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Voraussetzungen für Verletztenrente aufgrund Arbeitsunfall

Landessozialgericht Hamburg – Az.: L 2 U 34/20 – Urteil vom 18.05.2022

1. Die Berufung wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt aufgrund der Folgen seines Arbeitsunfalles vom 6. Juli 2011 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 20 v. H.

Der am xxxxx 1975 geborene Kläger erlitt als Busfahrer am 6. Juli 2011 einen Arbeitsunfall, als er mit seinem Bus in einen Verkehrsunfall mit einem Feuerwehrauto verwickelt wurde. Dabei fuhr das Einsatzfahrzeug von links seitlich in den vom Kläger gelenkten Bus. Der Durchgangsarzt Dr. K. diagnostizierte eine Kopfplatzwunde an der Augenbraue sowie eine Schulterprellung und oberflächliche Prellungen in der Lumbalregion.

Am 13. Juli 2011 stellte sich der Kläger das erste Mal bei dem Diplom-Psychologen M. vor. Er berichtete unter anderem, dass er kurz nach dem Unfall gesehen habe, wie versucht worden sei, einen der Fahrgäste noch zu reanimieren, der aber dann doch verstorben sei. Er habe das Blut gesehen. Den zweiten Toten, eine Frau, habe er nicht gesehen, denke aber immer wieder darüber nach, wer sie war und warum sie bei ihm gewesen sei. Der Kläger habe über zwei große Probleme geklagt. Das eine Problem sei das Hören von Signalhörnern, was ihn sofort an den Unfall erinnere. Auch bremse er mit, wenn er mit seiner Frau fahre, was er bisher nicht getan habe. Das zweite große Problem sei, dass er immer wieder an die Menschen denken müsse, die mit ihm gewesen seien. Weiterhin habe der Kläger „in Ruhe Unruhe“ und Schmerzen beklagt. Der Kläger sei durchgängig kontaktfähig und dem Sprecher meist zugewandt gewesen. In Bezug auf Merkfähigkeit und Denkverhalten ließen sich keine gravierenden Auffälligkeiten beobachten, bis auf eine Tendenz zu negativen Gedankeninhalten, Katastrophisierung und Selbstvorwürfigkeit. Auch der Antrieb sei unauffällig gewesen. Der Kläger habe insgesamt psychisch labil gewirkt. Der Diplom-Psychologe stellte eine Restsymptomatik einer akuten Belastungsstörung fest. Inwieweit eine Anpassungsstörung oder eine posttraumatische Belastungsstörung vorlägen, könne noch nicht eingeschätzt werden.

Der Psychiater Dr. C. erklärte in seinem Befundbericht vom 3. November 2011, dass diagnostisch eine leichte Anpassungsstörung nach einer Unfallsituation vorliege. Es bestünden im formalen Denken eine geringfügige Einengung auf die ungeklärte Rechtssituation nach dem Unfall, inhaltliche Unsicherheit und leichte Ängste bezüglich der bevorstehenden beruflichen Wiedereingliederung. Der psychische Befund sei im Wesentlichen unauffällig gewesen.

Die Fachärztin für Orthopädie Dr. S. erklärte in ihrem Bericht vom 3. November 2011, dass aus unfallchirurgischer Sicht keine MdE verbleibe. Es bestehe nur noch ein Zustand nach Schulterprellung mit Bewegungs- und Belastungseinschränkung der linken oberen Extremität.

Der Diplom-Psychologe M. erklärte in seinem Bericht vom 16. Dezember 2011, dass bei dem Kläger eine Anpassungsstörung vorliege. Weiterhin bestehe eine Tendenz zu negativen Gedankeninhalten, Katastrophisierung und Selbstvorwürfigkeit, diese seien jedoch deutlich rückläufig. Im Übrigen sei der Kläger durchgängig kontaktfähig, motiviert und kooperativ. In einem weiteren Bericht vom 16. April 2012 berichtete Herr M. von einer weiteren Stabilisierung des Klägers. Es sei weiterhin von einem positiven Verlauf auszugehen.

Mit psychiatrischem Befundbericht vom 11. Mai 2012 berichtete Dr. C., dass es bei dem Kläger zu einer massiven Verunsicherung durch eine Mitte Februar erschienene Veröffentlichung in der B.-Zeitung zu dem bevorstehenden Prozess gekommen sei. Zudem komme es immer wieder zu kleineren Zwischenfällen durch Vorbeifahrt von Einsatzwagen mit Blaulicht und Martinshorn, Verunsicherung durch schreiende Kinder im Bus, welche den Kläger kurzzeitig verunsicherten, welches er aber durchaus kompensieren könne. Bei der letzten Vorstellung am 16. März 2012 sei der psychische Befund im Wesentlichen unauffällig gewesen. Es bestünden weiterhin leichte Ängste bezüglich immer wieder auftauchender belastender Situationen während der Arbeit und Angst davor, von Fahrgästen erkannt und angesprochen zu werden. Diagnostisch liege nach wie vor eine Anpassungsstörung nach Unfallsituation vor.

Der Chirurg K1 erklärte in einem Zusammenhangsgutachten vom 29. August 2012, dass auf unfallchirurgischem Gebiet keine rentenberechtigenden Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit eingetreten seien. Es bestehe noch ein Muskelhartspann linksseitig im Schulter-Nackenbereich bei persistierender Schmerzhaftigkeit nach Schulterprellung links.

