Astrozytom – Anerkennung als Berufskrankheit aufgrund Technologie-Exposition abgelehnt
Im Urteil des Sozialgerichts Lüneburg, Az.: S 2 U 98/10, ging es um die Frage, ob ein Astrozytom, eine Form von Hirntumor, als Berufskrankheit oder wie eine Berufskrankheit anerkannt werden kann. Der Kläger, ein ehemaliger Elektromonteur und Servicetechniker, der langjährigen Expositionen gegenüber petrochemischen Dämpfen und elektromagnetischen Strahlen ausgesetzt war, beantragte die Anerkennung seines Astrozytoms als Berufskrankheit. Das Gericht wies die Klage ab, da es sowohl an den arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer solchen Krankheit nach der Berufskrankheitenverordnung mangelte, als auch an einem hinreichenden wissenschaftlichen Beweis für einen Zusammenhang zwischen der beruflichen Exposition des Klägers und der Entstehung des Astrozytoms.
Übersicht
- Astrozytom – Anerkennung als Berufskrankheit aufgrund Technologie-Exposition abgelehnt
- ✔ Das Wichtigste in Kürze
- Berufskrankheiten und deren Anerkennung
- Astrozytom als Berufskrankheit: Grenzen der rechtlichen Anerkennung
- Zwischen Technologie und Gesundheit: Ein Kampf um Anerkennung
- Der schwierige Weg zur Anerkennung beruflicher Risiken
- Wissenschaftliche Erkenntnisse und rechtliche Herausforderungen
- Juristische Entscheidungsfindung und ihre Grundlagen
- ✔ FAQ: Wichtige Fragen kurz erklärt
- § Wichtige Gesetze und Paragraphen in diesem Urteil
- Das vorliegende Urteil
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✔ Das Wichtigste in Kürze
- Der Kläger, ein ehemaliger Elektromonteur und Servicetechniker, war langjährigen Expositionen gegenüber petrochemischen Dämpfen und elektromagnetischen Strahlen ausgesetzt.
- Er beantragte die Anerkennung seines Astrozytoms als Berufskrankheit oder wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII.
- Das Gericht lehnte die Anerkennung ab, da keine Berufskrankheit nach der Berufskrankheitenverordnung vorliegt und auch kein hinreichender wissenschaftlicher Beweis für einen kausalen Zusammenhang zwischen der beruflichen Exposition und der Entstehung des Astrozytoms besteht.
- Es wurde festgestellt, dass die Expositionen gegenüber petrochemischen Dämpfen und elektromagnetischen Strahlen nach derzeitigen medizinischen Erkenntnissen nicht geeignet sind, ein Astrozytom zu verursachen.
Berufskrankheiten und deren Anerkennung
Bestimmte Erkrankungen können als Berufskrankheiten anerkannt werden, wenn sie durch die berufliche Tätigkeit verursacht wurden. Dies ist beispielsweise bei Lungenerkrankungen durch Stäube oder Hauterkrankungen durch chemische Stoffe der Fall. Die Voraussetzungen hierfür sind in der Berufskrankheitenverordnung festgelegt.
Darüber hinaus können Krankheiten auch als Wie-Berufskrankheiten nach § 9 Abs. 2 SGB VII anerkannt werden. Hierfür müssen jedoch strenge Kriterien erfüllt sein: Es muss eine erhöhte Gefährdung der jeweiligen Berufsgruppe vorliegen, die Krankheit muss durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse als durch die Tätigkeit verursachbar gelten und der ursächliche Zusammenhang muss im Einzelfall wahrscheinlich sein.
