Traumatische Ursache einer Vertebralisdissektion bestätigt: Ein schwieriger Arbeitsunfall
Am 10. September 2009 ereignete sich ein Ereignis, das einen jahrelangen Rechtsstreit auslöste. Ein Arbeiter klagte, dass er während der Arbeit einen Schwindelanfall erlitten habe, der durch den Blick in einen engen Schacht ausgelöst worden sei. Infolgedessen sei er gestürzt und habe eine Dissektion der rechten Arteria vertebralis erlitten – ein Riss in der inneren Wand einer Arterie, die Blut zum Gehirn leitet. Die entscheidende Frage in diesem Fall war, ob das geschilderte Ereignis tatsächlich als Arbeitsunfall einzustufen ist und ob der Unfall die berichteten Gesundheitsprobleme verursacht hat.
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Übersicht
Sturz oder Schwindel?
Im Laufe des Prozesses tauchte eine Diskrepanz auf: Der Arbeiter gab anfangs an, sein Schwindel sei durch das Blicken in einen engen Schacht ausgelöst worden. Später änderte er seine Darstellung und gab an, er sei auf eine Papierrolle gestürzt. Die Gegenseite argumentierte, dass der geschilderte Unfallhergang aufgrund der räumlichen Gegebenheiten nicht plausibel sei. Zudem wurde die Kausalität des angeblichen Sturzes für die gesundheitlichen Folgen in Frage gestellt.
Ärztliche Einschätzungen und Gutachten
Medizinische Experten waren in diesem Fall von zentraler Bedeutung. Einige argumentierten, dass eine spontane Dissektion, also eine, die nicht durch ein Trauma verursacht wird, in diesem Fall unwahrscheinlich sei. Ein struktureller Defekt oder degenerative Wandveränderungen seien nicht vorhanden gewesen. Eine traumatische Dissektion sei typischerweise durch Hyperextension, Lateralversion oder Rotation des Halses charakterisiert, was bei dem Arbeiter aufgetreten sein könnte.
Kontroverse und Entscheidung des Gerichts
Trotz der kontroversen Ansichten und unterschiedlichen Darstellungen des Hergangs, kam das Gericht zu dem Schluss, dass ein rechtlich relevanter Zusammenhang zwischen dem Unfall und den festgestellten Gesundheitsstörungen besteht. Medizinische Gutachter legten dar, dass ein Distorsionstrauma der Halswirbelsäule, wie es im Fall des Arbeiters auftrat, eine Dissektion einer Vertebralarterie hervorrufen kann. Ebenso wurde betont, dass traumatische Läsionen nicht unbedingt mit äußeren Verletzungen einhergehen müssen.
Im Endeffekt stellte das Gericht fest, dass das Ereignis vom 10. September 2009 tatsächlich als Arbeitsunfall zu betrachten war und dass die Dissektion der rechten Arteria vertebralis eine direkte Folge dieses Unfalls war. Der jahrelange Rechtsstreit hat letztlich zu einer Klärung geführt, die das Leben des Arbeiters und seine Zukunft nach dem Unfall maßgeblich beeinflussen wird.
Das vorliegende Urteil
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – Az.: L 21 U 221/16 – Urteil vom 02.07.2020
Das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 28. Oktober 2016 und der Bescheid der Beklagten vom 23. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 2012 werden aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass das Ereignis vom 10. September 2009 ein Arbeitsunfall sowie die Dissektion der rechten Arteria vertebralis dessen Gesundheitserstschaden war.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers des gesamten Rechtsstreits zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Feststellung eines Ereignisses vom 10. September 2009 als Arbeitsunfall.
Der 1951 geborene Kläger war selbständiger Transportunternehmer und bei der Beklagten als für ihn zuständige Trägerin der Unfallversicherung versichert. Am 10. September 2009 war er beauftragt, bei der Fa. C. S (S-W T) GmbH & Co. KG in H eine Ladung Papierrollen zu übernehmen und weiter zu transportieren.
Die Beklagte erlangte durch einen Durchgangsarztbericht vom 11. September 2009, der den Stempel des Chefarztes der Chirurgischen Abteilung des W Krankenhauses G S (im Folgenden Krankenhaus G-S), Dr. R, jedoch nicht dessen Unterschrift trägt, davon Kenntnis, dass der Kläger am 10. September 2009 mit einem Rettungswagen der Hamburger Feuerwehr in die Ambulanz des Krankenhaus G-S eingeliefert worden war. In dem Durchgangsarztbericht sind als Angaben des Versicherten zum Unfallhergang vermerkt, dem Kläger sei bei der Arbeit, als er sich bücken und mit seinem Kopf in einen engen Schacht schauen wollte, schwindlig und kaltschweißig geworden. Von einem Arbeitsunfall wurde nicht ausgegangen, Behandlungsmaßnahmen zu Lasten der Beklagten wurden nicht eingeleitet.
In einem handschriftlichen, nicht unterzeichneten Konsiliarbericht der Neurologie des Krankenhaus G-S vom 10. September 2009 heißt es, durch eine ungewohnte Drehbewegung der HWS bei der Arbeit sei beim Kläger zunächst ein ungerichteter Schwindel aufgetreten.
Beim Kläger wurde im Krankenhaus G-S ein Verschluss und Stenose der Arteria vertebralis, Anfallschwindel und Verdacht auf vertebro-basiläre Insuffizienz diagnostiziert und er wurde noch am 10. September 2009 in die A Klinik H verlegt und dort – laut Arztbericht vom 23. September 2009 – bei den Diagnosen Kleinhirninsult rechts bei traumatischer Dissektion der rechten Arteria vertebralis bis zum 21. September 2009 stationär behandelt, davon bis zum 13. September 2009 auf der Schlaganfallintensivstation. Dabei gibt der Arztbericht an, der Kläger sei während des Verladens von Papierrollen gestürzt und mit dem Hals rechts auf eine Papierrolle gefallen. Er sei mit Schwindel, Dysarthrie (Sprachstörung), Nystagmus und Wortfindungsstörungen aufgenommen worden.