Im Rahmen eines psychologischen Zusammenhangsgutachtens von Dr. C. vom 5. November 2012 kam dieser zu dem Ergebnis, dass eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund fehlender Kriterien zu keinem Zeitpunkt der Untersuchung des Klägers vorgelegen habe. Es liege eine Anpassungsstörung nach schwerwiegender Unfallsituation vor. Er äußerte die Auffassung, dass auch die nach dem Unfall aufgetretenen Belastungen wie die Gerichtsverfahren und die Angst vor weiterer Berufsausübung nicht unfallunabhängig zu betrachten seien. Unfallunabhängige Faktoren hätten keine wesentliche Rolle gespielt, wie zum Beispiel die unberechtigte Anschuldigung in der Presse und durch die Rechtsvertreter des Feuerwehrmanns, welcher gefahren sei. Die Anpassungsstörung bestehe insofern noch, da der Kläger durch bestimmte und auch allgemeine Irritationen während seiner Berufstätigkeit (Hören eines Martinshorns, direktes Zusammentreffen mit Rettungswagen, aber auch nicht schließende Türen in seinem Bus, tobende Kinder im Bus und die Furcht vor dem Erkanntwerden durch Fahrgäste oder Nachbarn) kurzzeitig destabilisiert werde. Durch das Erlernte in der Psychotherapie und aus der akutpsychiatrischen Behandlung sei der Kläger in der Lage, mit diesen Irritationen angemessen und schnell genug umzugehen, so dass sie ihn in seiner Funktionsfähigkeit nicht mehr wesentlich beeinträchtigten. Für die Zeit ab dem 13. Dezember 2011 sei von einer MdE in Höhe von 20 v. H. bis zum 30. September 2012 auszugehen. Die ganze Situation habe sich erst mit dem Gerichtsurteil deutlich entschärft, auch wenn eine gewisse Anspannung durch die Möglichkeit eines Berufungsverfahrens bestehen geblieben sei. Der psychische Befund zeige sich im Wesentlichen unauffällig, Aufmerksamkeit, Auffassung, Konzentration und mnestische Leistungen seien ungestört. Im formalen Denken anhaltende Einengung auf die Ängste vor unvorhersehbaren Gefahrensituationen als Busfahrer und dem Wunsch, eigentlich lieber den Beruf wechseln zu wollen. Der Affekt sei ausgeglichen bis auf die immer wieder geäußerten Ängste, die Schwingungsfähigkeit sei erhalten. In der Psychomotorik unruhig, leichte Antriebssteigerung.

Eine Neufassung des Gutachtens enthielt Zusätze dazu, dass die erlebten Traumata in Afghanistan sich nicht auswirken würden.

Ein erneuter Kontakt zu dem Diplom-Psychologen M. erfolgte nach längerer Unterbrechung am 9. Dezember 2012. Dem Kläger sei es nicht gelungen, allein zurecht zu kommen. Von Herrn Dr. C. habe er sich verabschiedet, nicht aber von Herrn M.. Es habe ihn enttäuscht, dass er sich überschätzt habe und Schmerzen habe. Verletzt habe ihn auch, dass seine beklagten Symptome nichts mit dem Unfall zu tun haben sollten, wie es ihm von verschiedenen Stellen gesagt worden sei.

Die Beklagte erließ am 22. Januar 2013 einen Bescheid über Rente für zurückliegende Zeit nach einer MdE von 20 v. H. für den Zeitraum vom 13. Dezember 2011 bis zum 30. September 2012. Als Folgen des Versicherungsfalles erkannte die Beklagte eine vorübergehende Herabsetzung der psychischen Belastbarkeit bei inzwischen abgeklungener Anpassungsstörung nach schwerwiegender Unfallsituation sowie eine mittlerweile abgeklungene Herabsetzung der Beweglichkeit und Belastbarkeit im linken Schultergelenk nach schwerer Schulterprellung links an. Nicht als unfallbedingt erkannte die Beklagte eine Bandscheibenerkrankung im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule sowie Verschleißzeichen im Bereich der Brust- und Lendenwirbelsäule an.

Dr. C. berichtete mit Schreiben vom 26. Juni 2013, dass bei dem Kläger weiterhin von dem Vorliegen einer Anpassungsstörung nach schwerer Unfallsituation auszugehen sei. Im formalen Denken bestehe eine wieder stärker gewordene anhaltende Einengung auf die Ängste vor unvorhersehbaren Gefahrensituationen als Busfahrer, eine Einengung auch insofern, dass er ohne therapeutische Unterstützung kaum in der Lage sei, Alternativideen zu entwickeln. Der Kläger zeige sich auch gequält durch unfallbedingte Schlafstörungen verbunden mit dem Gefühl der Perspektivlosigkeit.

Mit weiterem Befundbericht vom 27. Dezember 2013 erklärte Dr. C., dass der Kläger sich affektiv wieder destabilisiert zeige, bei nahezu aufgehobener Schwingungsfähigkeit und Phasen von Affektinkontinenz. Weiterhin bestehe eine ausgeprägte Einengung auf die Ängste vor unvorhersehbaren Gefahrensituationen als Busfahrer. Diagnostisch sei weiterhin von einer Anpassungsstörung nach schwerwiegender Unfallsituation auszugehen. Dr. C. attestierte dem Kläger im Februar 2014 erneut Arbeitsunfähigkeit wegen Flashbacks und Schlafstörungen. Er verschrieb ihm ein Schlafmittel, mit dem kein Bus gefahren werden durfte.

Am 13. April 2014 erlitt der Kläger einen Herzinfarkt im Sinne eines ausgeprägten ST-Hebungs-Infarktes der Vorderwand bei 1-Gefäß-koronarer Herzkrankheit mit 100% Coronar-Arterien-Verschluss. Am 29. Juli 2014 beantragte der Kläger die Anerkennung des Herzinfarktes als Unfallfolge.

Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. L. erklärte in seinem nervenärztlichen Gutachten vom 30. Januar 2015, dass der Kläger als Folge der Traumatisierung vom 6. Juli 2011 eine gut und lückenlos dokumentierte, allzeit nur als mäßig ausgeprägt zu bezeichnende Anpassungsstörung entwickelt habe, die jetzt aber mittlerweile abgeklungen sei und keine relevante funktionelle Behinderung mehr bedinge. Im Antrieb und in der Psychomotorik sei der Kläger leicht zurückgenommen, in der Affektivität allenfalls diskret hintergründig verunsichert.

