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Gesetzliche Unfallversicherung – Verletztenrente – MdE

Keine MdE in rentenberechtigender Höhe

Landessozialgericht Baden-Württemberg – Az.: L 6 U 2244/19 – Urteil vom 05.03.2020

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 3. Juni 2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Klägers sind von der Beklagten im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

Der Kläger begehrt wegen der Folgen des Arbeitsunfalls am 26. Juni 2013 die Gewährung einer Verletztenrente.

Er wurde 1986 geboren, ist verheiratet und Vater eines Kindes. Er absolvierte die Ausbildungen als Technischer Zeichner sowie Groß- und Einzelhandelskaufmann. Das Studium an der Pädagogischen Hochschule in H. zum Grundschullehrer für Sport und Mathematik schloss er nicht ab. Ab Juli 2009 bis Anfang 2015 stand er als Fußballspieler in einem Vertragsverhältnis mit der SpVgg N..

Am 26. Juni 2013 gegen 20 Uhr wurde ihm bei einem Freundschaftsspiel gegen den SV S. e. V. auf einem Fußballplatz in N. von hinten in den Genitalbereich getreten. Er spielte kurze Zeit weiter, musste dann jedoch wegen Schmerzen ausgewechselt werden.

Am Folgetag gegen 6:45 Uhr suchte er Dr. G. Chirurg, auf, der eine Prellung der äußeren Genitalorgane, insbesondere des linken Hodens (ICD-10 S30.2), diagnostizierte. Die kernspintomographische Untersuchung am selben Tag bei dem Radiologen Dr. H. ergab neben einem Hämatom im Inneren des linken Hodens den Verdacht auf einen breiten Einriss. Zusätzlich zeigte sich im Bereich der Nebenhoden und der Umgebung ein weiteres Hämatom. Eine minimale Flüssigkeitsansammlung im rechten Hoden wurde gesehen. Dieser sei intakt gewesen.

Noch am 27. Juni 2013 wurde der Kläger bis 1. Juli 2013 stationär in der Urologie der GRN-Klinik E. aufgenommen. Der Chefarzt Dr. V. diagnostizierte eine Hodenruptur links und ein Hämatom am Scrotum (ICD-10 S39.88). Bei der Operation am 28. Juni 2013 wurde der linke Hoden freigelegt, ein Hämatom ausgeräumt und die offene Tunica albuginea verschlossen. Die histologische Untersuchung ergab ein überwiegend vitales Hodengewebe links mit einer ausreichenden Spermatogenese und flächenhaften Einblutungen des Interstitiums. Ein Anhalt für eine Malignität habe sich nicht gefunden.

Im Auftrag der Beklagten erstattete Dr. L., Facharzt für Urologie ein Gutachten. Nach der ambulanten Untersuchung des Klägers am 27. Juli 2016 führte er aus, er habe angegeben, etwa dreimal wöchentlich unter geringen bis mittelgradigen Hodenschmerzen nach einer körperlichen Belastung wie etwa dem Fußballtraining zu leiden. Klinisch habe sich keine pathologische Folge des traumatischen Ereignisses mehr feststellen lassen. Sowohl der Hodenpalpations- als auch der Sonographiebefund seien bis auf eine gering ausgeprägte Varicozele testis links und einer kleinen Spermatozele testis rechts unauffällig gewesen. Diese seien jedoch nicht Folge des Unfallereignisses. Im Bereich des linken Hodens habe sich ein kleiner Verkalkungsherd darstellen lassen. Möglicherweise sei dies eine Folge der damaligen Wundnaht. Eine Erklärung für die angegebenen Beschwerden finde sich darin jedoch nicht. Die Urin- und Blutlaborwerte seien unauffällig gewesen. Das Spermiogramm habe einen Normalbefund gezeigt. Der Kläger sei fruchtbar. Ein Folgeschaden sei insoweit also nicht eingetreten.