In seiner Unfallanzeige vom 25. September 2009 gab der Kläger ebenfalls an, bei der Ladungssicherung von stehenden Papierrollen abgerutscht und mit dem Kopf auf eine Papierrolle geschlagen zu sein.
Die Beklagte holte im Rahmen des Verwaltungsverfahrens zunächst Auskünfte der Ärzte des Krankenhaus G-S ein. Auf Nachfrage der Beklagten vom 30. September 2009 gab der Assistenzarzt der Chirurgischen Abteilung des Krankenhaus G-S, Dr. C, unter dem 9. Oktober 2009 an, der Kläger habe zum Hergang des Ereignisses vom 10. September 2009 ihm gegenüber angegeben, der Unfall sei „im Lager seines Betriebes, wo er beschäftigt ist“, geschehen; er habe im Lager etwas verschieben wollen und sich dabei flach auf den Boden legen und den Kopf zur Seite drehen müssen.
Weiter zog die Beklagte das Einsatzprotokoll der H Feuerwehr bei. Laut dem Einsatzprotokoll ging am 10. September 2009 eine den Kläger betreffende Notfallmeldung wegen,,Übelkeit und Kreislaufproblemen” bei der H Feuerwehr ein und der Kläger wurde von der Feuerwehr mit,,Erkrankung: Kreislauf” ins Krankenhaus G S eingeliefert. Ein Mitarbeiter der Feuerwehr teilte per Email vom 26. Oktober 2009 mit, dass laut einer Befragung der Einsatzkräfte „nie von einem Sturz oder Hinfallen die Rede“ gewesen sei.
Mit Fax an die Beklagte vom 2. Dezember 2009 gab der vom Kläger benannte Zeuge, der Lagerleiter J T an, er habe gesehen, wie der Kläger bei der Ladungssicherung stehender Papierrollen von der Leiter abgerutscht und mit dem Kopf auf die danebenstehende Papierrolle geschlagen sei. Er wiederholte diese Angaben auf einem von der Beklagten übersandten Zeugen-Fragebogen unter dem 18. Dezember 2009.
In der Folge holte die Beklagte Auskünfte der behandelnden Ärzte der A Klinik H ein. Auf schriftliche Nachfrage der Beklagten vom 10. Dezember 2009 gab der Chefarzt der Neurologischen Abteilung Prof. Dr. T mit Schreiben vom 29. Dezember 2009 an, laut Verlaufsprotokoll der Krankenakte habe der Kläger im Rahmen der Chefarztvisite auf der neurologischen Normalstation am 15. September 2009 angegeben, ‚beim Verladen großer Papierrollen mit Kopf auf Papierrolle gestürzt zu sein”.
Weiter zog die Beklagte eine CD mit Aufnahmen der Bild gebenden Verfahren (CT am 10.9.2009; MRT am 16.9.2009) sowie der Untersuchungsbefunde der A Klinik bei und beauftragte den Direktor des Instituts für Radiologie am Unfallkrankenhaus Berlin Prof. Dr. M mit einem radiologischen Zusatzgutachten. Prof. Dr. M bestätigte in seinem Gutachten vom 23. Dezember 2009, dass von einem frischen proximalen Verschluss der A. vertebralis auszugehen sei und dass der vom Kläger geschilderte Unfallhergang (Sturz auf Papierrolle) geeignet sei, diese Verletzung herbeizuführen. Bei fehlenden atherosklerotischen Gefäßveränderungen sei der dringende Verdacht einer Gefäßdissektion als Ursache für den Gefäßverschluss zu äußern.
Sodann veranlasste die Beklagte die Begutachtungen des Klägers durch den Neurologen Herrn Dr. T und durch die Gefäßchirurgin Frau Dr. L. Gegenüber beiden Gutachtern gab der Kläger an, dass der im D-Arztbericht geschilderte Geschehenshergang nicht zuträfe und von ihm nicht angegeben worden sei. Vielmehr habe er auf einer an den Sattelauflieger angelehnten Leiter gestanden, um einen Spanngurt über die aufgestapelten Papierrollen zu werfen. Dabei sei er von der Leiter abgerutscht und habe sich noch mit der linken Hand an einer Papierrolle festgehalten, sei aber weiter abgerutscht und dann mit verdrehtem Hals mit der rechten Halsseite auf eine Papierrolle aufgeschlagen. Herr Dr. T schätzte in seinem Gutachten vom 18. Oktober 2010 nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 20. August 2010 ausgehend von dieser Hergangsschilderung ein, dass sowohl die Unfallanamnese als auch die gerätetechnischen Untersuchungs- und die klinischen Befunde für eine traumatische Dissektion der rechten hinteren hirnversorgenden Halsschlagader sprächen. Insbesondere läge – wie in der Bildgebung nachvollziehbar – der Verschluss an einer für eine traumatische Läsion typischen Stelle, und die vom Kläger geschilderte Drehbewegung beim Sturz machten ein auslösendes Distorsionstrauma der Halswirbelsäule auch ohne das Vorliegen von Schürfwunden oder Prellmarken plausibel. Endogene Ursachen, wie insbesondere Vorschäden an den hirnversorgenden Halsgefäßen durch Arteriosklerose und/oder Atherosklerose oder entzündliche Gefäßerkrankungen (Vaskulitis) schieden aus, die CT-Angiographie und Duplexsonographie habe hierfür keine Hinweise erbracht.
Auch die Fachärztin für Chirurgie, Visceral- und Gefäßchirurgie Dr. L vertrat in ihrem (Ergänzungs)gutachten auf gefäßchirurgischem Gebiet vom 10. Juni 2011 die Auffassung, dass der vom Kläger geschilderte Unfallmechanismus geeignet sei, eine traumatische Dissektion auszulösen. Spontane arterielle Dissektionen seien äußerst selten, die betroffenen Patienten litten in der Regel an einem strukturellen Defekt des Arterienwandaufbaus. Beim Kläger bestünden jedoch keinerlei arteriosklerotischen Gefäßveränderungen.