Dr. S1 wies in seinem internistischen Gutachten vom 2. April 2014 darauf hin, dass der erlittene Herzinfarkt nicht mit dem Unfallgeschehen vom 6. Juli 2011 in Zusammenhang gebracht werden könne. An möglichen Ursachen für das Eintreten eines Herzinfarktes aufgrund eines Arbeitsunfalls würden Thoraxschädigungen genannt sowie herzferne Einwirkungen, wie zum Beispiel Blutungsanämien und Lungenembolien, körperliche Anstrengungen und psychische Belastungen. Allerdings werde gefordert, dass ein gewisser zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Eintritt des Herzinfarktes vorliege. So werde ausgeführt, dass beim Fehlen von Hinweisen auf Unfallfolgen am Herzbereich bis zu einem Ablauf von 72 Stunden in der Regel kein Kausalzusammenhang angenommen werde. Allein aufgrund des zeitlichen Verlaufes sei ein Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis im Jahre 2011 und dem im Jahre 2014 eingetretenen Herzinfarkt nicht herzustellen.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 5. Mai 2015 die Feststellung eines Herzinfarktes als Folge des Versicherungsfalles ab. Ebenso lehnte sie eine Bandscheibenerkrankung im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule sowie Verschleißzeichen im Bereich der Brust- und Lendenwirbelsäule ab. Sie erkannte dabei eine abgeklungene Anpassungsstörung an. Im Wesentlichen bezog sich die Beklagte auf die Ausführungen der Gutachter im Verwaltungsverfahren.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und wies darauf hin, dass den Gutachten von Dr. L. und Dr. S1 in wesentlichen Punkten nicht zu folgen sei. Es werde zur Beachtung gegeben, dass Dr. C. allein die aus den psychischen Störungen resultierende MdE mit 20 bis 30 v. H. bewerte. Daher werde vom Kläger nicht zuletzt die Zahlung einer Verletztenrente begehrt.

Herr M. gab in seinem Bericht vom 31. Mai 2015 an, dass die Diagnose von einer Anpassungsstörung auf die Restsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung geändert werden sollte. Hierfür sprächen die Angespanntheit, die durch Medikamente nur bedingt reduzierte Alertness, die als akustische Flashbacks zu wertenden Sirenengeräusche und die durch reale Sirenen ausgelösten Angstreaktionen.

Mit psychiatrischem Bericht vom 8. Juni 2015 erklärte Dr. C., dass den Ausführungen von Dr. L. nicht gefolgt werden könne. In Übereinstimmung zu dem Bericht des Psychologen M. vom 31. Mai 2015 erachte er die ausgeprägte Symptomatik bei deutlich erhöhtem Anspannungsniveau, dauerhafter vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung und übermäßiger Schreckhaftigkeit, dauerhaften Ängste vor einem weiteren Unfall, Ängste vor den Nächten, Ängste vor der Zukunft, Gereiztheit, mit dem Gefühl, seiner Familie, vor allem seinen Söhnen, nicht mehr gerecht zu werden, als schwerwiegende psychische Unfallfolge und Restbeschwerden einer posttraumatischen Belastungsstörung. Diese Symptomatik liege in unterschiedlicher Ausprägung seit dem Unfallgeschehen dauerhaft vor. Eine nachhaltige und tragfähige Besserung sei bisher durch die nach wie vor offenen juristischen Auseinandersetzungen, durch die schwierige berufliche Situation, durch die körperlichen Beschwerden, durch das Herz- und Rückenleiden, für welche der Kläger einen Unfallbezug sehe, durch die nahezu täglichen Triggerungen durch das Hören von Sirenen und nicht zuletzt durch die unregelmäßige Inanspruchnahme der aus seiner Sicht dringend notwendigen, regelmäßig zu erfolgenden Psychotherapie verhindert worden. Diagnostisch liege eine Anpassungsstörung mit einer deutlichen Teilsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung nach schwerwiegender Unfallsituation vor. Er sehe eine MdE von mindestens 20, wenn nicht gar von 30 v. H. auf psychiatrischem Fachgebiet als gegeben an.

Dr. S1 erklärte in einer ergänzenden Stellungnahme vom 13. November 2015, dass unter Berücksichtigung der Erkenntnisse bezüglich der Entwicklung einer koronaren Herzerkrankung es als nicht wahrscheinlich anzusehen sei, dass eine koronare Herzerkrankung sich erst nach dem Unfallereignis entwickelt habe. Ein Zeitraum von drei Jahren sei nicht als ausreichend anzusehen, um zu einem derartigen Krankheitsereignis zu führen. Die führende Ursache einer koronaren Herzerkrankung sei die Arterienverkalkung. Im Falle des Klägers könne sicherlich das Unfallereignis nicht als Ursache für die Entstehung der koronaren Herzerkrankung und dem daraus resultierenden Herzinfarkt gesehen werden. Außerberufliche Risikofaktoren seien überdies anzunehmen. Der Versicherte habe seit dem Herzinfarkt 14 kg abgenommen. Er habe zum Zeitpunkt der gutachterlichen Untersuchung bei einer Körpergröße von 1,72 m noch 92 kg gewogen. Dies würde bedeuten, dass er zum Zeitpunkt des Eintritts des Herzinfarktes deutlich übergewichtig gewesen sei.

Im Rahmen eines psychologischen Kurzberichtes vom 31. Januar 2016 erklärte der Diplom-Psychologe M., dass sich in Bezug auf Merkfähigkeit und Denkverhalten keine gravierenden Auffälligkeiten beobachten ließen, bis auf eine Tendenz zu negativen Gedankeninhalten. Der Antrieb sei verlangsamt, die affektive Resonanz unauffällig.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28. April 2016 zurück und bezog sich insbesondere auf die Ausführungen der angehörten Gutachter im Verwaltungsverfahren.

