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Kostenübernahme einer Magenbandoperation durch Krankenkasse bei Adipositas

SG Schleswig – Az.: S 5 KR 19/11 – Urteil vom 27.03.2012

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 21.04.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.07.2008 verurteilt, der Klägerin eine minimalinvasive Verkleinerung des Magens als Sachleistung zu gewähren.

Die Beklagte erstattet der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten.

Tatbestand

Die am 23. Februar 1972 geborene Klägerin begehrt die Gewährung einer chirurgischen Maßnahme zur Behandlung ihrer Adipositas von der Beklagten.

Die Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Mit Antrag vom 29. Februar 2008 hat sie die Übernahme der Kosten für eine geplante Magenbandoperation beantragt. Beigefügt war dem Antrag eine Stellungnahme des Chirurgen Dr. … aus dem Adipositaszentrum Nord in …, der eine Binge-Eating-Störung diagnostizierte aber eine Night-Eating-Störung oder ein generelles Sweat-Eating ausschloss. Aus seiner Sicht sei eine bariatrische Operation zur Behandlung der Adipositas der Klägerin indiziert. Im Antrag war ferner ein Attest des Allgemeinmediziners … vom 17. Januar 2008 beigefügt, in dem dieser bei der Klägerin neben Adipositas eine Hypertonie, eine Fettstoffwechselstörung, ein Wirbelsäulensyndrom und eine depressive Verstimmung diagnostizierte. Dr. … bestätigte diverse Versuche zur Gewichtsreduktion in Eigenregie, die aber erfolglos geblieben seien. Ferner lag ein psychologischer Bericht der mit dem Adipositaszentrum Nord kooperierenden Diplompsychologen … … vom 12. Januar 2008 vor, in dem diese aus psychologischer Sicht keine Kontraindikation für die geplante Operation sah. Bestätigungen über die Teilnahme an einer Adipositasselbsthilfegruppe und eine Ernährungsberatung, beides veranlasst über das Adipositaszentrum Nord, lagen dem Antrag ebenso wie weitere medizinische Unterlagen und ein Ernährungsprotokoll bei. Die Klägerin hat ferner eine eigene Aufstellung über ihre Versuche zur Gewichtsreduktion in den Jahren 1997 bis 2005 beigefügt. Daraus ergeben sich diverse Diätversuche, das Betreiben von Sport in unterschiedlicher Intensität zu unterschiedlichen Zeiträumen in den Sportarten Faustball, Fahrrad fahren, Schwimmen sowie Crosstraining. Schließlich war dem Antrag auch eine Bescheinigung der Weight Watchers Organisation über die Teilnahme an 99 Sitzungen in den Jahren 2004 bis 2007 beigefügt, in der eine Gewichtsreduktion von 50 Pfund bestätigt wurde.

Die Beklagte holte zur sozialmedizinischen Bewertung eine Stellungnahme durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) ein. In ihrer Stellungnahme vom 9. April 2008 führte die Sachverständige des MDK Dr. … aus, die Voraussetzungen für einen magenchirurgischen Eingriff zur Behandlung der Adipositas der Klägerin lägen noch nicht vor, denn es bestünden noch Behandlungsalternativen. So sei eine dauerhafte anstatt einer phasenweisen Ernährungsumstellung erforderlich. Zudem sei eine psychotherapeutische Behandlung wie z.B. eine Verhaltenstherapie aussichtsreich. Darüber hinaus müssten mehrmals wöchentlich sportliche Betätigungen empfohlen werden. Insgesamt müsste mindestens sechs bis zwölf Monate eine konservative Therapie entsprechend den derzeit geltenden Adipositasrichtlinien durchgeführt werden.