Mit Bescheid vom 23. August 2011 lehnte die Beklagte die Gewährung von Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung anlässlich des Ereignisses vom 10. September 2009 mit der Begründung ab, dass es sich dabei nicht um einen Arbeitsunfall gehandelt habe. Den klägerischen Erstangaben zum Geschehenshergang, ihm sei beim Blick in einen engen Schacht schwindlig geworden, sei besondere Bedeutung beizumessen, sie seien ausschlaggebender als die im Laufe des Verfahrens gegebenen abweichenden Darstellungen – hier die Schilderung des Sturzes auf die Papierrolle. Nach den Erstangaben zum Hergang sei der gesetzliche Unfallbegriff nicht erfüllt.
Mit dem am 21. September 2011 eingegangenen Widerspruch ließ der Kläger zur Begründung vortragen, die vom D-Arzt berichtete Hergangsschilderung sei unzutreffend und nur durch ein völliges Missverständnis erklärlich. Auf dem ganzen Lagergelände gäbe es keinen Schacht. Vielmehr habe der Kläger am Unfalltag mit Spanngurten eine Ladung von je ca. 2,30 bis 2,50 m hohen, ca. einen Meter Durchmesser aufweisenden Papierrollen gesichert, die aufrecht nebeneinander in einer Reihe auf dem Sattelzug des Klägers standen. Dazu habe der Kläger eine Leiter vor die zu fixierende Rolle auf die Ladefläche des LKW gestellt und den Spanngurt über die Oberseite der Rolle zur anderen Seite der Ladefläche der Rolle geworfen, als er auf der Leiter abrutschte und versuchte, sich mit der linken Hand festzuhalten. Mit einer dadurch ausgelösten Drehbewegung sei er auf die rechts danebenstehende weitere ebenso hohe Papierrolle mit der rechten Kopf- bzw. Halsseite aufgeschlagen. Er sei durch den Schlag leicht benommen gewesen und die Leiter heruntergerutscht, wobei er versucht habe, sich festzuhalten. Er sei auf dem Boden zusammengesackt und habe einen Moment am Rand der Ladefläche gesessen, habe sich dann aufgerichtet und seine Arbeit fortsetzen wollen. Dabei sei er mit einem Linksdrall leicht ins Taumeln geraten und ein Gabelstaplerfahrer, dem der unsichere Gang aufgefallen sei, habe ihn gestützt und in den Container des Lagerleiters geführt, wo er von einem Stuhl gekippt sei und drohte, das Bewusstsein zu verlieren. Dieser gesamte Vorgang sei von dem damaligen Lagerleiter, dem Zeugen J T, beobachtet worden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Januar 2012 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers mit der Begründung zurück, dass über die anspruchsbegründende Tatsache „Unfall im gesetzlichen Sinne” nicht Vollbeweis erbracht sei. Die durch den D-Arzt und gegenüber der Besatzung des Rettungswagens gemachten Angaben sprächen für einen spontanen Verschluss der rechten A. vertebralis ohne ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis. Eine Vielzahl von Vertebralisdissektionen entstünde spontan. Dafür spräche auch, dass es beim Kläger zu keinerlei äußeren Verletzungen gekommen sei. Im Übrigen sei der Zeuge erst ca. 6 Wochen nach dem Gesamtgeschehen benannt worden und seine ersten Angaben seien vom Kläger vorformuliert gewesen.
Hiergegen hat der Kläger am 27. Februar 2012 Klage zum SG Neuruppin erhoben, mit der er geltend gemacht hat, dass die ihrerseits widersprüchlichen Angaben der Ärzte im Krankenhaus G-S zu den Angaben des Klägers am 10. September 2009 nur durch den beeinträchtigten Zustand des Klägers und/oder dortiges Organisationsverschulden erklärbar seien. Die Fehleinschätzung der Besatzung des Rettungswagens hänge vermutlich mit der Art und Weise zusammen, wie sie den Kläger vorgefunden hätten, nämlich auf dem Fußboden des Containers mit auf einem Stuhl (hoch) gelagerten Beinen nahe der Bewusstlosigkeit. Er hat Zeichnungen über die örtlichen Verhältnisse beim Ladevorgang im LKW am 10. September 2009 zur Akte gereicht sowie ein für die ERGO-Versicherungs AG erstelltes Sachverständigen-gutachten des Prof. Dr. B vom 14. Februar 2011. Dieser hatte sich der in einem neuroradiologischen Gutachten des Dr. N vom 25. Oktober 2010 vertretenen Auffassung angeschlossen, dass von einem Vertebralisverschluss auf der Grundlage einer traumatischen Dissektion auszugehen sei, eine Mitwirkung unfallfremder Erkrankungen könne er nicht erkennen.
Der Kläger hat vor dem SG beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 23. August 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 27. Januar 2012 aufzuheben und festzustellen, dass es sich bei dem Ereignis am 10. September 2009 um einen versicherten Arbeitsunfall gehandelt hat und die Dissektion der rechten Arterie vertebrales Folge dieses Arbeitsunfalles ist.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat sie auf die streitgegenständlichen Bescheide und zudem darauf verwiesen, dass der vom Kläger geschilderte Unfallhergang auch angesichts des geringen Abstands zwischen Dach des Trailers und Oberkante der Papierrollen nicht plausibel sei, und selbst bei Vorliegen des angeblichen Sturzes dessen Kausalität für die Unfallfolgen nicht nachgewiesen sei. Die Angaben des Dr. C seien auch nicht völlig unsinnig, da dieser Grieche sei und nach einer telefonischen Auskunft des Krankenhauses G S Schwierigkeiten „mit unserer Sprache“ habe (Schriftsatz vom 22. Februar 2016). Die Beklagte hat ferner ein nach Aktenlage erstelltes Gutachten des Facharztes für Unfallchirurgie und Gefäßchirurgie Prof. Dr. E vom 13. Januar 2016 nebst dessen chirurgisch/gefäßchirurgischer Stellungnahme vom 17. Februar 2016 übersandt, nach dessen Einschätzung nur schwerste Halswirbeltraumata Ursache einer traumatischen Dissektion sein können. Der Gutachter verweist insbesondere darauf, dass die A. vertebralis in den Querfortsätzen der Halswirbelsäule verlaufe und dadurch vor Traumata geschützt sei. Ein Trauma hätte zu einer extrem scharfen Abwinklung der Halswirbelsäule geführt haben müssen, welche ohne begleitende Verletzung der Bandscheiben oder Knochenverletzungen nicht vorstellbar sei. Außerdem sei, wenn jemand mit der rechten Kopf-/Halsseite so auf eine Papierrolle aufschlage, dass es zu einer Vertebralisverletzung kommen könne, zumindest eine Prellmarke oder ähnliches zu erkennen. Diese sei im vorliegenden Fall nicht beschrieben worden.