Mit Bescheid vom 6. Dezember 2016 stellte die Beklagte fest, dass der Kläger wegen des Arbeitsunfalls am 26. Juni 2013 kein Recht auf Rente hat. Als Folge des Versicherungsfalls anerkannt wurde eine ausgeheilte Hodenprellung links mit einem verheilten Einriss der Hodenhaut. Unfallunabhängig sei eine Krampfaderbildung im linken Hodenbereich vorhanden. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 2017 zurückgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger am 26. Juni 2017 Klage beim Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben, welches Prof. Dr. K., Chefarzt der Urologie des T. Krankenhauses und der St. Hedwig Klinik M., mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt hat. Nach seiner ambulanten Untersuchung am 18. Oktober 2017 hat er dargelegt, er habe eine linksseitige Testalgie, eine Varicozele testis links vom Grad III, einen linksseitig postoperativ verkleinerten Hoden sowie den Zustand nach einer operativen Hodenfreilegung links mit einer Hämatomausräumung und einem Verschluss der Tunica albuginea bei einer Hodenruptur links und einem Skrotalhämatom im Juni 2013 diagnostiziert. Die vom Kläger angegebenen skrotalen Schmerzen links seien in mehr oder minder ausgeprägter Form nach dem damaligen Trauma aufgetreten. Aktuell habe sich eine drittgradige Varicozele nachweisen lassen. Der vom Kläger angegebene Schmerzcharakter lasse sich jedoch nicht als hierfür typisch werten. Begleitend sei darüber hinaus eine postoperative Verminderung des Hodenvolumens der linken Seite festgestellt worden. Der palpatorische Untersuchungsbefund des Tonus beziehungsweise die Konsistenz des Hodengewebes sowie das sonographische Muster habe mit Ausnahme des kleineren Volumens dem des gesunden rechten Hodens entsprochen. Ein im vergangenen Jahr von Dr. L. angefertigtes Spermiogramm habe darüber hinaus keine Auffälligkeiten hinsichtlich der Fertilität gezeigt. Zwischenzeitlich sei der Kläger Vater geworden. Hinweise für eine mögliche Funktionsbeeinträchtigung der Hoden hätten sich damit nicht ergeben. Die Hodenruptur mit Hämatom lasse sich auf das Unfallereignis im Juni 2013 zurückführen. Die beobachtete Verkleinerung des linken Hodens sei mit großer Wahrscheinlichkeit durch die operativen Maßnahmen am 28. Juni 2013 bedingt. Die linksseitigen Testalgien ließen sich hingegen nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Hodentrauma und die operativen Maßnahmen zurückführen. Die nunmehr festgestellte linksseitige Varicozele lasse sich nicht als Konkurrenzursache für die linksseitigen Testalgien werten. Aus urologischer Sicht sei es zu keiner Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) gekommen. Wesentliche Abweichungen zum Gutachten von Dr. L. ergäben sich nicht.

Nach vorheriger Anhörung der Beteiligten hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 3. Juni 2019 sinngemäß die Beklagte verpflichtet, unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 6. Dezember 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 2017, einen linksseitig postoperativ verkleinerten Hoden bei dem Zustand nach einem Hodentrauma als Folge des Arbeitsunfalls vom 26. Juni 2013 anzuerkennen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Der Beklagten sind ein Fünftel der außergerichtlichen Kosten des Klägers auferlegt worden. Die Klageabweisung hinsichtlich eines Rechts auf Rente hat das SG auf die Gutachten von Dr. L. und Prof. Dr. K. gestützt.

Gegen die dem Kläger am 11. Juni 2019 zugestellte Entscheidung hat dieser am 10. Juli 2019 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen vorgetragen, die Festsetzung der MdE erfolge rechtlich und nicht medizinisch, weshalb es sich bei den Aussagen der Gutachter dazu um bloße Vorschläge handele. Nach der maßgeblichen Unfallliteratur betrage die MdE für den Schwund des Hodens 10 vom Hundert (v. H.). Das SG habe seiner Entscheidung nicht den für konkreten Einzelfall sachnächsten Erfahrungswert zugrunde gelegt. Einen Einschätzungsspielraum gebe es insoweit nicht. Nicht erforderlich sei es, dass sich der Schwund des Hodens auf die Zeugungsfähigkeit auswirke.

Der Kläger beantragt (teilweise sachgerecht), den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 3. Juni 2019 abzuändern, den Bescheid vom 6. Dezember 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 2017 teilweise aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 26. Juni 2013 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 vom Hundert zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Sie trägt im Wesentlichen vor, die Folgen des streitgegenständlichen Ereignisses erreichten keine MdE von mindestens 10 v. H.

Der Kläger hat am 4. März 2014 im Training eine Ruptur des Kreuzbandes im linken Knie erlitten, welcher nach der Einschätzung von Dr. H, Facharzt für Chirurgie, der eine Begutachtung durchgeführt hat, eine MdE von 20 v. H. zur Folge habe.