Der Kläger hat am 30. Mai 2016 Klage beim Sozialgericht Hamburg erhoben und vorgetragen, der Umstand, dass der Gutachter Dr. L. die entsprechenden Befunde von Dr. C. nicht festgestellt habe, sei nicht geeignet, die von dem Gutachter Dr. C. getroffenen Feststellungen infrage zu stellen. Auch die hinsichtlich der Verursachung des Herzinfarktes von dem Gutachter Dr. S1 getroffenen Feststellungen müssten bezweifelt werden. Der Kläger hat auf eine neue Studie vom Helmholtz Zentrum München auf Basis einer zehnjährigen Forschung an 3428 Männern hingewiesen. Danach bestehe für Männer mit Depressionen ein ähnlich großes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie es durch hohe Cholesterinwerte oder Fettleibigkeit verursacht werde.

Die Beklagte hat ausgeführt, dass die bloße Möglichkeit, sich einen Zusammenhang vorstellen zu können, nicht den Beweisanforderungen der gesetzlichen Unfallversicherung genüge, zumal, wenn diesen Vorstellungen ein fundiertes Zusammenhangsgutachten eines psychiatrischen Facharztes, hier Dr. L., entgegenstehe. Hinsichtlich der Herzbeschwerden des Klägers gelte dasselbe. Mit der Formulierung ausgeprägte Anpassungsstörung als Folgezustand einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung setze sich Dr. C. selbst in Widerspruch zu früheren Äußerungen in seinem Gutachten vom 26. November 2012, in welchem er lediglich von einer Anpassungsstörung bzw. deren Restsymptomatik gesprochen habe.

Das Gericht hat diverse Befundberichte und ein psychiatrisch-neurologisches Gutachten von Dr. N. vom 19. Oktober 2017 eingeholt. Dr. N. hat darauf hingewiesen, dass die Schilderung der Vorgeschichte, der biografischen Anamnese, aber auch der Unfallschilderung durch den Kläger ohne vegetative katastrophisierende Reaktionen, ohne Affektstürme und in angemessener Ausführlichkeit vorgetragen worden seien. Lediglich bei der Darstellung des Unfallgeschehens sowie Schilderung von Nachhallerinnerungen zeige sich eine diskrete vegetative Begleitsymptomatik, einhergehend mit kurzzeitiger, aber rasch stabilisierender Affektlabilität. Darüberhinausgehend fänden sich keine Affektstürme, keine ausgeprägte Affektlabilität, keine Affektinkontinenz und keine Parathymie. Pathologische Ängste prägten den psychopathologischen Befund zu keinem Zeitpunkt. Die Antriebslage sei erhalten. Im inhaltlichen Denken zeige sich eine leicht vermehrte Beschäftigung mit depressiven Kognitionen und Schuldgefühlen. Im Rahmen der Exploration würden keine Dissoziationen erkennbar, auch nicht während der Schilderung des Unfallgeschehens, der nachfolgenden Entwicklung, den staatsanwaltschaftlichen und landgerichtlichen Ermittlungen und auch nicht in Zusammenhang mit der Schilderung des Herzinfarktes und weiterer gesundheitlicher Entwicklungen. Geschildert würden Einschlafstörungen mit Grübelneigung. Der Sachverständige hat eine leichte depressive Episode vor dem Hintergrund belastender lebensbiografischer Faktoren sowie einen Zustand nach Anpassungsstörung, welcher mittlerweile remittiert sei, diagnostiziert.

Zudem könnten die psychopathologischen Befunde die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht erhärten. Zwar sei das sogenannte A-Kriterium objektiv gegeben, die weiteren Kriterien jedoch fraglich. Fortbestehende psychische Symptome seien nicht mehr überwiegend wesentlich mit dem Unfallereignis kausal verknüpft. Das A2-Kriterium, nämlich die Reaktion mit intensiver Furcht, Gefühle von Hilflosigkeit oder Entsetzen sei nicht in dem notwendigen Ausmaß dokumentiert. Dieses Kriterium sei aber auch im aktuell gültigen DSM-5 verlassen worden. Das B-Kriterium, das Wiederkehren eindringlich belastender Erinnerungen, sei nicht in ausreichender Form vorhanden. Es mangele an katastrophisierenden Vegetativreaktionen und Affektstürmen in Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem Ereignis. Die Schilderung von Unwohlsein und unangenehmen Gefühlen in Zusammenhang mit der Exposition gegenüber Situationen, welche an das Ereignis erinnern könnten, reiche nicht aus, um die geforderte Intensität von Flashbacks/Intrusionen mit daraus resultierenden Veränderungen von Handeln und Fühlen zu begründen. Auch das Vermeidungskriterium sei nicht hinreichend belegt. Es komme weder zu einem bewussten Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen in Bezug auf das Trauma noch zu einem bewussten Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen wachriefen. Die Unfähigkeit, sich an wichtige Traumaaspekte erinnern zu können, lasse sich ebenfalls nicht bestätigen. Es bestehe auch kein Hinweis auf das Vorliegen von Dissoziationen, dem Gefühl von Losgelöstsein oder Entfremdung. Das D-Kriterium sei ebenfalls nicht erfüllt. Es fehlten aktuell traumaassoziierte Dyssomnie-Symptome. Hypervigilanz, übertriebene Schreckreaktionen lägen ebenfalls nicht vor.

Im Hinblick auf die beschriebene Rückenschmerz-/Nackenschmerzproblematik sei auf degenerative Veränderungen mit dokumentierten Bandscheibenschäden hinzuweisen. Die Entwicklung einer koronaren Herzkrankheit mit Vorderwandinfarkt sei ebenfalls nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallgeschehen zurückzuführen. Als kardiovaskuläre Risikofaktoren bestehe ein Übergewicht.

Nach Eintritt der Arbeitsfähigkeit sei bei dem Kläger noch eine bis Ende September 2012 bestehende Anpassungsstörung verblieben, welche vorübergehend eine unfallbedingte MdE von 20 v. H. bis 30. September 2012 begründet habe.