Das SG hat einen Befundbericht des den Kläger behandelnden Allgemeinmediziners Dr. S sowie ein den Kläger betreffendes Vorerkrankungsverzeichnis bei der AOK [keine Herz- oder Kreislauferkrankungen] eingeholt.
Zudem hat es Beweis erhoben durch Befragung des Zeugen J T vor dem Sozialgericht Hamburg. In dem Termin zur Beweisaufnahme am 12. April 2013 hat der Zeuge angegeben, er habe aus dem Fenster seines Bürocontainers gesehen, dass der Kläger mit der Ladungssicherung von Papierrollen beschäftigt gewesen sei, als die Leiter weggerutscht und der Kläger daraufhin mit der rechten Kopf/Halsseite an die obere Kante der Papierrolle geschlagen sei. Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Sitzungsniederschrift vom 12. April 2013 (Blatt 89f. der Gerichtsakte – GA).
Weiter hat auf Veranlassung des SG der Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Angiologie Dr. S nach körperlicher Untersuchung des Klägers am 15. August 2014 unter dem 1. September 2014 ein Sachverständigengutachten erstattet, in dem er folgende Diagnosen mitteilt: Verschluss der Arteria vertebralis rechts, Zustand nach Kleinhirninfarkt rechts mit Restschaden im Sinne eines residualen Kleinhirnsyndromes und Hirnstammsyndromes. Er schätzte ein, dass beide Gesundheitsstörungen mit Wahrscheinlichkeit auf das angeschuldigte Ereignis – Sturz gegen Papierrolle – zurückzuführen seien. Auf Nachfragen der Beklagten hat der Gerichtssachverständige Dr. S in ergänzenden Stellungnahmen vom 21. Oktober 2014, 9. September 2015 und 3. Mai 2016 daran festgehalten, dass seiner Auffassung nach der vom Kläger geschilderte Sturz geeignet gewesen sei, die Vertebralisdissektion zu verursachen, ein sicherer Rückschluss des Schadensbildes auf eine spontane oder traumatische Entstehung der Vertebralisdissektion jedoch nicht möglich sei.
Gegen das Vorliegen einer spontanen Dissektion spräche, dass Hinweise für einen strukturellen Defekt des Arterienwandaufbaus fehlten und dass weder Anhaltspunkte für eine Bindegewebserkrankung noch auf degenerative Wandveränderungen oder eine arteriosklerotische Erkrankung bestünden. Traumata die zu einer Dissektion führten seien hingegen dadurch charakterisiert, dass sie zu einer Hyperextension, Lateralversion oder Rotation des Halses führten, äußere Verletzungen seien nicht erforderlich. Den Einschätzungen des Prof. Dr. E, dass nur schwerste Traumata geeignet seien, eine Vertebralisdissektion herbeizuführen ist er unter Bezugnahme auf eine Reihe von medizinischen Veröffentlichungen entgegengetreten.
In der mündlichen Verhandlung am 28. Oktober 2016 vor dem Sozialgericht Neuruppin hat der Kläger den Ablauf des Ereignisses erneut geschildert. Er habe zur Sicherung der je ca. 2,30 m hohen, einen Meter Durchmesser aufweisenden Papierrollen mit Spanngurten jeweils auf der an die jeweilige Papierrolle angelehnte Stehleiter gestanden und sich in den ca. 46 cm breiten Raum zwischen Oberkante der Papierrollen und Dach des 2,76 m hohen Sattelzugs gebeugt, um die Schonkanten, über die der Spanngurt jeweils über zwei Kanten der Papierrolle geführt wurde, sowie den Gurt zu platzieren. Als er das Platzieren der Gurte bereits abgeschlossen hatte, habe er von der Leiter herabsteigen wollen. Seiner Erinnerung nach sei es so gewesen, dass er beim Herabsteigen eine Stufe der Leiter nicht richtig erwischt habe bzw. von ihr abgerutscht sei und versucht habe, sich mit der linken Hand an der Papierrolle festzuhalten. Dabei sei die Leiter weggerutscht und der Kläger mit der rechten Kopfseite und dem Hals auf die Kante der Papierrolle geschlagen und an der Papierrolle hinuntergerutscht, während die Leiter immer weiter weggerutscht und schließlich auf den Hänger geschlagen und auch der Kläger mit Füßen und Knien auf dem Hänger gelandet sei.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 28. Oktober 2016 abgewiesen.
Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass das Vorliegen eines Arbeitsunfalls nicht festgestellt werden könne. Das Gericht habe sich aufgrund der unterschiedlichen Sachverhaltsschilderungen nicht die volle Überzeugung bilden können, dass und was für ein Unfallereignis sich am 10. September 2009 abgespielt haben solle.
Zweifel verblieben zudem deswegen, weil ein Unfallgeschehen am Tag des angeschuldigten Ereignisses weder gegenüber der Besatzung des Rettungswagens noch – und dies wiege aus Sicht der Kammer noch schwerer – gegenüber den erstbehandelnden Ärzten des Krankenhauses „G S” erwähnt worden sei. Vielmehr legten die vom Krankenhaus dokumentierten Angaben des Klägers vom 10. September 2009 aus Sicht der Kammer innere Ursachen für die Gesundheitsschäden des Klägers nahe.
