässig, ein Rechtsmittel vor einer Entscheidung einzulegen (Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 2020, vor § 143 Rn. 3c). Hier hatte das Sozialgericht aber am 28.07.2020 bereits eine Entscheidung getroffen und deren Ergebnis durch die Übersendung der vorläufigen Fassung auch bereits verlautbart (vgl. hierzu Keller, a.a.O., vor § 143 Rn. 3c, § 133 Rn. 2a).

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, da diese zwar zulässig, aber unbegründet ist. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, da diese rechtmäßig sind. Sie hat keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung.

Gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie 1. teilweise erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. § 43 Abs. 2 SGB VI regelt die Rente wegen voller Erwerbsminderung. Volle Erwerbsminderung liegt vor, wenn die Versicherten wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Nach dem Gesamtergebnis der Beweisaufnahme ist der Vollbeweis einer auch nur teilweisen Erwerbsminderung nicht erbracht und zwar selbst dann, wenn maßgeblich ein Zeitraum ab August 2011 sein sollte.

Im Vordergrund des Krankheitsbildes der Klägerin stand und steht eine chronische Schmerzerkrankung, teils als Fibromyalgie, teils als somatoforme Schmerzstörung, teils als chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Anteilen diagnostiziert. Eine weitergehende Differenzierung ist nicht geboten, weil bei der rentenrechtlichen Prüfung einer Erwerbsminderung nicht die Diagnosen, sondern die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen im Vordergrund stehen.

Daneben leidet die Klägerin an keiner dauerhaften somatischen oder psychischen Krankheit, die für die Frage einer quantitativen Leistungseinschränkung von Relevanz wäre.

Die Knieverletzung beim Skiunfall 2020 war nach den überzeugenden Ausführungen von Dr. R als Behandlungsleiden anzusehen. Zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. R bestand schon nur noch ein leichtes Streckdefizit bei ansonsten zeitgerechtem Heilungsverlauf und zu erwartender baldiger Besserung unter adäquater Behandlung. Im Bereich der Wirbelsäule bestehen zwar degenerative Veränderungen sowie eine Bandscheibenvorwölbung im Bereich der LWS. Dr. R konnte aber insgesamt nur wenige funktionelle Einschränkungen des Halte- und Bewegungsapparates feststellen. Höhergradige orthopädische Erkrankungen sind auch sonst in der Akte nicht dokumentiert. Neurologisch ist ein essentieller Tremor der Hände diagnostiziert, der nach den überzeugenden Ausführungen von Dr. U leichtgradig ist. Eine entzündlich-rheumatische Erkrankung ist zu keinem Zeitpunkt objektiviert worden.

Eine Depression wurde zu Beginn der Behandlungen im Zusammenhang mit der Schmerzerkrankung vereinzelt diagnostiziert, so etwa während der psychiatrischen Behandlung in C1 2009/2010 und vom Gutachter im Verfahren um die private Berufsunfähigkeitsversicherung Dr. P 2013. Aus dieser Zeit finden sich aber auch Behandlungsunterlagen, in denen eine psychiatrische Diagnose nicht erwähnt wird, etwa in denen über die Rehabilitationsmaßnahme in B 2009 oder im Bericht der Neurologen und Psychiater Dres. H vom 01.09.2009. Im Bericht der Klinik C1 heißt es zudem, dass im Verlauf die Schmerzerkrankung im Vordergrund gestanden habe. Der im Verwaltungsverfahren gehörte Gutachter Dr. D, der auch über die Zusatzbezeichnung Psychotherapie verfügt, stellte die Diagnose einer Depression nicht. Der psychiatrische Sachverständige Dr. U hat eine depressive Erkrankung ausdrücklich verneint. Eine spezifisch neurologisch-psychiatrische Behandlung wird nicht durchgeführt.

Die im Vordergrund stehende chronische Schmerzerkrankung ist zweifellos eine erhebliche Erkrankung. Es lässt sich jedoch nach umfangreicher Sachaufklärung nicht in dem erforderlichen Vollbeweis feststellen, dass sie zu einer relevanten quantitativen Leistungsminderung für zumindest körperlich leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt führt, wobei der Klägerin nach den übereinstimmenden Einschätzungen der Sachverständigen sowohl aus dem Verwaltungsverfahren als auch aus dem gerichtlichen Verfahren sogar bis zu mittelschwere körperliche Tätigkeiten zumutbar sind. In dieser Bewertung stimmen die von der Beklagten beauftragten Gutachter, zu denen mit Dr. N ein ausgewiesener Schmerzmediziner gehörte, und die vom Gericht beauftragten Sachverständigen überein. Dabei wurde das zentrale Leiden gerichtlicherseits sowohl von neurologisch-psychiatrischer als auch orthopädisch-rheumatologischer Seite überprüft.

Der Feststellung einer quantitativen Leistungsminderung steht insbesondere entgegen, dass die Klägerin in den Begutachtungssituationen funktionell kaum eingeschränkt erschien. Passend hierzu zeigt sich eine intakte Alltagsgestaltung mit weitgehend selbständiger Haushaltsführung, sozialen Kontakten und Freizeitaktivitäten, u.a. in Gestalt von Sport und zahlreichen Urlaubsfahrten. Gleichzeitig fielen eine Beschwerdebetonung (Dr. N), ein appellativ-demonstratives Klagen (Dr. R) und ein hoher Versorgungswunsch (Dr. U) auf.