Der Kläger hat sein Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung am 21. Oktober 2019 erklärt, die Beklagte am 4. Dezember 2019.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG), ist form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden sowie im Übrigen zulässig, insbesondere statthaft (§ 143, § 144 Abs. 1 SGG), aber unbegründet.

Gegenstand des allein vom Kläger angestrengten Rechtsmittelverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 3. Juni 2019, soweit damit die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4, § 56 SGG) erhobene Klage, mit welcher er unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 6. Dezember 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 2017 (§ 95 SGG) die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung einer Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 26. Juni 2013 verfolgte, abgewiesen wurde. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bezogen auf die Klageart der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 12. Aufl. 2017, § 54 Rz. 32), ohne eine solche derjenige der Entscheidung.

Der Kläger hat wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 26. Juni 2013 keinen Anspruch auf die Gewährung einer Verletztenrente. Der angefochtene Verwaltungsakt ist rechtmäßig und verletzt ihn nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Das SG hatte der Klage daher insoweit zurecht nicht stattgegeben.

Anspruchsgrundlage für die begehrte Rentengewährung ist § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). Danach haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls – hier eines Arbeitsunfalls – über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, Anspruch auf Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern (§ 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII). Den Versicherungsfällen stehen gleich Unfälle oder Entschädigungsfälle nach den Beamtengesetzen, dem Bundesversorgungsgesetz, dem Soldatenversorgungsgesetz, dem Gesetz über den zivilen Ersatzdienst, dem Gesetz über die Abgeltung von Besatzungsschäden, dem Häftlingshilfegesetz und den entsprechenden Gesetzen, die Entschädigung für Unfälle oder Beschädigungen gewähren (§ 56 Abs. 1 Satz 4 SGB VII).

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Um das Vorliegen der MdE beurteilen zu können, ist zunächst zu fragen, ob das aktuelle körperliche oder geistige Leistungsvermögen beeinträchtigt ist. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang dadurch die Arbeitsmöglichkeiten der versicherten Person auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens vermindert werden. Entscheidend ist, in welchem Ausmaß Versicherte durch die Folgen des Versicherungsfalls in ihrer Fähigkeit gehindert sind, zuvor offenstehende Arbeitsmöglichkeiten zu ergreifen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 123). Die Bemessung des Grades der MdE erfolgt als Tatsachenfeststellung des Gerichts, die dieses gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (BSG, Urteil vom 18. Januar 2011 – B 2 U 5/10 R -, juris, Rz. 16 m. w. N.). Die zur Bemessung der MdE in Rechtsprechung und Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind dabei zu beachten. Sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen ständigem Wandel (BSG, Urteil vom 22. Juni 2004 – B 2 U 14/03 R -, BSGE 93, 63 <65>).

Die Einschätzung der MdE setzt voraus, dass der Arbeitsunfall beim Kläger eine Beeinträchtigung des Leistungsvermögens hervorgerufen hat, entweder durch einen unfallbedingten Gesundheitserst- oder einen damit im Ursachenzusammenhang stehenden Gesundheitsfolgeschaden.

Die unfallversicherungsrechtliche Zurechnung setzt erstens voraus, dass die Verrichtung der versicherten Tätigkeit den Schaden, gegebenenfalls neben anderen konkret festgestellten unversicherten (Wirk-)Ursachen, objektiv (mit-)verursacht hat. Für Einbußen der Verletzten, für welche die versicherte Tätigkeit keine (Wirk-)Ursache war, besteht schlechthin kein Versicherungsschutz und haben die Trägerinnen der gesetzlichen Unfallversicherung nicht einzustehen. (Wirk-)Ursachen sind nur solche Bedingungen, die erfahrungsgemäß die in Frage stehende Wirkung ihrer Art nach notwendig oder hinreichend herbeiführen. Insoweit ist Ausgangspunkt der Zurechnung die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie, nach der schon jeder beliebige Umstand als notwendige Bedingung eines Erfolges gilt, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele („conditio sine qua non“). Im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung muss eine versicherte Verrichtung, die im Sinne der „Conditio-Formel“ eine erforderliche Bedingung des Erfolges war, darüber hinaus in seiner besonderen tatsächlichen und rechtlichen Beziehung zu diesem Erfolg stehen. Sie muss (Wirk-)Ursache des Erfolges gewesen sein, muss ihn tatsächlich mitbewirkt haben und darf nicht nur eine im Einzelfall nicht wegdenkbare zufällige Randbedingung gewesen sein.