Astrozytom als Berufskrankheit: Grenzen der rechtlichen Anerkennung
Zwischen Technologie und Gesundheit: Ein Kampf um Anerkennung
Im Zentrum des Rechtsstreits vor dem Sozialgericht Lüneburg steht die Frage, ob ein Astrozytom, eine spezifische Form von Hirntumor, als Berufskrankheit oder zumindest wie eine Berufskrankheit gemäß § 9 Abs. 2 SGB VII anerkannt werden kann. Der Kläger, ein seit 1957 geborener Mann, der seine Karriere als Elektromonteur begann und später als Servicetechniker in verschiedenen Branchen tätig war, sieht sich mit den langfristigen Folgen seiner beruflichen Exposition gegenüber petrochemischen Dämpfen und elektromagnetischen Strahlen konfrontiert. Nach jahrelanger Arbeit unter diesen Bedingungen wurde bei ihm 2009 ein diffuses Astrozytom diagnostiziert, das erhebliche gesundheitliche Einschränkungen nach sich zog.
Der schwierige Weg zur Anerkennung beruflicher Risiken
Der Kläger beantragte die Anerkennung seiner Erkrankung als Berufskrankheit, stieß jedoch auf Widerstand bei der Beklagten, der Berufsgenossenschaft. Die Ablehnung begründete diese mit dem Fehlen wissenschaftlicher Erkenntnisse, die einen direkten Zusammenhang zwischen der beruflichen Exposition und der Entstehung von Astrozytomen belegen. Besonders die Anforderungen an die Anerkennung einer Krankheit als Berufskrankheit gemäß der geltenden Berufskrankheitenverordnung, insbesondere die Notwendigkeit gesicherter arbeitstechnischer Voraussetzungen und der Nachweis einer direkten Kausalität, standen im Mittelpunkt der juristischen Auseinandersetzung.
Wissenschaftliche Erkenntnisse und rechtliche Herausforderungen
Trotz einiger Studien, die auf ein erhöhtes Risiko für Hirntumore in der Nähe von petrochemischen Anlagen hinweisen, und Hinweise auf mögliche Zusammenhänge zwischen intensiver Nutzung von Mobiltelefonen und der Entwicklung von Hirntumoren, konnten die Dres. Prof. F. und G. in ihrem Gutachten keine Berufskrankheitenreife nach § 9 Abs. 2 SGB VII feststellen. Dies verdeutlicht die Schwierigkeit, neue medizinische Erkenntnisse in den rechtlichen Rahmen für die Anerkennung von Berufskrankheiten zu integrieren. Die Kriterien für eine solche Anerkennung erfordern nicht nur einen hohen Grad an wissenschaftlicher Gewissheit, sondern auch den Nachweis, dass eine spezifische Erkrankung signifikant häufiger in bestimmten Berufsgruppen auftritt als in der allgemeinen Bevölkerung.
Juristische Entscheidungsfindung und ihre Grundlagen
Das Gericht folgte der Argumentation der Beklagten und der Einschätzung der Gutachter, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Astrozytoms als Berufskrankheit nicht erfüllt sind. Insbesondere fehlt es an gesicherten Erkenntnissen über die Verursachung von Astrozytomen durch die berufliche Exposition gegenüber chemischen oder elektromagnetischen Einwirkungen. Darüber hinaus konnten die spezifischen Anforderungen an eine Anerkennung als „Wie-Berufskrankheit“ nicht erfüllt werden, da kein hinreichender Beweis für eine signifikant höhere Gefährdung der betroffenen Personengruppe vorliegt.
In seinem Urteil stützt sich das Sozialgericht Lüneburg auf die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen und die Notwendigkeit, eine klare und nachweisbare Verbindung zwischen der Berufsausübung und der Entstehung einer Krankheit zu etablieren. Diese Entscheidung unterstreicht die Herausforderungen im Umgang mit neuen medizinischen Erkenntnissen und der rechtlichen Anerkennung von Berufskrankheiten in einem sich wandelnden Arbeitsumfeld.
Die Entscheidung des Sozialgerichts Lüneburg markiert einen kritischen Punkt in der Debatte um die Anerkennung von Berufskrankheiten in Zusammenhang mit modernen Arbeitsbedingungen und technologischen Entwicklungen. Während das Urteil für den Kläger eine Enttäuschung darstellt, wirft es wichtige Fragen bezüglich der Anpassung rechtlicher und medizinischer Bewertungsstandards an aktuelle und zukünftige Risiken des Arbeitslebens auf.