Ergänzend hat Dr. C. in einer Stellungnahme vom 5. Januar 2018 ausgeführt, dass der Kläger auf die Symptomatik bezogen, regelmäßig wiederkehrende dissoziative Zustände, Flashbacks und situationsbezogene oder auch frei flottierende Angstattacken zeige. Diese träten zweifelsfrei eindeutig bei unfallbezogenen Triggern auf, wie das Hören von Polizeisirenen oder Martinshörnern, dem Versicherten brenzlig erscheinenden Verkehrssituationen oder auch bei Auseinandersetzungen mit Busfahrern im Rahmen seiner Berufstätigkeit im Zentralen Omnibusbahnhof. Die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhanges der noch vorhandenen Unfallfolge, der andauernden psychischen Belastung mit massiven Belastungsspitzen, und dem Herzinfarkt könne nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Nur weil in der Untersuchungssituation keine Dissoziationen aufgetreten seien, bedeute dies nicht, dass keine Dissoziationen in belastenden Situationen stattfänden.

Dr. N. hat in einer weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 16. November 2019 erwidert, dass die vom Kläger geschilderten Symptome und unangenehmen Gefühle im Zusammenhang mit der Exposition gegenüber unfallbezogenen Triggern nicht das Ausmaß katastrophisierender Vegetativreaktionen mit eindringlich belastenden, wiederkehrenden Erinnerungen in Bildern, Gedanken oder Wahrnehmungen begründeten. Der Kläger sei eingehend psychiatrisch exploriert worden. Der Ausprägungsgrad der psychischen Störung sei gering und entspreche sicherlich nicht dem Bild einer schwerwiegenden posttraumatischen Belastungsstörung.

Schließlich hat Dr. C. in einer weiteren Stellungnahme vom 20. Januar 2020 erklärt, dass in den aktuellen Diagnosemanualen eine partielle posttraumatische Belastungsstörung als Diagnose nicht vorgesehen sei. Diesem widerspreche er nicht. Er habe nie behauptet, dass bei dem Kläger noch das Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung vorliege. Er möchte aber noch einmal darauf hinweisen, dass bei dem Kläger eine schwere Symptomatik als Unfallfolge bestehe, welche mit dissoziativen Zuständen, Flashbacks und situationsbezogenen Angstattacken, häufig ausgelöst durch unfallbezogene Trigger bestünden. Dieses werde im Übrigen auch durch den behandelnden Psychotherapeuten, dem Diplom-Psychologen M., beschrieben. Nicht die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung oder Anpassungsstörung entscheide über eine MdE-Anerkennung, sondern die Symptomatik.

Dr. N. ist als Sachverständiger in der mündlichen Verhandlung zu seinem Gutachten angehört worden. Für ihn stelle sich die Frage, ob die geschilderten Ängste einen dissoziativen Krankheitscharakter annähmen. Nach seiner Einschätzung sei dies nicht der Fall. Sollte man sich der Auffassung von Dr. C. anschließen, dass diese Symptome Krankheitswert hätten, so wäre diagnostisch eine Angststörung zu diagnostizieren. Deren Auswirkungen seien aber im Hinblick auf die MdE-Bewertung geringfügig, weil wiederholt darauf hingewiesen worden sei, dass der Kläger mit den ausgelösten Ängsten umgehen und diese kompensieren könne.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 3. September 2020 abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 v. H. aufgrund der psychischen oder anderer Folgen seines Arbeitsunfalls vom 6. Juli 2011. Der Kläger habe bei dem Unfall vom 6. Juli 2011 eine Kopfplatzwunde an der Augenbraue sowie eine Schulterprellung und oberflächliche Prellungen erlitten, welche seine Erwerbsfähigkeit auf Dauer nicht in rentenberechtigender MdE mindere. Unstreitig seien auf chirurgischem Fachgebiet keine dauerhaften Verletzungen verblieben. Ebenso könne eine rentenberechtigende MdE aufgrund verbliebener psychischer Gesundheitsstörungen, insbesondere im Rahmen einer weiterhin bestehenden Anpassungsstörung sowie „Teilsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung“ (Dr. C.) nicht festgestellt werden. Zum einen habe Dr. C. in seiner Stellungnahme vom 20. Januar 2020 selbst eingeräumt, dass bei dem Kläger nicht das Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung zu diagnostizieren sei und auch die aktuellen Diagnosemanuale eine partielle posttraumatische Belastungsstörung als Diagnose nicht vorsähen. Zum anderen lasse sich nach Auffassung der Kammer nicht feststellen, dass die von Dr. C. beschriebene schwere psychische Symptomatik, wie dissoziative Zustände, Flashbacks und situationsbezogene Angstattacken in einen Zusammenhang mit dem Unfall zu bringen seien bzw. in einem solchen Ausmaß vorlägen, dass diese Symptomatik eine rentenberechtigende MdE bedinge. Unstreitig und letztlich auch durch den Sachverständigen Dr. N. bestätigt, habe der Kläger lediglich ein ängstlich gefärbtes Verhalten bei Exposition gegenüber Triggermechanismen (z.B. Martinshörnern) beschrieben, aber ohne eine Symptomatik, die z. B. die Diagnose einer Angsterkrankung rechtfertige. Zu Recht habe der Sachverständige auf die rasche Kompensierbarkeit dieser Triggermechanismen durch den Kläger hingewiesen, ohne dass es zu weiteren objektiven Funktionsbeeinträchtigungen im Rahmen der Ausübung seiner Tätigkeit als Busfahrer gekommen sei, so dass – selbst bei möglicher Annahme einer leichten Angststörung – daraus keine messbare MdE festzustellen sei.