In dem Durchgangsarztbericht vom 11. September 2009 des Chefarztes der Chirurgischen Abteilung des Krankenhaus Wilhelmsburg Dr. R seien als Angaben des Versicherten zum Unfallhergang dokumentiert, dem Kläger sei bei der Arbeit schwindlig und kaltschweißig geworden, als er sich bücken und mit seinem Kopf in einen engen Schacht schauen wollte. Im Konsiliarbericht der Neurologie des Krankenhaus W vom 10. September 2009 sei vermerkt, durch eine ungewohnte Drehbewegung der HWS bei der Arbeit sei beim Kläger zunächst ein ungerichteter Schwindel aufgetreten. Und der Assistenzarzt der Chirurgischen Abteilung des Krankenhaus W Dr. C habe unter dem 9. Oktober
2009 angegeben, der Kläger habe zum Hergang des Ereignisses vom 10. September 2009 ihm gegenüber angegeben, er habe etwas verschieben wollen und sich dabei flach auf den Boden legen und den Kopf zur Seite drehen müssen.
Der Kläger sei zu dem Zeitpunkt, als er diese Angaben machte, durch die unstreitig vorliegenden Gesundheitsschäden (Verschluss der Arteria vertebralis rechts, Kleinhirninfarkt) beeinträchtigt gewesen. Leichte Sprachfindungsschwierigkeiten, Nervosität und Erregung sowie Übelkeit und Erbrechen bei Aufnahme im Krankenhaus W seien dokumentiert. Gleichwohl könnten die durch verschiedene Stellen des Krankenhaus W dokumentierten Angaben des Klägers zum Geschehensablauf nicht ohne weiteres übergangen und als „Phantasierungen” abgetan werden. Denn bei näherer Betrachtung könnten sie als Schilderung der Erlebnisse des Klägers bei einer spontanen Vertebraldissektion im Rahmen der Sicherung der Papierrollen gedeutet werden.
So könnte sich die Angabe des Klägers, er habe „sich bücken und mit dem Kopf in einen engen Schacht schauen” wollen, darauf beziehen, dass er sich in den Raum zwischen Oberkante der Papierrollen und Dach des 2,76 m hohen Sattelzugs beugte. Dieser 46 cm hohe, langgestreckte Raum ließe sich als Schacht umschreiben. Und auch die Angabe, er habe etwas verschieben wollen und sich dabei flach auf den Boden legen und den Kopf zur Seite drehen müssen, lasse sich als Umschreibung der Situation des Anbringens des Spanngurtes in dem schmalen Raum zwischen Papierrolle und Dach verstehen. So betrachtet liege es nahe, dass die gesundheitlichen Veränderungen beim Kläger nicht durch einen Sturz, sondern spontan entstanden seien, während er auf der Leiter gestanden und die Gurte angebracht habe. Dass es in der Folge zu den vom Zeugen geschilderten Schwierigkeiten beim Abstieg von der Leiter kam, stünde dem nicht entgegen.
Der Kläger hat gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 10. November 2016 zugestellte Urteil am 8. Dezember 2016 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung macht er geltend, dass das Sozialgericht zu Unrecht den Nachweis eines Unfalls als von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis unter Bezugnahme darauf verneint habe, dass der Kläger das Geschehen „in Variationen“ geschildert habe. Die Darstellungen des Klägers stimmten überein, sie seien lediglich unterschiedlich detailliert. Eine Arterienverkalkung sei beim Kläger nicht durch eine ungewohnte Drehbewegung beim Platzieren der Sicherheitsgurte ausgelöst worden, sondern erst beim missglückten Herabsteigen auf der Leiter durch das Abrutschen und Aufschlagen mit dem Hals gegen die Papierrollenkante, das der gerichtlich vernommene Zeuge bestätigt habe. Eine von der Beklagten für möglich gehaltene spontane Dissektion der Arteria vertebralis scheide aus. Dies bestätigten auch die Gutachter D. T und L sowie der von der privaten Unfallversicherung beauftragte Gutachter Prof. Dr. B. Auch der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. S begründe ausführlich, was gegen das Vorliegen einer spontanen Dissektion spreche. Die Vermutung des Sozialgerichts sei unvereinbar mit den Ergebnissen der Gutachter, die eine spontane Verletzung ohne Vorschaden für unwahrscheinlich oder gar für unmöglich hielten.
Auch der Zweifel des Sozialgerichts, weil der Kläger am Unfalltag ein Unfallgeschehen nicht angegeben habe, sei unbegründet. Der Kläger sei aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen zunächst überhaupt nicht in der Lage gewesen, sich zu äußern. Die korrekten Angaben habe der Kläger aber bereits bei der Untersuchung im A-Klinikum gemacht, wie sich aus der Wiedergabe im vorläufigen Arztbrief vom 23. 9. 2009 ergebe. Was der Kläger angeblich dem aufnehmenden Arzt im Krankenhaus G-S erklärt haben solle, erscheine absolut unsinnig und sei mit den örtlichen Gegebenheiten nicht in Einklang zu bringen. Die Verfasser der abwegigen Darstellungen über eine Konsiliaruntersuchung im Krankenhaus G-S und im ebenfalls nicht unterschriebenen Durchgangsarztbericht vom 11. 9. 2009 sowie im Schreiben des Assistenzarztes Dr. C vom 9. 10. 2009 hätten sich wahrscheinlich aus etwaigen unzusammenhängenden Andeutungen etwas zusammengereimt, das mit dem realen Sachverhalt nichts zu tun habe. Das Sozialgericht habe mit seinem Versuch, diesen absonderlichen Angaben einen Sinn zu geben, die unstreitigen Tatsachen verdreht.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 28. Oktober 2016 und den Bescheid der Beklagten vom 23. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 2012 aufzuheben und das Ereignis vom 10. September 2009 als Arbeitsunfall sowie die Dissektion der rechten Arteria vertebralis als dessen Gesundheitsfolge festzustellen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Das Sozialgericht habe zutreffend entschieden, dass das Unfallereignis nicht im Vollbeweis, also mit Gewissheit, vorliege. Mit der Berufung würden die unterschiedlichen Hergangsschilderungen nunmehr interessengesteuert auf unterschiedliche Details reduziert. Die dokumentierten Erstangaben zeigten, dass der Kläger durchaus in der Lage gewesen sei, Angaben zum Hergang zu machen. Es sei umfangreich und unbeeinflusst von versicherungsrechtlichen Überlegungen von einem Bückvorgang, einem Schauen in einen engen Schacht, Schwindel und Kaltschweißigkeit berichtet worden, anstatt spontan einen relativ einfachen Hergang mit Sturz und Aufprall auf die Halsseite anzugeben. Im Übrigen werde auf die ärztliche Stellungnahme des Prof. Dr. E verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte (2 Bände) sowie des Verwaltungsvorgangs der Beklagten (2 Bände) Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der mit der Klage angefochtene Bescheid der Beklagten vom 23. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Der Kläger verfolgt sein Begehren, das Ereignis vom 10. September 2009 als Arbeitsunfall nebst bezeichneter Gesundheitsfolge als Unfallfolge anzuerkennen zulässig mit der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage nach §§ 54 Abs. 1 S. 1, 55 Abs. 1 Nr. 1,3 Sozialgerichtsgesetz – SGG – (vgl. BSG v. 20.12.2016 – B 2 U 16/15 R – juris m.w.N.).