✔ FAQ: Wichtige Fragen kurz erklärt
Wie wird eine Krankheit als „Wie-Berufskrankheit“ anerkannt?
Eine Krankheit wird als „Wie-Berufskrankheit“ anerkannt, wenn sie nicht in der offiziellen Berufskrankheiten-Liste aufgeführt ist, aber neue medizinische Erkenntnisse vorliegen, die belegen, dass eine bestimmte Personengruppe durch ihre berufliche Tätigkeit einem erheblich höheren Risiko ausgesetzt ist, an dieser Krankheit zu erkranken, als die übrige Bevölkerung. Die Anerkennung erfolgt durch die gesetzlichen Unfallversicherungsträger, zu denen die gewerblichen Berufsgenossenschaften, die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft und die Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand gehören. Für die Anerkennung einer Erkrankung als Berufskrankheit müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
- Die Erkrankung muss einer der in der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) aufgeführten Krankheiten entsprechen.
- Die betroffene Person muss den schädigenden Einwirkungen am Arbeitsplatz ausgesetzt gewesen sein.
- Es muss ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Tätigkeit am Arbeitsplatz, den Einwirkungen und der Entstehung der Krankheit bestehen.
Wenn eine Erkrankung nicht in der Berufskrankheiten-Liste steht, kann sie unter bestimmten Umständen „wie“ eine Berufskrankheit anerkannt werden. Dies ist jedoch nur in Ausnahmefällen möglich und setzt voraus, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse die arbeitsbedingte Verursachung wahrscheinlich machen. Das Verfahren zur Anerkennung einer Berufskrankheit beginnt in der Regel mit einer Verdachtsanzeige, die von den Betroffenen selbst, von Familienangehörigen, Unternehmen oder ärztlichem Personal erfolgen kann. Die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung prüfen dann im Rahmen eines Feststellungsverfahrens, ob die Voraussetzungen zur Anerkennung einer Berufskrankheit vorliegen. Dabei werden die Krankengeschichte und die Arbeitsvorgeschichte geklärt und gegebenenfalls fachärztliche Gutachten eingeholt. Wird eine Erkrankung als Berufskrankheit anerkannt, besteht ein Anspruch gegenüber der gesetzlichen Unfallversicherung auf entsprechende Leistungen. Bei Ablehnung der Anerkennung können die Betroffenen Widerspruch einlegen und gegebenenfalls vor dem Sozialgericht klagen.
Inwiefern beeinflusst die berufliche Exposition die Anerkennung einer Krankheit als Berufskrankheit?
Die berufliche Exposition spielt eine entscheidende Rolle bei der Anerkennung einer Krankheit als Berufskrankheit. Eine Krankheit wird als Berufskrankheit anerkannt, wenn sie durch gesundheitsschädliche Einwirkungen am Arbeitsplatz verursacht wurde. Dies beinhaltet, dass die Versicherten an ihrem Arbeitsplatz den entsprechenden schädigenden Einwirkungen ausgesetzt waren und zwischen der Tätigkeit am Arbeitsplatz, den Einwirkungen und der Entstehung der Krankheit ein ursächlicher Zusammenhang besteht.
Für die Anerkennung muss der arbeitsbedingte und damit versicherte Anteil an der Exposition ein bestimmtes Ausmaß erreichen. Dieses Ausmaß wird durch wissenschaftliche Erkenntnisse so genau wie möglich ermittelt. Die Berechnung der versicherten Exposition erfolgt in jedem Fall von der tatsächlichen, jährlich erworbenen Exposition aus.
Die berufliche Exposition gegenüber bestimmten Risikofaktoren muss in einem erheblich höheren Grad erfolgen als die Exposition, der die übrige Bevölkerung ausgesetzt ist. In der Rechtsprechung wird vielfach davon ausgegangen, dass dieses Kriterium bei einer Risikoverdopplung erfüllt ist.