Kostenübernahme einer Magenbandoperation durch Krankenkasse bei Adipositas
Symbolfoto: Von ESB Professional/Shutterstock.com

Mit Bescheid vom 21. April 2008 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Magenbandoperation ab. In der Begründung schloss sie sich dabei den Ausführungen von Frau Dr. … an. Der dagegen durch die Klägerin erhobene Widerspruch vom 20. Mai 2008 blieb aus ihrer Sicht erfolglos. Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juli 2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Mit der am 2. September 2008 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen für einen kassenlastigen magenchirurgischen Eingriff bei ihr vorliegen. Konservative Behandlungsmöglichkeiten erhält sie für erschöpft. Sie weist darauf hin, dass sich ihr Gewicht während des laufenden Verfahrens immer wieder geändert hat, mittlerweile aber 156 kg erreicht hat, was bei ihrer Körpergröße von 161 cm einem BMI von 60,2 entspreche. In ihrem Anspruch sieht sie sich mittlerweile auch durch den neuen Begutachtungsleitfaden des medizinischen Dienstes der Spitzenverbandes und der Krankenkassen (MDS) zum Thema Adipositas gestützt. Darin werde bei Patienten mit einem BMI über 60 eine chirurgische Therapie der Adipositas als alternativlos dargestellt und empfohlen. Auch die inzwischen erfolgte Neufassung der S 3 Leitlinie der Deutschen Adipositas Gesellschaft „Chirurgie der Adipositas“ vom April 2010 zieht die Klägerin zur Stützung ihres Anspruchs heran.

Die Klägerin hat ursprünglich beantragt, die Beklagte zur Übernahme der Kosten für eine Magenbandoperation zu verurteilen. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin mitgeteilt, dass sie mit den behandelnden Ärzten derzeit noch prüfe, welches chirurgische Verfahren in ihrem Fall zur Behandlung der Adipositas sachgerecht sei. Möglicherweise sei eher eine Magenbypassoperation indiziert.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21. April 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2008 zu verurteilen, der Klägerin eine minimalinvasive operative Verkleinerung des Magens als Sachleistung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält die Voraussetzungen für eine kassenlastige magenchirugische Adipositasbehandlung weiterhin für nicht gegeben. Diese Auffassung stützt sie auch auf während des Verfahrens eingeholte weitere Stellungnahmen des MDK, wobei Frau Dr. … am 28. Juni 2011 Potenziale für eine deutliche Gewichtsreduktion durch konservative Behandlungsmaßnahmen auch deshalb bejahrte, weil es der Klägerin während einer dreimonatigen stationären Rehabilitationsbehandlung gelungen war, 23 kg abzunehmen. Es sei zu erwarten, dass eine wesentlich höhere Gewichtsreduktion während einer sechs bis zwölf Monate andauernden multimodalen Therapie erreicht werden könne. Die Beklagte äußert ferner die Ansicht, dass die gegen Ende des Verfahrens erneut eingetretene deutliche Gewichtszunahme für eine Kontraindikation hinsichtlich der begehrten chirurgischen Adipositasintervention spreche. Noch bei der Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. … im Juli 2007 habe der BMI bei 52,7 gelegen. Danach habe die Diplompsychologin … bestätigt, dass keine Gewichtszunahme mehr stattgefunden habe und die Klägerin nicht mehr auf unkontrolliertes Essen zur Problembewältigung zurückgreife. Aufgrund der jetzigen Gewichtszunahme dränge sich der Eindruck auf, dass die Klägerin nach wie vor unter starken Essstörungen leide, die keinesfalls unter Kontrolle seien. Ein instabiler psychologischer Zustand sei auch nach den aktuellen S 3 Leitlinien eine Kontraindikation für magenverkleinernde Operationen.

Zur medizinischen Sachverhaltsaufklärung ist im Gerichtsverfahren ein Rehabilitationsentlassungsbericht aus der Heliosklinik … über den dortigen Aufenthalt der Klägerin vom 9. September bis 12. Dezember 2008 eingeholt worden. Dort wurde eine schwere depressive Episode, eine Binge-eating-Störung und Adipositas diagnostiziert. Der BMI lag bei Aufnahme bei 52,7 und bei Entlassung bei 43,9. Das Gericht hat ferner von dem Chirurgen Dr. … ein Sachverständigengutachten eingeholt. In seinem Gutachten vom 8. September 2009 stellte der Sachverständige einen BMI von 52,7 fest. Des Weiteren führte er aus, dass eine zwingende Indikation zur Operation noch nicht gestellt werden könne, weil erst Maßnahmen zur längerfristigen Stabilisierung des Essverhaltens erfolgen müssten. Insbesondere sei unter Berücksichtigung der in … diagnostizierten schweren Depression und der Essstörung zunächst eine längerfristige ambulante psychotherapeutische Behandlung, gegebenenfalls auch stationär, erforderlich. Nach Einleitung dieser Therapie könne in Zusammenarbeit mit dem Psychotherapeuten bei einem weiteren stagnieren des Gerichts eine Magenbandoperation indiziert werden.