Die Klage ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass das Ereignis vom 10. September 2009 als Arbeitsunfall anerkannt wird; der von ihm angeführte Gesundheitsschaden ist als Unfallfolge festzustellen.
Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch – SGB VII – sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung (§§ 2, 3, 6 SGB VI) begründenden Tätigkeit.
Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Tatbestandsmerkmale „versicherte Tätigkeit“, „Unfallereignis“ und Gesundheitsschaden“ müssen im Grad des Vollbeweises festgestellt sei, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, während für die Feststellung der Ursachenzusammenhänge zwischen den tatbestandlichen Voraussetzungen der Nachweis im Grad der hinreichen Wahrscheinlichkeit, nicht die bloße Möglichkeit, ausreichend ist (vgl. nur BSG v. 31.01.2012 – B 2 U 2/11 R – juris, Rn. 17 m.w.N.).
Vorliegend besteht kein Zweifel daran, dass der Kläger zum Zeitpunkt des geschilderten Ereignisses vom 10. September 2009 dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung unterlag und eine versicherte Tätigkeit verrichtete, insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen des SG verwiesen (§ 153 Abs. 2 SGG).
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist es entgegen der Auffassung des SG auch nachgewiesen, dass es am 10. September 2009 zu einem Unfallereignis im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII, d.h. zu einem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkendem Ereignis gekommen ist (BSGE 97, 54-63).
Dabei müssen die Tatsachen, die die Tatbestandsmerkmale „versicherte Tätigkeit“, „Verrichtung zur Zeit des Unfalls“, „Unfallereignis“ sowie „Gesundheitsschaden“ erfüllen sollen, im Grad des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahr-scheinlichkeit feststehen (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 31. Januar 2012, B 2 U 2/11 R, juris, Rn. 17). Dafür ist zwar keine absolute Gewissheit erforderlich; verbliebene Restzweifel sind bei einem Vollbeweis solange unschädlich, wie sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010, B 11 AL 35/09 R, juris, m.w.N.).
Letzteres ist vorliegend nicht der Fall. Vielmehr steht nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 SGG) ohne begründete Zweifel fest, dass der Kläger am fraglichen Tag auf einer Leiter stehend damit beschäftigt war, bei der Sicherung der Papierrollen außen einen Plastikwinkel zu befestigen, als die Leiter wegrutschte, der Kläger hierbei mit der Leiter zur Seite rutschte und mit der rechten Kopf-/Halsseite an die obere Kante einer aufrechtstehenden ca. 2,30 m hohen Papierrolle schlug. Dies steht insbesondere aufgrund der Zeugenaussage des J T vor dem Sozialgericht Hamburg fest.
Der Zeuge, der über die Strafbarkeit einer falschen eidlichen und uneidlichen Aussage belehrt und zur Wahrheit ermahnt worden war, hat anhand eines Fotos der Halle angegeben, den Vorgang vom dort in der Mitte der Halle befindlichen Bürocontainer aus beobachtet zu haben. In der Sitzungsniederschrift vom 12. April 2013 ist seine Aussage wie folgt wiedergegeben:
„Er habe in seinem Bürocontainer gesessen und aus dem Fenster gesehen. Hierbei konnte er sehen, dass der Kläger mit der Ladungssicherung (Papierrollen) beschäftigt war. Dabei rutschte die Leiter weg. Der Kläger stand auf der Anlegeleiter, die an die Papierrolle angelehnt war. Die Papierrollen sind ca. 2,30 oder 2,50 m hoch und werden mit Gurten gesichert, die einen Plastikwinkel außen haben, damit das Papier nicht beschädigt wird. Der Kläger war dabei einen solchen Plastikwinkel außen zu befestigen, als die Leiter wegrutschte. Hierbei schlug der Kläger mit der rechten Kopf-/Halsseite an die obere Kante der Papierrolle.
Zur zweiten Frage erklärt der Zeuge:
Der Zeuge befand sich in seinem Bürocontainer, der in der Halle steht. Von dort konnte ich durch das Tor nach draußen den Kläger sehen. Das Fahrzeug des Klägers stand an der Laderampe.
Ich habe das Unfallereignis mit eigenen Augen gesehen. Der Kläger konnte sich wohl ein bisschen fangen, denn er stand ja dicht an der Rampe und ist wohl auf die Knie gefallen. Dann kam der Staplerfahrer, der den LKW des Klägers beladen sollte und sagt zu mir, es gehe dem Kläger wohl nicht gut, wir müssen mal gucken gehen.
Wir haben den Kläger dann erst einmal auf einen Stuhl gesetzt, sodass dieser Wasser trinken konnte. Ich selber habe gedacht, er habe wohl einen Schock und habe ihn daher auf den Boden gelegt mit den Beinen hoch. Hierbei lief er aber irgendwie grau an und ich habe einen Rettungswagen gerufen.“
Der Zeuge konnte sich mithin detailreich an die Umstände des Unfalls erinnern. Sowohl der vernehmende Richter als auch der bei seiner Vernehmung in Hamburg anwesende Vertreter der Beklagten hatten offensichtlich keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen, so dass sich der Senat nicht gedrängt sah, sich ein eigenes Bild vom Zeugen zu machen und dessen Vernehmung zu wiederholen. Die Angaben des Zeugen bestätigen die vom Kläger durchgängig seit dem Unfalltag gegenüber den Ärzten im A-Klinikum geschilderten Ablauf des Abrutschens von der Leiter und „Aufschlagens“ auf die Kante der stehenden Papierrolle.