Die Messung der Exposition von Beschäftigten erfolgte in der Vergangenheit mithilfe verschiedener Methoden, um die Exposition so genau wie möglich zu quantifizieren. Dabei wird auch die Exposition durch verschiedene Quellen und an verschiedenen Körperstellen berücksichtigt.
Wenn eine Erkrankung nicht in der Berufskrankheiten-Liste steht, kann sie unter bestimmten Umständen „wie“ eine Berufskrankheit anerkannt werden. Dies ist jedoch nur in Ausnahmefällen möglich und setzt voraus, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse die arbeitsbedingte Verursachung wahrscheinlich machen.
Die Anerkennung einer Krankheit als Berufskrankheit führt zu einem Anspruch gegenüber der gesetzlichen Unfallversicherung auf entsprechende Leistungen. Bei Ablehnung der Anerkennung können die Betroffenen Widerspruch einlegen und gegebenenfalls vor dem Sozialgericht klagen.
Zusammenfassend ist die berufliche Exposition ein zentraler Faktor bei der Anerkennung einer Krankheit als Berufskrankheit. Sie muss nachweislich und in einem erheblich höheren Maße als bei der allgemeinen Bevölkerung erfolgt sein, um als ursächlich für die Erkrankung anerkannt zu werden.
§ Wichtige Gesetze und Paragraphen in diesem Urteil
- § 9 Abs. 1 SGB VII (Berufskrankheitenverordnung): Legt fest, welche Krankheiten als Berufskrankheiten anerkannt werden. Im Kontext des Astrozytoms ist die Frage, ob diese Erkrankung unter die in der Anlage 1 zur BKV gelisteten Krankheiten fällt oder nicht.
- § 9 Abs. 2 SGB VII (Wie-Berufskrankheit): Erlaubt die Anerkennung von Krankheiten als Berufskrankheiten auch dann, wenn sie nicht explizit in der BKV gelistet sind, aber unter vergleichbaren Bedingungen entstanden sind. Relevant für Fälle, in denen neue wissenschaftliche Erkenntnisse die Berufskrankheitenreife noch nicht erreicht haben.
- BK 1303, 1304, 1318, 2402 (Berufskrankheitennummer): Spezifische Kategorien innerhalb der BKV, die verschiedene Erkrankungen durch chemische Substanzen und ionisierende Strahlen abdecken. Für den Kläger relevant, um zu prüfen, ob seine Exposition gegenüber petrochemischen Dämpfen und elektromagnetischen Strahlen eine Anerkennung rechtfertigen könnte.
- Arbeitstechnische Voraussetzungen (haftungsbegründende Kausalität): Erfordernis, dass für die Anerkennung einer Berufskrankheit die Exposition gegenüber gefährdenden Substanzen oder Bedingungen am Arbeitsplatz mit Gewissheit nachgewiesen sein muss. Im Fall des Klägers zentral für die Bewertung seiner Exposition gegenüber petrochemischen Produkten und elektromagnetischen Strahlen.
- Hinreichender Grad von Wahrscheinlichkeit (haftungsausfüllende Kausalität): Notwendigkeit, dass mehr für als gegen einen Zusammenhang zwischen der beruflichen Exposition und der Krankheit spricht. Dies bezieht sich auf die medizinisch-wissenschaftliche Bewertung der Kausalität zwischen beruflicher Tätigkeit und Erkrankung, was für den Astrozytom-Fall entscheidend war.
- Medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse: Basis für die Anerkennung einer Krankheit als Berufskrankheit oder Wie-Berufskrankheit. Im vorgestellten Fall war die mangelnde wissenschaftliche Evidenz für einen Zusammenhang zwischen der beruflichen Exposition und dem Astrozytom ausschlaggebend für die gerichtliche Entscheidung.
Das vorliegende Urteil
SG Lüneburg – Az.: S 2 U 98/10 – Gerichtsbescheid vom 15.06.2015
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob ein Astrozytom als Berufskrankheit (= BK) und/oder wie eine Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (= SGB VII) anzuerkennen ist.