Insbesondere sei ein Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Jahre später erlittenen Herzinfarkt zu verneinen. Dr. S1 habe in seinem internistischen Gutachten vom 2. April 2014 überzeugend dargestellt, dass der erlittene Herzinfarkt nicht mit dem Unfallgeschehen vom 6. Juli 2011 in Zusammenhang gebracht werden könne, da weder ein erforderlicher zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten einer als extrem empfundenen plötzlichen Stresssituation (Unfallereignis) und dem Eintritt des Infarktes vorliege, noch sich eine koronare Herzerkrankung, welche dem Herzinfarkt zugrunde gelegen haben könnte, lediglich in einem Zeitraum von drei Jahren aufgrund eines psychischen Unfallereignisses entwickeln könne. Insofern verbleibe es bei der von der Beklagten anerkannten abgeklungenen Anpassungsstörung durch das Unfallereignis und einer lediglich schwach ausgeprägten und sich rasch wieder stabilisierenden Symptomatik bei im Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen stehenden Triggerungen durch Martinshörner, unklaren Verkehrslagen oder direktes Zusammentreffen mit Rettungswagen, welche für sich genommen keinen unfallbedingten und nach den einschlägigen Diagnosemanualen festzustellenden Krankheitswert darstellten.

Gegen das ihm am 8. September 2020 zugestellte Urteil hat der Kläger am 6. Oktober 2020 Berufung eingelegt. Nach einer aktuellen Studie steigere Stress über die Freisetzung von Noradrenalin die Bildung von Neutrophilen und Monozyten im Knochenmark, die dann in den Arterien die Bildung in stabilen Plaque vorantrieben. Bei dem Kläger lägen keine Risikofaktoren vor, weil er ein- bis dreimal wöchentlich Sport treibe und ein Gewicht von etwa 94 kg bei einer Körpergröße von 1,73 m habe. Der Kläger habe auch erhebliche Verletzungen in der Nacken- und Rückenregion erlitten. Er habe in diesen Bereichen keine wesentlichen Vorerkrankungen gehabt. Der Unfall sei auch Ursache für die schwerwiegende psychische Beeinträchtigung des Klägers, da eine schwere posttraumatische Belastungsstörung vorliege.

Des Weiteren verweist der Kläger auf eine Stellungnahme von Dr. C. vom 1. April 2021. Dieser führt darin aus, dass bei dem Kläger eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und der Lebensqualität als ausschließliche Folge des Unfalls vorliege. Diagnostisch lasse sich dieses im Rahmen der Begrenzungen durch die Kriterien des ICD 10 nur schwer fassen, zumal das durchaus weit verbreitete Krankheitsbild einer chronifizierten komplexen Traumafolgestörung sich im ICD 10 nicht abbilde. Es gebe keine konkurrierenden Ursachen für die Beschwerden des Klägers. Es liege nach wie vor ein Restzustand im Sinne einer andauernden Anpassungsstörung vor, in dessen Rahmen der Kläger unter Schlaflosigkeit, erhöhter Reizbarkeit und Empfindlichkeit und einer verminderten psychischen und physischen Belastbarkeit leide. So triggerten das Hören von Martinshörnern Tag wie Nacht und die Sichtung von Feuerwehr- und Polizeiwagen die Symptomatik jeweils derart, dass es häufig zum Verlust der Aufmerksamkeit und des Konzentrationsvermögens komme. So sei der Kläger nicht mehr in der Lage, als Busfahrer zu arbeiten. An freien Tagen oder in Urlaubssituationen gebe es durchaus eine gewisse Entspannung und auch Minderung der Symptomatik, die Schlafstörung liege jedoch weiter vor. Krankschreibungen nutze der Kläger kaum noch, da er Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisierung habe. Aufgrund der extremen dauerhaften psychischen Beschwerden sehe er durchaus auch einen Zusammenhang. Der Kläger stellt abschließend klar, dass es vorliegend nicht um die Bandscheibenerkrankungen, sondern um die Einstufung der psychischen Folgen des Arbeitsunfalls sowie des Herzinfarktes gehe.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 3. September 2020 und den Bescheid vom 5. Mai 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. April 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 v. H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verweist auf ihr bisheriges Vorbringen sowie hinsichtlich der Bandscheibenerkrankungen auf ihren bestandskräftigen Bescheid vom 22. Januar 2013, mit dem die Unfallunabhängigkeit der Erkrankung festgestellt worden sei. Direkt nach dem Unfallereignis sei lediglich eine Schulterprellung links sowie eine LWS-Prellung diagnostiziert worden. Außerdem habe der Kläger Vorbefunde eines Kardiologen von März 2011 eingebracht. Diesen Berichten sei zu entnehmen, dass der Kläger im März 2011 einen Kardiologen wegen Beschwerden im linken Brustkorb und im linken Arm bzw. der Schulter aufgesucht habe.

Das Verfahren ist mit Ladung vom 14. Januar 2022, der Bevollmächtigten des Klägers am gleichen Tag zugegangen, zum 9. März 2022 geladen worden. Mit Schreiben vom 9. März 2022 beantragte die Bevollmächtigte des Klägers die Aufhebung des Termins aufgrund eines grippalen Infekts. Am 15. März 2022 beantragte der Kläger die Einholung eines Gutachtens nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von Prof. Dr. N1. Die Berichterstatterin hat den Kläger darauf hingewiesen, dass die Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 SGG abgelehnt werde. Nach § 109 Abs. 2 SGG könne das Gericht einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden sei. Der Kläger habe die Ladung zum Termin am 9. März 2022 bereits am 14. Januar 2022 erhalten. Eine Aufhebung des Termins sei lediglich erfolgt, weil die Prozessbevollmächtigte kurzfristig am Sitzungstag mitgeteilt habe, dass sie an einem grippalen Infekt erkrankt sei. Eine erneute Terminierung stehe unmittelbar bevor. Dem Kläger sei daher bereits seit dem 14. Januar 2022 bekannt, dass der Senat keine weitere Beweisermittlung für erforderlich halte und habe dennoch erst nach Abladung des Termins mit mehrmonatiger Verzögerung einen Antrag nach § 109 SGG gestellt. Die Anhörung eines bestimmten Arztes würde den Rechtsstreit verzögern und sei nach Überzeugung des Gerichts aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden.