Entgegen der Auffassung der Beklagten und des SG wird dieses Ergebnis nicht in Zweifel gezogen – geschweige denn widerlegt – durch die Angaben im Durchgangsarztbericht des Klinikums G-S.
Da der Durchgangsarztbericht vom 11. September 2009 keine Unterschrift und lediglich den Stempel „Durchgangsarzt Dr. R“ ausweist, das auf die weitere Anfrage der Beklagten ergangene Schreiben vom 9. Oktober 2009 Dr. R als Chefarzt vermerkt, jedoch nur die Unterschrift des Assistenzarztes der Chirurgischen Abteilung des Krankenhaus W, Dr. C, trägt, spricht viel dafür, dass die Hergangsschilderung jeweils von Dr. C angefertigt wurde.
Die Angaben von Dr. C unter dem 9. Oktober 2009, der Kläger habe zum Hergang des Ereignisses vom 10. September 2009 ihm gegenüber angegeben, der Unfall sei „im Lager seines Betriebes, wo er beschäftigt ist, geschehen; er habe im Lager etwas verschieben wollen und sich dabei flach auf den Boden legen und den Kopf zur Seite drehen müssen“, stehen aber so eklatant im Widerspruch zu den Angaben des Zeugen T, dass sie für den Senat nur durch ein Missverständnis erklärbar sind. das möglicherweise aufgrund der mangelnden Ausdrucksfähigkeit des nach den Angaben im Arztbrief des A Krankenhauses zu diesem Zeitpunkt benommenen und unter einer Sprachstörung (Dysarthrie) und Wortfindungsstörungen leidenden Klägers einerseits und fehlender Deutschkenntnisse des griechischen Assistenzarztes andererseits zustande gekommen sein mag. Nach einem Telefonvermerk der Beklagten über ein Gespräch mit einer Krankenhausmitarbeiterin ist Dr. C Grieche und soll Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben (Gerichtsakte Blatt 206).
Im Übrigen hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bei der erneuten Unfallschilderung ausführlich diejenigen Tätigkeiten beschrieben, die von ihm vor Eintritt des Unfalls verrichtet worden waren, nämlich ein Vorbeugen zur Fixierung von Spanngurten, auf einer Leiter stehend, was möglicherweise zu einer Fehlinterpretation der Unfallschilderung durch den aufnehmenden Assistenzarzt beigetragen haben mag. Keinesfalls vermochte sich der Senat die Überzeugung zu bilden, dass der Kläger gegenüber dem Assistenzarzt des Durchgangsarztes – entgegen den vom Zeugen beobachteten Vorgängen und entgegen seinen eigenen Schilderungen gegenüber den Ärzten des A-Krankenhauses, in das er noch am selben Tag verlegt worden war, – als Unfallhergang ein Bücken und Schauen in einen engen Schacht und dadurch eingetretenen Schwindel angegeben hat. Der Senat hat vielmehr nach alledem keinen vernünftigen Zweifel daran, dass der Kläger, wie er vorträgt, nach einem Fehltritt auf der Leiter abgerutscht und mit dem Hals in verdrehter Position auf die Kante einer Papierrolle aufgeschlagen ist.
Der Senat hat auch keinen vernünftigen Zweifel daran, dass beim Kläger der – von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erstmals bezweifelte – Gesundheits(erst)schaden einer Dissektion der Arteria vertebralis vorgelegen hat. Zwar hat der den Kläger im A Klinikum behandelnde Arzt Dr. T mit Schreiben an die Beklagte die Diagnose Dissektion als „keinesfalls gesichert“, sondern nur als „sehr wahrscheinliche Verdachtsdiagnose“ bezeichnet, und konnte eine Dissektion bei der radiologischen Untersuchung am 16. September 2009 nicht sicher nachgewiesen werden (interner Bericht der Abteilung f. diagnostische und interventionelle Radiologie vom 17.09.2009). Im abschließenden Arztbrief vom 30.09.2009 heißt es jedoch insoweit „hochgradiger Verdacht auf traumatische Dissektion der rechten Arteria vertebralis“, und wurde der Kläger im Hinblick auf diese „Verdachtsdiagnose“ behandelt, ohne dass andere Diagnosen auch nur in Erwägung gezogen worden waren.
In der radiologischen Begutachtung hat der Gutachter Prof. Dr. M unter dem 23. Dezember 2009 insoweit ausgeführt, dass bei der vorliegenden MRT-Untersuchung die proximalen Gefäßanteile nicht mitabgebildet und auch keine MR-Angiographie oder T1-gewichtete Aufnahmen in axialer Schnittführung über die Arteria vertebralis im Halsbereich durchgeführt worden seien. Daher sei eine „sichere Aussage“ bezüglich einer Gefäßdissektion als Ursache des Gefäßverschlusses beim Kläger mit dieser MRT-Untersuchung nicht möglich gewesen. Es bestünde aber eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer traumatischen Dissektion als Ursache des Infarktareals rechts cerebellär im PICA-Stromgebiet.
In der Folge sind sodann damit übereinstimmend sämtliche im Verwaltungsverfahren und im gerichtlichen Verfahren sowie im Rechtsstreit mit der Versicherung (Dr. B, Dr. N) gehörten Gutachter und Sachverständigen, einschließlich des von der Beklagten beauftragten Professor Dr. E, davon ausgegangen, dass beim Kläger eine arterielle Dissektion mit der Folge einer Einblutung in die Gefäßwand und einem Stopp der Durchblutung vorgelegen hat. Die Divergenz zwischen Prof. Dr. E und allen anderen Medizinern betraf ausschließlich die Frage, ob Ursache dieser – von sämtlichen Medizinern übereinstimmend angenommenen – Dissektion ein Trauma oder eine innere (spontane) Ursache gewesen war.