Der im Jahr 1957 geborene Kläger absolvierte von 1973 bis 1975 eine Lehre zum Elektromonteur und war danach bis 1986 in diesem Beruf bei der E. beschäftigt. Von 1987 bis Juni 1988 war er Servicetechniker für Kopiergeräte. Danach war er bei unterschiedlichen Firmen als Servicetechniker für Tankstellen eingesetzt. Dort war er nach seinen Angaben täglich 6 – 7 Stunden Dämpfen von petrochemischen Produkten ausgesetzt. Außerdem sei er regelmäßig gegenüber elektromagnetischen Strahlen exponiert gewesen, da er jederzeit über Mobilfunktelefon habe erreichbar sein müssen und daher ganztägig einen sog. Knopf im Ohr getragen habe. Hinsichtlich der Expositionsverhältnisse wird im Übrigen auf die Angaben des Klägers im Gutachten der Dres. Prof. F. und G. Bezug genommen (Bl. 112 der Akte des Sozialgerichts <= SG>).
Im Oktober 2009 wurde beim Kläger ein Hirntumor i. S. eines „diffusen Astrozytoms Grad II“ festgestellt, der am 19.11.2009 operativ entfernt wurde (Bl. 52 der Akte der Beklagten <= BA). Eine weitere Operation wurde am 07.12.2009 durchgeführt. Seitdem bestehen im Wesentlichen „eine Hemiparese rechts, eine Aphasie, Sensibilitätsstörungen auf der rechten Seite, kognitive Störungen und eine psychomotorische Verlangsamung“. Vom 29.12.2009 – 02.02. 2010 wurde im H. in Trägerschaft der Deutschen Rentenversicherung eine medizinische Reha-Maßnahme durchgeführt. Nach dem Entlassungsbericht vom 05.02. 2010 bestand aufgrund der Folgen der Eingriffe nur noch ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden/Tag auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Am 09.02.2010 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Anerkennung des Astrozytoms und der Folgeschäden als BK. Mit dem Bescheid vom 01.04.2010 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Es würde insbesondere keine Berufskrankheit nach der Ziffer 2402 der Anlage I zur Berufskrankheitenverordnung (= BK 2402) vorliegen. Die Erkrankung sei auch nicht „wie eine Berufskrankheit“ i. S. des § 9 Abs. 2 SGB VII (= Wie-BK) zu entschädigen. Über die Entstehung eines Astrozytoms würden keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen. Neben einer erblichen Disposition sei als einziger Risikofaktor eine direkte radioaktive Bestrahlung des Nervensystems anerkannt, wie sie gelegentlich zur Behandlung von akuter Leukämie eingesetzt werde. Eine solche Exposition habe jedoch nicht vorgelegen. Auch die Anerkennung einer Wie-BK sei nicht möglich, da der Kontakt mit chemischen Produkten der erdölverarbeitenden Industrie nach den derzeitigen gesicherten medizinischen Erkenntnissen nicht geeignet sei, ein Astrozytom zu verursachen. Hierbei stützte sich die Beklagte im Wesentlichen auf eine beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. I. vom 23.02.2010 (Bl. 6 f. BA). Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch wurde geltend gemacht, dass ein erhöhtes Erkrankungsrisiko für Hirntumore in der Umgebung von petrochemischen Anlagen nach diversen Studien belegt sei. Es seien daher auch eine BK 1303 und eine BK 1304 anzuerkennen. Der Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 29.07.2010 zurückgewiesen. Darin wurde ausgeführt, dass auch eine BK 1303, 1304 und 1318 nicht vorliegen würde. Es würden auch keine gesicherten medizinischen Erkenntnisse existieren, dass elektromagnetische Strahlen geeignet seien, Gehirntumore zu verursachen.
Hiergegen hat der Kläger am 26.08.2010 beim SG Lüneburg Klage erhoben.