Ob die versicherte Verrichtung eine (Wirk-)Ursache für die festgestellte Einwirkung und die Einwirkung eine (Wirk-)Ursache für den Gesundheitserstschaden (oder den Tod) war, ist eine rein tatsächliche Frage. Sie muss aus der nachträglichen Sicht („ex post“) nach dem jeweils neuesten anerkannten Stand des Fach- und Erfahrungswissens über Kausalbeziehungen, gegebenenfalls unter Einholung von Sachverständigengutachten, beantwortet werden (vgl. dazu BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 – B 2 U 9/11 R -, SozR 4-2700 § 8 Nr. 44, Rz. 61 ff.).

Eine Verrichtung ist jedes konkrete Handeln von Verletzten, das objektiv seiner Art nach von Dritten beobachtbar und subjektiv, also jedenfalls in laienhafter Sicht, zumindest auch auf die Erfüllung des Tatbestandes der jeweiligen versicherten Tätigkeit ausgerichtet ist. Als objektives Handeln der Verletzten kann es erste Ursache einer objektiven Verursachungskette sein. Diese kann über die Einwirkung auf den Körper, über Gesundheitserstschäden oder den Tod hinaus bis zu unmittelbaren oder im Sinne von § 11 SGB VII, der für die zweite Prüfungsstufe andere Zurechnungsgründe als die Wesentlichkeit regelt, mittelbaren Unfallfolgen sowie auch zur MdE reichen, derentwegen das SGB VII mit der Rente ein Leistungsrecht vorsieht (vgl. BSG, a. a. O., Rz. 31).

Erst wenn die Verrichtung, die möglicherweise dadurch verursachte Einwirkung und der möglicherweise dadurch verursachte Erstschaden festgestellt sind, kann und darf auf der ersten Prüfungsstufe der Zurechnung, also der objektiven Verursachung, über die tatsächliche Kausalitätsbeziehung zwischen der Verrichtung und der Einwirkung mit dem richterlichen Überzeugungsgrad mindestens der Wahrscheinlichkeit entschieden werden. Es geht hierbei ausschließlich um die rein tatsächliche Frage, ob und gegebenenfalls mit welchem Mitwirkungsanteil die versicherte Verrichtung, gegebenenfalls neben anderen konkret festgestellten unversicherten (Wirk-)Ursachen, eine (Wirk-)Ursache der von außen kommenden, zeitlich begrenzten Einwirkung auf den Körper von Versicherten war (vgl. BSG, a. a. O., Rz. 32).

Zweitens muss der letztlich durch die versicherte Verrichtung mitbewirkte Schaden rechtlich auch unter Würdigung unversicherter Mitursachen als Realisierung einer in den Schutzbereich der begründeten Versicherung fallenden Gefahr, eines dort versicherten Risikos, zu bewerten sein. Denn der Versicherungsschutz greift nur ein, wenn sich ein Risiko verwirklicht hat, gegen das die jeweils begründete Versicherung Schutz gewähren soll (vgl. BSG, a. a. O., Rz. 33).

Wird auf der ersten Stufe die objektive (Mit-)Verursachung bejaht, indiziert dies in keiner Weise die auf der zweiten Stufe der Zurechnung rechtlich zu gebende Antwort auf die Rechtsfrage, ob die Mitverursachung der Einwirkung durch die versicherte Verrichtung unfallversicherungsrechtlich rechtserheblich, also wesentlich, war. Denn die unfallversicherungsrechtliche Wesentlichkeit der (Wirk-)Ursächlichkeit der versicherten Verrichtung für die Einwirkung muss eigenständig rechtlich nach Maßgabe des Schutzzweckes der jeweils begründeten Versicherung beurteilt werden (vgl. BSG, a. a. O., Rz. 34). Sie setzt rechtlich voraus, dass der Schutzbereich und der Schutzzweck der jeweiligen durch die versicherte Verrichtung begründeten Versicherung durch juristische Auslegung des Versicherungstatbestandes nach den anerkannten Auslegungsmethoden erkannt werden. Insbesondere ist festzuhalten, ob und wie weit der Versicherungstatbestand gegen Gefahren aus von ihm versicherten Tätigkeiten schützen soll (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 15. Mai 2012 – B 2 U 16/11 R -, SozR 4-2700 § 2 Nr. 21, Rz. 21 ff.). Nur wenn beide Zurechnungskriterien bejaht sind, erweist sich die versicherte Verrichtung als wesentliche Ursache (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 – B 2 U 9/11 R -, SozR 4-2700 § 8 Nr. 44, Rz. 37).