Die Bevollmächtigte des Klägers hat hierzu mit Schreiben vom 18. März 2022 Stellung genommen und vorgetragen, dass der Kläger erst in dem Telefonat über die Erkrankung der Prozessbevollmächtigten und die Notwendigkeit der Terminsverlegung am 9. März 2022 mitgeteilt habe, dass er über eine Rechtsschutzversicherung verfüge, diese aber zum 1. Februar 2016 gekündigt worden sei. Der Kläger habe zuvor gedacht, dass die Rechtsschutzversicherung die Kosten für die Berufung im Jahr 2020 nicht übernehmen würde. In dem Telefonat am 9. März 2022 sei der Kläger dann aber aufgeklärt worden, dass diese bei bereits zuvor erteilter Deckungszusage auch weiterhin das Berufungsverfahren abdecke. Die Schreiben seien dem Büro der Bevollmächtigten erst jetzt eingereicht worden und es sei unverzüglich die Rechtsschutzversicherung angeschrieben worden und der Deckungsschutz für das Berufungsverfahren und auch für das Gutachten nach § 109 SGG erteilt worden. Eine Begutachtung durch Prof. Dr. N1 sei am 23. März 2022 möglich.

Der Kläger hat ein Schreiben der E. Versicherung vom 21. Oktober 2015 eingereicht, in welcher diese die Rechtsschutzversicherung zum 1. Februar 2016 gekündigt hat. Für laufende und bis dahin eintretende Versicherungsfälle sei der Kläger selbstverständlich versichert. Des Weiteren hat der Kläger ein Schreiben der E.-Versicherung datiert auf den 9. März 2022 eingereicht, wonach der Rechtsschutz für die Rechtsmittelinstanz übernommen werde und zwar auch die Kosten für ein Gutachten nach § 109 SGG.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte, die beigezogenen Verwaltungsakten sowie die Sitzungsniederschrift vom 18. Mai 2022 ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die statthafte (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte (§ 151 SGG) Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung der angefochtenen Bescheide und Gewährung einer Verletztenrente.

Versicherte haben Anspruch auf eine Verletztenrente, wenn ihre Erwerbsfähigkeit in Folge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist (§ 56 Abs. 1 Satz 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch <SGB VII>). Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente.

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung und der Gesundheitserstschaden bzw. der Tod erwiesen sein. Dies bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden kann (BSG, Urteil vom 30. April 1985, 2 RU 43/84, BSGE 58, 80). Dagegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (BSG, Urteil vom 18. Januar 2011 – B 2 U 5/10 R, SozR 4-2700 § 200 Nr. 3). Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ist dann anzunehmen, wenn bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang spricht, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (BSG, Urteil vom 18. Januar 2011, a.a.O.).

Die MdE richtet sich gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Es ist auf den Maßstab der individuellen Erwerbsfähigkeit des Verletzten vor Eintritt des Versicherungsfalls abzustellen (BSG, Urteil vom 26. November 1987 – 2 RU 22/87, SozR 2200 § 581 Nr. 27). Maßgeblich ist aber nicht die konkrete Beeinträchtigung im Beruf des Versicherten, sondern eine abstrakte Berechnung (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 3/2017, § 56 Rn. 10.1).

Der Kläger hat unstreitig am 6. Juli 2011 einen Arbeitsunfall erlitten, als er mit seinem Bus in einen Verkehrsunfall mit einem Feuerwehrauto verwickelt wurde. Durch den Arbeitsunfall ist es zu einer Kopfplatzwunde an der Augenbraue, einer Schulterprellung, oberflächlichen Prellungen in der Lumbalregion und einer abgeklungenen Anpassungsstörung gekommen.

Der vom Kläger erlittene Herzinfarkt im Jahr 2014 ist nicht kausal auf den Arbeitsunfall zurückzuführen. Der internistische Gutachter Dr. S1 hat überzeugend ausgeführt, dass es zum einen an einem engen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und dem Herzinfarkt fehlt, so dass eine Kausalität nicht überwiegend wahrscheinlich ist. Dies steht im Einklang mit den Angaben in der Literatur, dass ein enger zeitlicher Zusammenhang von Minuten bis 24 Stunden längstens 72 Stunden nach dem Arbeitsunfall zu fordern ist (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl., S. 846, 177 f.). Zum anderen liegt bei dem Kläger aufgrund des Übergewichts eine konkurrierende Ursache vor. Ergänzend weist Dr. S1 zutreffend darauf hin, dass für die Ausbildung einer koronaren Herzkrankheit, die zu einem Herzinfarkt führt, die Zeit zwischen Arbeitsunfall und Herzinfarkt nicht ausreichend gewesen ist, so dass schon Vorschäden bestanden haben müssen.