Nach der Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (= BMAS) vom 18.03. 2011 liegen keine medizinischen-wissenschaftlichen Erkenntnisse im Hinblick auf das Auftreten eines Astrozytoms nach kumulativen Einwirkungen von Elektrosmog und Benzol vor.
Unter dem 16.09.2014 haben die Dres. Prof. F. und G. ein arbeitsmedizinisches Zusammenhangsgutachten erstattet. Darin sind sie zu dem Ergebnis gelangt, dass eine BK 1303, 1304, 1318 und 2402 nicht vorliegen würde. Zwar würden sich mittlerweile Erkenntnisse über einen Zusammenhang zwischen häufigem Telefonieren mit Mobiltelefonen und dem Risiko der Entwicklung eines Hirntumors mehren. Diese hätten sich jedoch noch nicht zur Berufskrankheitenreife verdichtet, so dass die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 SGB VII nicht vorliegen würden. In der ergänzenden Stellungnahme vom 20.04.2015 haben die Dres. Prof. F. und G. an ihrem Votum festgehalten.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,
1. den Bescheid der Beklagten vom 01.04.2010 und den Widerspruchsbescheid vom 29.07.2010 aufzuheben,
2. festzustellen, dass das Astrozytom und dessen Folgezustand eine Berufskrankheit bzw. eine Wie-Berufskrankheit i. S. d. § 9 Abs. 2 SGB II sind,
3. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Leistungen nach dem SGB VII, insbesondere eine Verletztenrente, zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage zulässig, soweit der Kläger die Anerkennung des Astrozytoms und dessen Folgezustand als BK bzw. als Wie-BK begehrt (§ 54 Abs. 1 i. V. m. § 55 Abs. 1 Nrn. 1, 3 SGG). Die Voraussetzungen für eine Verpflichtungs- oder echte Leistungsklage nach § 54 Abs. 4, 5 SGG sind demgegenüber nicht erfüllt. Eine auf eine Leistungsgewährung gerichtete Klage ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (= BSG) vielmehr nur dann zulässig, wenn sie zum einen auf die Gewährung einer konkreten Leistung gerichtet ist und der Unfallversicherungsträger über die Gewährung dieser konkreten Leistung bereits eine Verwaltungsentscheidung getroffen – und ein Widerspruchsverfahren durchgeführt – hat (BSG, Urt. v. 30.10.2007- B 2 U 4/06 R). Dies war jedoch hier nicht der Fall, da mit dem angefochtenen Bescheid nur generell entschieden wurde, dass eine BK bzw. eine Wie-BK nicht vorliegen. Mit dem Passus, der die Ablehnung von Entschädigungsleistungen betrifft, wurde dabei nur zum Ausdruck gebracht, welche Folgerungen sich aus der Ablehnung ergeben (vgl. BSG, Urt. v. 07.09.2004 – B 2 U 46/03 R; Urt. v. 05.09.2006 – B 2 U 24/05 R; BSG, Urt. v. 16.11.2005 – B 2 U 28/04 R). Es fehlt daher an einem für die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erforderlichen, die konkrete Leistung ablehnenden Verwaltungsakt (BSG, Urt. v. 16.11.2005 – B 2 U 28/04 R und BSG, Urt. v. 30.10.2007 – B 2 U 4/06 R ). Im Übrigen ist ein Antrag, mit dem ein Träger der gesetzlichen Unfallversicherung abstrakt zur Leistungserbringung verurteilt werden soll, auch im Rahmen eines sog. Grundurteils unzulässig (vgl. Keller in Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 11. Aufl., § 130, Rz. 2 a).
Die Klage ist jedoch nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig, weil das Astrozytom und dessen Folgezustand weder als BK noch als Wie-BK anerkannt werden können. Zunächst ist zu beachten, dass nicht jede Erkrankung als Berufskrankheit anerkennungsfähig ist. Berufskrankheiten sind vielmehr grundsätzlich (nur) solche Krankheiten, welche in der Anlage 1 zur BKV im Einzelnen bezeichnet sind und die ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit erleidet (§ 9 Abs. 1 SGB VII). Man spricht insoweit auch von sog. Listenerkrankungen. Aufgrund der genannten Expositionen war im vorliegenden Fall zunächst streitig, ob die Voraussetzungen für eine BK 1303, 1304, 1318 und/oder 2402 vorlagen.