In Reaktion auf dieses Gutachten brachte die Klägerin eine Stellungnahme der Suchttherapeutin … vom Diakonischen Werk in … bei, in der diese eine möglichst baldige Magenbandoperation befürwortete und auf die langen Wartezeiten für den Beginn einer Psychotherapie, zu der die Klägerin angemeldet sei, hinwies. Aus ihrer Sicht leide die Klägerin nicht an einer schweren Depression, sondern habe vorübergehend an einer reaktiven depressiven Episode gelitten. In der dazu von dem Sachverständigen Dr. … eingeholten ergänzenden Stellungnahme führte dieser am 18. März 2010 aus, er halte im Hinblick auf den Entlassungsbericht aus … weiter, die psychische Stabilisierung für erforderlich. Wenn dies erfolgt sei, könne die medizinische Indikation für eine Magenbandoperation aber gestellt werden. Abgesehen von der Psychotherapie habe die Klägerin alle anderen Bedingungen für eine adipositaschirurgische Operation erfüllt, so dass nach Stabilisierung der psychischen Situation und des Essverhaltens die Voraussetzungen für eine Magenbandoperation im Sinne des Ultima ratio Prinzips gegeben seien.

Im Einverständnis der Beteiligten hat das Gericht das Verfahren mit Beschluss vom 23. April 2010 im Hinblick auf die abzuwartende Psychotherapie zum Ruhen gebracht. Nach Durchführung der Psychotherapie ist das Verfahren wieder aufgenommen worden. Mit am 4. Februar 2011 bei dem Gericht eingegangenen Bericht bestätigte die Behandelnde Psychotherapeutin …, dass die psychische Verfassung der Klägerin stabilisiert werden konnte. So greife sie nicht mehr auf übermäßiges Essen zur Problembewältigung zurück. Die Klägerin habe auch gelernt, bei Konflikten mit ihrer Herkunftsfamilie oder im Alltagsleben anders zu reagieren. Sie fühle sich nicht mehr sofort angegriffen und habe Strategien erlernt, die ein selbstbewusstes und konstruktives Verhalten ermöglichten. Im Rahmen der Behandlung sei auch versucht worden, kognitiv eine kontrollierte Essmenge bzw. ein Sättigungsgefühl zu erreichen. Die Klägerin sei sehr engagiert bestrebt gewesen, allerdings seien die Maßnahmen im Sinne einer Verschlechterung der Symptomatik erfolglos gewesen. Eine depressive Problematik habe nicht mehr festgestellt werden können. Die Klägerin reichte ferner einen Bericht des Lungenarztes Dr. … vom 24. September 2010 zur Akte, in den einen schwergradigen Schlafapnoesyndrom bei einem BMI von 54,6 beschrieben wurde. Dr. … führte aus, auch aus neurologischer Sicht sei ein Magenband empfehlenswert.

Am 28. April 2011 erstattete der Sachverständige Dr. … auf Anforderung des Gerichtes eine weitere ergänzende Stellungnahme. Darin führte er aus, nach nunmehr durchgeführter Stabilisierung des psychischen Gesundheitszustandes der Klägerin sei eine adipositaschirurgische Maßnahme im Sinne des Ultima Ratio Prinzips indiziert. Er wies ebenfalls auf die Neufassung der Leitlinien zur Adipositaschirurgie hin, wonach von einer Erfolglosigkeit der konservativen gewichtsreduzierenden Maßnahmen auszugehen sei.

Die Klägerin hat am 30. Januar 2012 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in gleicher Sache gestellt. Dieses gerichtliche Eilverfahren ist noch anhängig.