Auch in den ersten Jahren nach Auftreten der Schmerzerkrankung wurde die Klägerin für erwerbsfähig gehalten. Aus der orthopädisch ausgerichteten Rehabilitationsmaßnahme 2007 wurde sie sogar als vollschichtig leistungsfähig für den Beruf der Konditorin entlassen, in der Reha-Klinik in B wurde in einem Fragebogen eine nur leichte Einschränkung im Alltag angegeben und wurden von der Klinik leichte bis mittelschwere Tätigkeiten als zumutbar angesehen. Der von der A Lebensversicherung beauftragte orthopädische Gutachter Dr. Z hielt die Klägerin 2010 zwar für 80% berufsunfähig bezogen auf den Beruf der Konditorin, körperlich leichte Tätigkeiten seien aber vollschichtig möglich.

Das Gutachten von Dr. P 2013 beschreibt im Vergleich eine stärkere Beeinträchtigung der Klägerin, etwa wenn kognitive Störungen angegeben werden. Eine Aussage zur Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wird aber nicht getroffen. Die beschriebene kognitive Störung ließ sich im Übrigen im hiesigen Verfahren nicht reproduzieren.

Die behandelnden Ärzte haben sich im Klage- und Berufungsverfahren überwiegend nicht zur Erwerbsfähigkeit geäußert. Dres. K/S haben immerhin in beiden Instanzen eine körperlich leichte Tätigkeit für möglich gehalten.

Die bestehenden Erkrankungen führen allerdings zu qualitativen Einschränkungen. So ist eine Haltungskonstanz zu vermeiden, ebenso Belastungen im Knien, Hocken und Bücken, Gerüst- und Leiterarbeiten, Arbeiten außerhalb geschlossener Räume, Nachtschichttätigkeiten sowie Arbeiten mit hohem Anspruch an die Feinmotorik.

Da sowohl die Gutachter im Verwaltungsverfahren als auch die Sachverständigen im Gerichtsverfahren nicht nur leichte, sondern leichte bis mittelschwere Tätigkeiten für möglich halten, ist die Prüfung einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung entbehrlich (Freudenberg, in: jurisPK-SGB VI, § 43 (Stand: 01.04.2021) Rn. 211).

Beide Fallgruppen liegen aber auch unabhängig von der Entbehrlichkeit ihrer Prüfung nicht vor und zwar auch nicht angesichts der häufigen Arbeitsunfähigkeitszeiten. Zwar ist „ein ‚vernünftig und billig denkender‘ Arbeitgeber… in der Regel nicht bereit, Arbeitnehmer einzustellen, die voraussichtlich so häufig im Laufe eines Kalenderjahres arbeitsunfähig erkranken werden, dass ihre Arbeitsleistung den Mindestanforderungen nicht mehr entspricht.“ Das soll jedenfalls dann der Fall sein, „wenn der Versicherte die Arbeitsleistung für einen Zeitraum von mehr als 26 Wochen im Jahr gesundheitsbedingt nicht mehr erbringen kann“ (Freudenberg, a.a.O., Rn. 226 m.w.N.). Angesichts der Feststellungen der Sachverständigen ist aber gerade nicht ersichtlich, dass eine solche gesundheitsbedingte Einschränkung der Arbeitsleistung vorliegt oder zu befürchten steht. Allein der Umstand, dass von den behandelnden Ärzten über Jahre und bis zuletzt Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt worden sind, ist nicht mit dem tatsächlichen Vorliegen eines solchen Zustandes gleichzusetzen (vgl. Freudenberg, a.a.O., Rn. 227 a.E.; Schleswig-Holsteinisches LSG vom 13.1.2015 – L 7 R 103/13, Rn. 35, juris; LSG Rheinland-Pfalz vom 8.8.2017 – L 6 R 245/16, Rn. 23, juris). Zu den vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen weist der Senat darauf hin, dass diese jedenfalls in Teilen, etwa wenn sie wegen HNO-ärztlicher Erkrankungen wie einer Sinusitis ausgestellt worden sind, keinen Bezug zu der im Vordergrund stehenden Schmerzerkrankung haben und kein Anhaltspunkt für dadurch zu erwartende häufige Ausfallzeiten besteht. Unklar bleibt zudem jeweils, im Hinblick auf welche berufliche Tätigkeit Arbeitsunfähigkeit angenommen wurde. Schließlich kann das kontinuierliche Geltendmachen von Arbeitsunfähigkeit bei den behandelnden Ärzten durch die Klägerin, ohne dass es darauf tragend noch ankäme, zumindest auch durch das festgestellte Rentenbegehren und die spätestens ab 2010 geführten Verfahren um die private Berufsunfähigkeitsrente und die Erwerbsminderungsrente erklärt werden.

Ein Anspruch auf Rentenleistungen wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil die Klägerin nicht, wie in § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI vorausgesetzt, vor dem 02.01.1961 geboren ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht. Der Senat musste die tatsächlichen Umstände des konkreten Einzelfalls würdigen.

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