Als BK 1303 werden entschädigt:
Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder Styrol.
Als BK 1304 werden entschädigt:
Erkrankungen durch Nitro- oder Aminoverbindungen des Benzols oder seiner Homologe oder ihrer Abkömmlinge.
Als BK 1318 werden entschädigt:
Erkrankungen des Blutes, des Blut bildenden und des lymphatischen Systems durch Benzol.
Als BK 2402 werden entschädigt:
Erkrankungen durch ionisierende Strahlen.
Für die Anerkennung einer Berufskrankheit gelten in der gesetzlichen Unfallversicherung folgende Grundsätze: Während die gesundheitsschädlichen beruflichen Einflüsse (d. h. im konkreten Fall die arbeitstechnischen Voraussetzungen) und die Erkrankung als solche mit Gewissheit bewiesen werden müssen, ist für die Feststellung des Zusammenhangs zwischen den beruflichen Einwirkungen und dem Gesundheitsschaden (haftungsausfüllende Kausalität) ein hinreichender Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich. Dieser ist nach der Rechtsprechung erst dann erreicht, wenn bei einem vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf eine berufliche Verursachung hinweisenden Faktoren deutlich überwiegen (vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38). Eine Möglichkeit verdichtet sich erst dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar, § 8 SGB VII, Rz. 10 ff.). Die reine Möglichkeit eines solchen Zusammenhangs ist daher für eine Anerkennung nicht ausreichend (BSG, Urt. v. 27.06.2000 – B 2 U 29/99 R, S. 8 f.; Urt. v. 02.05.2001 – B 2 U 16/00 R, S. 7 m. w. N.; Landessozialgericht <= LSG> Niedersachsen, Urt. v. 25.07.2002 – L 3/9/6 U 12/00, S. 6).
Bei Anwendung dieser Kriterien kann hier keine Berufskrankheit anerkannt werden. Dies er-gibt sich aus dem überzeugenden Gutachten der Dres. Prof. F. und G.. Diese haben zunächst schlüssig dargelegt, dass hinsichtlich der BK 1304 und der BK 2402 bereits die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt sind, da der Kläger bei seiner beruflichen Tätigkeit weder Nitro- oder Aminoverbindungen des Benzol, seiner Homologe oder ihrer Abkömmlinge noch einer ionisierenden Strahlung ausgesetzt war. Hinsichtlich der BK 1318 sind die medizinischen Voraussetzungen nicht erfüllt, da beim Kläger keine Erkrankung des Blutes, des blutbildenden oder des lymphatischen Systems vorliegt. Hinsichtlich der BK 1303 sind zwar die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt, da nach der Expositionsabschätzung der Sachverständigen der Kläger den in den Kraftstoffen enthaltenen Benzolverbindungen in erheblichen Umfang, d. h. von einer arbeitstäglichen Dauer von 4,2 Stunden, ausgesetzt war. Allerdings ist die berufliche Entstehung eines Tumors der vorliegenden Art nicht wahrscheinlich, weil ein solcher Zusammenhang nach den vorliegenden wissenschaftlich-epidemiologischen Studien nicht ausreichend belegt ist. Dass ein solcher Zusammenhang in einigen wissenschaftlichen Studien angenommen wird, ist kein ausreichender Beleg dafür, dass die herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft diese Ansicht teilt.
Auch die Anerkennung als Wie-BK gem. § 9 Abs. 2 SGB VII kann nicht erfolgen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn
1. eine bestimmte Personengruppe infolge ihrer versicherten Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt ist
und
2. diese Einwirkungen nach neuen und gefestigten Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft geeignet sind, Krankheiten solcher Art zu verursachen und
3. der ursächliche Zusammenhang der Erkrankung mit der versicherten Tätigkeit im Einzelfall wahrscheinlich ist.