Diese Voraussetzungen müssen für jeden einzelnen Gesundheitserstschaden erfüllt sein. Ein solcher ist jeder abgrenzbare Gesundheitsschaden, der unmittelbar durch eine versicherte Einwirkung objektiv und rechtlich wesentlich verursacht wurde, die durch ein- und dieselbe versicherte Verrichtung objektiv und rechtlich wesentlich verursacht wurde. Es handelt sich also um die ersten voneinander medizinisch abgrenzbaren Gesundheitsschäden, die infolge ein- und derselben versicherten Verrichtung eintreten (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 – B 2 U 9/11 R -, juris, Rz. 39).

Hinsichtlich des Beweismaßstabes gilt für die Beweiswürdigung bei der Tatsachenfeststellung, dass die Tatsachen, die solche Gesundheitsschäden erfüllen, im Grad des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen müssen. Demgegenüber genügt für den Nachweis der naturphilosophischen Ursachenzusammenhänge zwischen der versicherten Einwirkung und einem Gesundheitserstschaden sowie zwischen einem Gesundheitserst- und einem Gesundheitsfolgeschaden der Grad der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die Glaubhaftmachung und erst Recht nicht die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteile vom 2. April 2009 – B 2 U 29/07 R -, juris, Rz. 16 und 31. Januar 2012 – B 2 U 2/11 R -, juris, Rz. 17).

Das Bestehen einer Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens muss ausgehend von konkreten Funktionseinbußen beurteilt werden. Soweit die MdE sich nicht ausnahmsweise unmittelbar aus den Unfallfolgen erschließt, bilden festgestellte und eindeutig nach gängigen Diagnosesystemen (z. B. ICD-10, DSM-IV) konkret zu bezeichnende Krankheiten (vgl. BSG, Urteile vom 9. Mai 2006 – B 2 U 1/05 R -, BSGE 96, 196 <203> und vom 15. Mai 2012 – B 2 U 31/11 R -, juris, Rz. 18; Urteile des Senats vom 26. November 2015 – L 6 U 50/15 -, juris, Rz. 48 m. w. N. und vom 17. März 2016 – L 6 U 4796/13 -, juris, Rz. 37), wobei von einem normativ-funktionalen Krankheitsbegriff auszugehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 27. Juni 2017 – B 2 U 17/15 R -, juris, Rz. 22 m. w. N.), die Tatsachengrundlage, von der ausgehend die Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Leistungsvermögens auf dem Gebiet des gesamten Erwerbslebens zu beurteilen ist (BSG, Urteil vom 18. Januar 2011 – B 2 U 5/10 R -, juris, Rz. 17 m. w. N.).

Nach diesen Maßstäben hat der streitgegenständliche und mit Bescheid vom 6. Dezember 2016 bindend anerkannte (§ 77 SGG) Versicherungsfall nicht zu einer Funktionsbeeinträchtigung geführt, welche eine MdE von wenigstens 10 v. H. stützt, wie es Voraussetzung für die begehrte Leistungsgewährung ist, unterstellt bei dem Arbeitsunfall vom 4. März 2014 handelt es sich um einen Stützrententatbestand (§ 56 Abs. 1 Satz 2, 3 und 4 SGB VII), der seinerseits eine MdE von mindestens 10 v. H. bedingt.

Dem Kläger wurde am 26. Juni 2013 gegen 20 Uhr bei einem Freundschaftsspiel von einem Mitspieler der gegnerischen Mannschaft von hinten in den Genitalbereich getreten, also bei der Ausübung seiner versicherten Beschäftigung (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII). Denn er stand in einem Vertragsverhältnis als Fußballspieler mit dem SpVgg N. e. V. Hierfür ist die Beklagte verbandszuständig (§ 114 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. der Anlage 1 Nr. 7, § 121 Abs. 1, § 133 Abs. 1, § 136 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII i. V. m. § 3 Abs. 1 Ziff. I 9 ihrer Satzung).