Nach den unfallversicherungsrechtlichen Maßstäben geht der Senat nach alledem vom Vorliegen einer sogenannten Dissektion (Aufspaltung der Wandschichten einer Arterie) im Maßstab des Vollbeweises aus. „Vollbeweis“ bedeutet nicht eine 100-prozentige Sicherheit, sondern dass der zu beweisende Umstand „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ vorliegt, ohne dass vernünftige Zweifel an seinem Vorliegen bestehen. So liegt der Fall hier. Zwar konnte die Diagnose „Dissektion“ aufgrund unzulänglicher bildgebende Verfahren nicht mit 100prozentiger Sicherheit gestellt werden. Sämtliche die Befunde auswertenden Ärzte und medizinische Sachverständige gehen aber übereinstimmend insoweit von einer hochgradigen Wahrscheinlichkeit aus. Halten aber sämtliche medizinischen Fachleute eine Diagnose nicht nur für hinreichend, sondern sogar für höchst wahrscheinlich, ohne alternative Diagnosen auch nur zu diskutieren, d. h. ohne vernünftige Zweifel am Vorliegen dieser Diagnose zu äußern, steht diese Diagnose im Rahmen der unfallversicherungsrechtlichen Prüfung im Maßstab des sogenannten Vollbeweises fest.
Die danach festzustellende Dissektion als Gesundheits(erstschaden) beruht auch auf dem vom Senat festgestellten Unfallereignis. Für die erforderliche Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheits(erst)schaden sowie zwischen Gesund-heits(erst)schaden und weiteren Gesundheitsschäden gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. BSG vom 17. Februar 2009, B 2 U 18/07 R, juris, Rn. 12), die auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruht. Danach ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Als rechtserheblich werden aber nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache wesentlich ist, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs abgeleitet werden (vgl. BSG vom 17. Februar 2009, a.a.O., Rn. 12) auf Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten (vgl. BSG vom 9. Mai 2006, B 2 U 1/05 R, juris, Rn. 17; BSG vom 24. Juli 2012, B 2 U 9/11 R, juris, Rn. 60 f.). Sofern nach neuestem wissenschaftlichen Erkenntnisstand keine herrschende Meinung für einen Wirkzusammenhang festgestellt werden kann, kommt eine Entscheidung nach Beweislastgrundsätzen in Betracht (vgl. BSG Urteil vom 24. Juli 2012, a.a.O., juris Rn. 61).
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ist ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang zwischen dem streitgegenständlichen Unfallgeschehen – Sturz gegen Papierrolle – und den festgestellten Gesundheitsstörungen – Dissektion und Verschluss der Arteria vertebralis rechts, Zustand nach Kleinhirninfarkt rechts mit Restschaden im Sinne eines residualen Kleinhirnsyndromes und Hirnstammsyndromes – gegeben.
Dies folgt aus den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen des Gerichtssachverständigen Dr. S in seinem Sachverständigengutachten vom 1. September 2014, die in Übereinstimmung stehen mit den medizinischen Einschätzungen des Neurologen Dr. T und der Gefäßchirurgin Frau Dr. L in deren Gutachten vom 18. Oktober 2010 und 10. Juni 2011 sowie den Einschätzungen des Prof. Dr. B im Gutachten vom 14. Februar 2011 für die private Unfallversicherung, die ERGO Versicherung AG, und den medizinischen Ausführungen in der Epikrise des A Klinikums vom 23. September 2009.
Sämtliche genannten medizinischen Sachverständigen und Gutachter haben dargelegt, dass ein solches Distorsionstrauma der Halswirbelsäule, wie im Falle des Klägers eingetreten, geeignet ist, eine Dissektion einer Vertebralarterie hervorzurufen. In der von den Medizinern zitierten medizinischen Literatur über traumatische Verursachungen von Dissektionen der Vertebralarterie wird beschrieben, dass insbesondere Ereignisse mit Hyperextension, Lateralversion oder Rotation des Halses – wie im vorliegenden Fall beschrieben – Dissektionen an den hirnversorgenden Halsgefäßen bewirken können. Die genannten Mediziner haben auch übereinstimmend dargelegt, dass sich traumatische Läsionen der A. vertebralis gehäuft im Segment V2 ereigneten. Im Falle des Klägers war der Verschluss in der Bildgebung am Übergang V1/V2, also an einer typischen Stelle nachgewiesen worden. Sämtliche der genannten Gutachter und der Gerichtssachverständige haben darüber hinaus für den Senat überzeugend dargelegt, dass im Falle des Klägers keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen einer – äußerst selten auftretenden, so die Gefäßchirurgin Frau Dr. L – spontanen Dissektion bestünden. Hinweise für einen strukturellen Defekt des Arterienwandaufbaus fehlten ebenso wie Anhaltspunkte für eine Bindegewebserkrankung, degenerative Wandveränderungen oder eine arteriosklerotische Erkrankung. Eine andere als traumatische Genese der Dissektion wurde einhellig nicht nur für unwahrscheinlich gehalten, sondern ausgeschlossen.
Ebenfalls einhellig war die Aussage der genannten Mediziner, dass derartige Traumata nicht unbedingt mit äußeren Verletzungen oder Hämatomen einhergehen müssen. Dies zeigt bereits die Tatsache, dass auch durch eine manuelle Therapie und Manipulation der Halswirbelsäule eine Dissektion hervorgerufen werden kann. Auch diese Dissektionen werden in der Literatur als Traumata eingestuft, was der Gerichtssachverständige Dr. S durch umfangreiche Literaturnachweise für den Senat schlüssig dargelegt hat. Der – auch nicht belegte – Einwand des Professors Dr. E in dem von der Beklagten zur Akte gereichten Gutachten, dass nur schwerste Traumata geeignet seien, eine Vertebralisdissektion herbeizuführen, vermochte den Senat daher nicht zu überzeugen.
Nach alledem war der Berufung vollumfänglich stattzugeben
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da Gründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.