§ 9 Abs. 2 SGB VII ist allerdings keine Auffangvorschrift oder Härteklausel für alle beruflich bedingten Krankheiten, die nicht als Listenerkrankung in der BKV erfasst sind. Vielmehr soll dadurch nur sichergestellt werden, dass der Unfallversicherungsträger oder die Gerichte anstelle des Verordnungsgebers tätig werden können, wenn neue gefestigte medizinische Erkenntnisse vorliegen, über welche der Verordnungsgeber – seit Erlass der letzten Anlage 1 zur BKV – noch nicht entschieden hat oder die zur Zeit einer ablehnenden Entscheidung noch nicht zur Berufskrankheiten-Reife verdichtet waren (vgl. BSG SozR 2200 § 551 Nr. 27; BSGE 72, 303, 305; BSG, Urt. v. 25.08.1994 – 2 RU 42/93). Nach allgemeiner Auffassung in der Rechtsprechung ist § 9 Abs. 2 SGB VII auch anwendbar, wenn dem Verordnungsgeber medizinisch gesicherte wissenschaftliche Ergebnisse entgangen sind und eine Berufskrankheiten-Reife vorliegt (BSG SozR 2200 § 551 Nrn. 18, 19). Beides kann hier nicht festgestellt werden.
Die Voraussetzung einer höheren Gefährdung bestimmter Personengruppen bezieht sich nämlich nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auf das allgemeine Auftreten der Krankheit und nicht auf die Verursachung der Krankheit durch die gefährdende Tätigkeit. Ob eine Krank-heit in einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung, erfordert den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige Überwachung derartiger Krankheitsbilder, um mit Sicherheit daraus schließen zu können, dass die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt (BSGE 6 29, 35; BSG SozR 2200 § 551 Nr. 27). Hierzu ist aber erforderlich, dass sich ein bestimmtes – klar abgrenzbares – Krankheitsbild durch eine Vielzahl von sog. epidemiologischen Studien als typische beruflich bedingte Erkrankung erwiesen hat. Dies ist jedoch für den Wirkungszusammenhang „kumulative Einwirkungen von Elektrosmog und Benzol und der Entstehung eines Astrozytom“ nicht hinreichend belegt. Nach der Auskunft des BMAS vom 18.03.2011 liegen keine entsprechenden medizinisch-wissenschaftli-chen Erkenntnisse vor. Auch nach dem Gutachten von der Dres. Prof. F. und G. ist dies nicht der Fall. Zwar existieren aufgrund von einigen Studien Hinweise auf ein erhöhtes Auftreten von Gehirntumoren nach einer intensiven Exposition gegenüber elektromagnetischer Strahlung. Insgesamt ergibt sich aber aus der aktuellen wissenschaftlichen Literatur noch immer kein eindeutiges Bild über mögliche Zusammenhänge der Mobilfunknutzung und dem Auftreten von Hirntumoren. Die Kammer schließt sich dabei auch den in der ergänzenden Stellungnahme der Dres. Prof. F. und G. vom 20.04.2015 gemachten Ausführungen an.
Die Dres. Prof. F. und G. haben darüber hinaus auch schlüssig dargelegt, dass die Expositionen gegenüber den benzolhaltigen Kraftstoffen, Benzinen und hochfrequenten elektromagnetischen Feldern auch in ihrem Zusammenwirken nach den derzeitigen medizinischen Erkenntnissen nicht geeignet sind, ein Astrozytom zu verursachen (S. 27 des Gutachtens <= Bl. 124 SG-Akte>).
Die Entscheidung konnte durch Gerichtsbescheid erfolgen, da der Sachverhalt, soweit er für die Entscheidung von Bedeutung ist, geklärt ist und die Beteiligten hierzu gehört wurden (§ 105 SGG). Die Beteiligten haben sich mit dieser Entscheidungsform auch einverstanden erklärt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.