Hierbei erlitt der Kläger eine Hodenprellung links mit einem Einriss der Hodenhaut, was die Beklagte mit Bescheid vom 6. Dezember 2016 als Folgen des Arbeitsunfalls vom 26. Juni 2013 bindend anerkannte. Gleichzeitig stellte sie bestandskräftig fest, dass die Krampfaderbildung im linken Hodenbereich unfallunabhängig ist, weshalb ohne Belang ist, dass sie der Sachverständige Prof. Dr. K. lediglich als Konkurrenzursache für die nicht unfallbedingten Testalgien ausschied. Die Hodenprellung links mit einem Einriss der Hodenhaut war bereits Ende Juli 2016 ausgeheilt, wie Dr. L. nach seinem im Wege des Urkundenbeweises verwerteten Gutachten (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung – ZPO) schlüssig erhob. Klinisch stellt er keine darauf zurückzuführende pathologische Folge mehr fest. Sowohl der Hodenpalpations- als auch der Sonographiebefund waren insoweit unauffällig. Damit zusammenhängende Funktionsstörungen waren somit weit vor Ablauf der 26. Woche nach dem streitgegenständlichen Versicherungsfall abgeklungen.

Zu einer weiteren, auf diesen Versicherungsfall zurückzuführenden Gesundheitsstörung, die das körperliche oder geistige Leistungsvermögen beeinträchtigt und sich auf die Arbeitsmöglichkeiten im Erwerbsleben auswirkt, kam es nicht. Zwar ist die Verkleinerung des linken Hodens, wie sie zuletzt der Sachverständige Prof. Dr. K. erhob, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die operativen Maßnahmen Ende Juni 2013 zurückzuführen, wie dieser schlüssig aufzeigte. Damit ist dieser Zustand eine mittelbare Unfallfolge im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 1 Var. 1 SGB VII. Zu diesem Ergebnis kam auch das SG, das indes mangels gegebener Sachentscheidungsvoraussetzungen die dem Kläger Recht gebende Tenorierung nicht hätte vornehmen dürfen. Dieser ist, bezogen auf die gegen eine solche Verwaltungsentscheidung gerichtete Anfechtungsklage, nicht klagebefugt im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG. Es reicht zwar aus, dass eine Verletzung in eigenen Rechten möglich ist und Rechtsschutzsuchende die Beseitigung einer in ihre Rechtssphäre eingreifenden Verwaltungsmaßnahme anstreben, von der sie behaupten, sie sei nicht rechtmäßig (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2007 – B 9/9a SGB 2/06 R -, SozR 4-3250 § 69 Nr. 5, Rz. 18). An der Klagebefugnis fehlt es demgegenüber, wenn eine Verletzung subjektiver Rechte nicht in Betracht kommt (vgl. BSG, Urteil vom 14. November 2002 – B 13 RJ 19/01 R -, BSGE 90, 127 <130>), weil hinsichtlich des Klagebegehrens keine gerichtlich überprüfbare Verwaltungsentscheidung vorliegt (BSG, Urteil vom 21. September 2010 – B 2 U 25/09 R -, juris, Rz. 12). Die Beklagte hat nicht mittels Verwaltungsakt festgestellt, dass die Verkleinerung des linken Hodens keine Folge des Arbeitsunfalls vom 26. Juni 2013 ist.

Eine mit der Verkleinerung des linken Hodens verbundene Beeinträchtigung des körperlichen Leistungsvermögens, wie sie tatbestandlich vorausgesetzt wird (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII), konnte gutachtlich ausgeschlossen werden. Insbesondere wirkt sich der Zustand nicht auf die Zeugungsfähigkeit des Klägers aus. Das von Dr. L. erhobene Spermiogramm wies einen Normalbefund aus. Zwischenzeitlich wurde der Kläger Vater, was seine Fruchtbarkeit verdeutlicht. Hinweise für eine mögliche Funktionsbeeinträchtigung des linken Hodens ergaben sich zuletzt auch bei der Untersuchung durch Prof. Dr. K. nicht. Zwar sieht die Unfallliteratur für den Verlust oder Schwund eines Hodens bei Gesundheit des anderen eine MdE von 10 v. H. vor (Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich, Unfallbegutachtung, 14. Aufl. 2019, S. 169). Nach dem materiellen Recht muss damit allerdings eine Beeinträchtigung des körperlichen Leistungsvermögens verbunden sein, was der Kläger verkennt. Denn entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Dezember 2019 – L 3 U 82/17-, juris, Rz. 37).

Nach alledem war seine Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

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