Die ebenfalls vom Kläger geltend gemachte posttraumatische Belastungsstörung konnte nicht nachgewiesen werden. Dr. N. legt im Einzelnen schlüssig dar, dass zwar das A1-Kriterium einer posttraumatischen Belastungsstörung erfüllt ist, nicht aber die weiteren Kriterien. Bei der Darstellung des Unfallgeschehens sowie der Schilderung von Nachhallerinnerungen zeigte sich bei dem Kläger während der Untersuchung lediglich eine diskrete vegetative Begleitsymptomatik, wobei sich die Affektlabilität sofort wieder stabilisierte. Dissoziationen waren während der gesamten Untersuchung nicht erkennbar. Das A2-Kriterium, die Reaktion mit intensiver Furcht, Gefühle von Hilflosigkeit oder Entsetzen sei nicht in dem notwendigen Ausmaß dokumentiert. Das B-Kriterium, das Wiederkehren eindringlich belastender Erinnerungen, sei ebenfalls nicht in ausreichender Form vorhanden. Es mangele an katastrophisierenden Vegetativreaktionen und Affektstürmen im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem Ereignis. Die Schilderung von Unwohlsein und unangenehmen Gefühlen im Zusammenhang mit der Exposition gegenüber Situationen, welche an das Ereignis erinnern könnten, reiche nicht aus, um die geforderte Intensität von Flashbacks/Intrusionen mit daraus resultierenden Veränderungen von Handeln und Fühlen zu begründen. Auch das Vermeidungskriterium sei nicht hinreichend belegt. Es komme weder zu einem bewussten Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen in Bezug auf das Trauma noch zu einem bewussten Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen wachriefen. Die Unfähigkeit, sich an wichtige Traumaaspekte erinnern zu können, lasse sich ebenfalls nicht bestätigen. Es bestehe auch kein Hinweis auf das Vorliegen von Dissoziationen, dem Gefühl von Losgelöstsein oder Entfremdung. Das D-Kriterium sei ebenfalls nicht erfüllt. Es fehlten aktuell traumaassoziierte Dyssomnie-Symptome. Hypervigilanz, übertriebene Schreckreaktionen lägen ebenfalls nicht vor. Der den Kläger seit dem Unfall behandelnde Psychiater Dr. C. hat diese Auffassung zunächst geteilt und selbst in seinem Zusammenhangsgutachten vom 5. November 2012 erklärt, dass eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund fehlender Kriterien zu keinem Zeitpunkt bei dem Kläger vorgelegen habe, sondern lediglich eine Anpassungsstörung. Erst nachdem Dr. L. in seinem Gutachten vom 30. Januar 2015 bei dem Kläger nur eine mäßig ausgeprägte Anpassungsstörung diagnostizierte, nahm Dr. C. dahingehend Stellung, dass die beim Kläger ausgeprägte Symptomatik als psychische Unfallfolge und Restbeschwerden einer posttraumatischen Belastungsstörung zu werten seien. Nachdem auch der gerichtliche Sachverständige Dr. N. die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht erfüllt sah, sprach Dr. C. nunmehr von einer partiellen posttraumatischen Belastungsstörung. Er räumte jedoch ein, dass das Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht vorgelegen habe. Im Ergebnis stimmen damit Dr. L., Dr. N. als auch der behandelnde Arzt Dr. C. darin überein, dass die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung nach den allgemein anerkannten Diagnosekriterien nicht erfüllt sind.

Die Berücksichtigung von Bandscheibenvorfällen als Unfallfolgen verfolgt der Kläger nicht mehr. Anhaltspunkte, dass diese kausal auf dem Unfall beruhen könnten, liegen aber auch nicht vor.

Die durch den Arbeitsunfall verursachten Gesundheitsstörungen begründen seit dem 1. Oktober 2012 keine MdE mehr von mindestens 20 v. H. Die Prellungen sind ausgeheilt und auch die Anpassungsstörung ist so weit abgeklungen, dass der Kläger nicht mehr in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Der Ausprägungsgrad der psychischen Störung ist gering und sowohl der medizinische Sachverständige Dr. N. als auch der behandelnde Arzt Dr. C. und der Diplom-Psychologe M. haben in ihren Verlaufsberichten immer wieder darauf hingewiesen, dass der Kläger in der Lage ist, aufkommende Ängste und Trigger zu kompensieren. Auch wenn Dr. C. im Klageverfahren nunmehr von einer schweren Symptomatik spricht, so steht dies im Widerspruch zu seinen früheren Behandlungsberichten über den Kläger. Dort berichtete er wiederholt von einem im Wesentlichen unauffälligen psychischen Befund und leichten Unsicherheiten und Ängsten. Erstmals zwei Jahre nach dem Unfall wies Dr. C. auf eine destabilisierende Situation bei dem Kläger hin. Eine länger andauernde Destabilisierung zeigte sich jedoch weder bei der Begutachtung durch Dr. L. im Jahr 2015 noch bei der durch Dr. N. im Jahr 2017. Der Senat konnte sich daher keine Überzeugung bilden, dass der Kläger nach September 2012 psychisch so weit eingeschränkt war, dass daraus eine wesentliche Minderung der Erwerbsfähigkeit resultiert hat.

Der Antrag des Klägers auf Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 SGG war abzulehnen. Nach § 109 Abs. 1 SGG muss auf Antrag des Versicherten ein bestimmter Arzt gutachterlich gehört werden. Das Gericht kann nach § 109 Abs. 2 SGG einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. Die Zulassung des Antrages nach § 109 SGG würde vorliegend zu einer Verzögerung des Rechtsstreits führen. Das Verfahren war bereits seit der Ladungsverfügung im Januar 2022 entscheidungsreif und eine erneute Ladung stand nach dem Verlegungsantrag der Bevollmächtigten des Klägers am 9. März 2022 unmittelbar bevor. Der zu hörende Arzt hatte zwar einen schnellen Untersuchungstermin und auch eine zügige Erstellung des Gutachtens zugesichert, jedoch hätten die Anforderung eines Kostenvorschusses, die der Beklagten notwendig einzuräumende Anhörungsfrist zu dem erstellten Gutachten und die dann erneut einzuhaltende Ladungsfrist zu einer Verzögerung des Rechtsstreits geführt. Der Senat geht zudem nach seiner freien Überzeugung davon aus, dass der Antrag aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. Es erschließt sich nicht, warum die Abklärung einer bestehenden Rechtsschutzversicherung und deren Kostenübernahme für das Gutachten nach § 109 SGG erst am Tag der eigentlich geplanten mündlichen Verhandlung stattfinden konnte. Denn offenbar war es sogar möglich, diese Frage innerhalb eines Tages mit der Rechtsschutzversicherung zu klären, da die Zusage bereits am gleichen Tag der Anfrage am 9. März 2022 erfolgte. Es ist zu erwarten, dass auch im Interesse des anwaltlich vertretenen Klägers eine Abklärung mit der Rechtsschutzversicherung bei Berufungseinlegung erfolgt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.

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