Ergänzend wird hinsichtlich des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten auf deren Schriftsätze, sowie den weiteren Inhalt der Gerichtsakten und den Inhalt der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten sowie den Inhalt der Gerichts zum gerichtlichen Eilverfahren S 5 KR 2/12 ER Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und auch begründet.

Zunächst stößt es auf keine Zulässigkeitsbedenken, wenn die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 27. März 2012 einen anderen Klageantrag gegenüber ihrem vorherigen schriftlichem Vorbringen gestellt hat, der anders als zuvor nicht mehr nur auf die Gewährung eines Magenbandes, sondern allgemein auf eine chirurgische Maßnahme zur Behandlung der Adipositas gerichtet ist. Dies stellt keine Klageänderung, sondern eine nach § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG zulässige Antragsänderung dar. Der Klagegrund hat sich durch die Antragsumformulierung nicht geändert. Sachlicher Streitgegenstand der Beteiligten war während des gesamten Verfahrens allein die Frage, ob die Klägerin die Gewährung einer magenchirurgischen Operation zur Herbeiführung einer Gewichtsreduktion verlangen kann. Die Wahl der konkreten Operationsmethode war dabei nie Gegenstand der Auseinandersetzungen der Beteiligten. Aus der S 3 – Leitlinie Chirurgie der Adipositas der Deutschen Adipositas Gesellschaft ergibt sich, dass die konkrete Verfahrenswahl bei einer magenchirurgischen Maßnahme in Abhängigkeit der Konstellation im Einzelfall gestellt werden soll. Die verschiedenen zur Verfügung stehenden operativen Techniken wie Magenband, biliopankreatische Diversion, Magenbypass oder Schlauchmagen müssen daher als unterschiedliche Ausprägungen derselben Leistungsart „adipositaschirurgische Maßnahme“ betrachtet werden, die rechtlich kein aliud zueinander beinhalten.

Die Klage ist auch begründet. Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine magenchirurgische Operation zur Behandlung ihrer Adipositas und des damit verbundenen stationären Aufenthalts durch die Beklagte.

Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, sie zu heilen, ihrer Verschlimmerung zu verhüten oder die Krankheitsbeschwerden zu lindern. Ist das Behandlungsziel nur durch eine vollstationäre Aufnahme in einem Krankenhaus erreichbar, so besteht nach § 39 Abs. 1 SGB V auch ein Anspruch auf vollstationäre Behandlung. Als Krankheit ist ein regelwidriger Körper – oder Geisteszustand anzusehen, der die Notwendigkeit ärztlicher Heilbehandlung oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Als regelwidrig gilt dabei ein Zustand, der vom Leitbild eines gesunden Menschen abweicht. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist auch die bei der Klägerin vorliegende Adipositas als Krankheit anzusehen. Dabei ist unerheblich, dass in der medizinischen Wissenschaft umstritten ist, ob bereits der Adipositas selbst Krankheitswert zukommt oder nur den eventuellen Begleit- und Folgeerkrankungen. Im krankenversicherungsrechtlichen Sinn liegt zumindest ab einem gewissen BMI eine Krankheit vor, da ab dann eine Behandlung mit dem Ziel der Gewichtsreduktion erforderlich ist, weil anderenfalls ein erhöhtes Risiko des Auftretens von Begleit- und Folgeerkrankungen wie Stoffwechselerkrankungen, Herz- und Kreislauferkrankungen, Atemwegsbeschwerden, Erkrankungen des Magen-Darmtrakts und Beeinträchtigungen des Halte- und Bewegungsapparats besteht (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 19. Februar 2003, B 1 KR 1/02 R). Die Behandlung einer extrem Adipositas mittels eines chirurgischen Eingriffs im Bereich des an sich gesunden Magens ist daher im System der gesetzlichen Krankenversicherung nicht ausgeschlossen, auch wenn der Heilerfolg mittelbar durch eine zwangsweise Begrenzung der Nahrungsmenge erreicht werden soll und steht bei einer Durchführung in einem nach § 108 SGB V zugelassenen Krankenhaus als neue Behandlungsmethode anders als im Rahmen der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung auch nicht unter dem Erlaubnisvorbehalt (vgl. BSG a.a.O.). Gleichwohl kommt eine chirurgische Behandlung der extremen Adipositas auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung nur dann in Betracht, wenn bei dem jeweiligen Patienten die Indikation für eine solche Therapie gegeben ist. Das Behandlungsziel einer Gewichtsreduktion lässt sich grundsätzlich auf verschiedenen Wegen erreichen. Nach der zitierten Rechtsprechung des BSG kommt die magenchirurgische Behandlung zur Erreichung dieses Ziels als Kassenleistung nur ultima ratio in Betracht. Voraussetzung für die Durchführung eines solchen Eingriffs im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ist, dass eine vollstationäre chirurgische Behandlung auch unter Berücksichtigung der Behandlungsalternativen diätische Therapie, Bewegungstherapie und Psychotherapie notwendig und wirtschaftlich ist. Ferner müssen aus medizinischer Sicht die Voraussetzungen für eine chirurgische Intervention gegeben seien. In Anlehnung an die Leitlinien der Deutschen Adipositas Gesellschaft in ihrer aktualisierten Fassung (S 3 Leitlinie Chirurgie der Adipositas) ist dabei zu fordern, dass ein magenchirurgischer Eingriff grundsätzlich nur ultima ratio nach Ausschöpfung konservativer Behandlungsmethoden vorgenommen wird und nur bei Patienten, die eine Reihe von weiteren Bedingungen erfüllt. So kommt eine chirurgische Therapie grundsätzlich erst ab einem BMI von 40 und ab einem BMI von 35 mit relevanten Komorbidoitäten in Betracht. Liegt eine Komorbidität in Gestalt eines Diabetes mellitus Typ II vor, kann auch bei einem BMI zwischen 30 und 35 bereits eine bariatrische Operation erwogen werden. Ferner muss ein tolerables Operationsrisiko auch unter Berücksichtigung der postoperativen Compliance des Patienten bestehen. Nach der Neufassung der S 3 Leitlinie gelten die Binge-Eating-Störung ebenso wie psychische Erkrankungen oder kindliche Missbrauchserfahrungen nicht mehr als generelle Kontraindikation gegen eine bariatrische Maßnahme. Instabile psychopathologische Zustände, aktive Substanzabhängigkeit oder eine unbehandelte Bulimie werden aber nach wie vor als Kontraindikation gewertet. Schließlich sollten vor Indikationsstellung zu einem magenchirurgischen Eingriff konservative Behandlungsalternativen erfolglos erschöpft seien. In Betracht kommen dabei die Umstellung der Ernährung vor allem mittels einer energiereduzierten Mischkost und einer weiteren ernährungsmedizinischen Maßnahme, Bewegungstherapie durch Ausdauer und/oder Kraftausdauersportarten im Umfang von mindestens zwei Stunden pro Woche, falls keine Barrieren bestehen (etwa Gelenkbeschwerden) und die Durchführung einer Psychotherapie falls eine Essstörung (Binge-Eating-, Night-Eating oder eine Psychopathologie (Depression, Ängstlichkeit) vorliegt. Die genannten Therapiearten müssen mindestens sechs Monate durchgeführt werden und werden spätestens nach zwölf Monaten abschließend beurteilt. Ausnahmsweise kann aber auch eine primäre Indikation für eine magenchirurgische Maßnahme gestellt werden, wenn Art und/oder Schwere der Krankheit bzw. psychosoziale Gegebenheiten bei Erwachsenen annehmen lassen, dass eine chirurgische Therapie nicht aufgeschoben werden kann oder die konservative Therapie ohne Aussicht auf Erfolg ist.

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe liegt bei der Klägerin mittlerweile die medizinische Indikation zur Durchführung einer magenchirurgischen Behandlung der Adipositas vor. Insbesondere sind konservative Behandlungsalternativen erschöpfend versucht worden, jedoch erfolglos geblieben. So ergibt sich aus den von der Klägerin eingereichten Unterlagen, aber auch aus ihren Angaben gegenüber dem gerichtlichen Sachverständigen …, dem Entlassungsbericht aus den Helioskliniken … und den Angaben der Psychotherapeutin …, dass die Klägerin über einen langen Zeitraum immer wieder versucht hat, ihr Gewicht durch Ernährungsumstellung zu reduzieren. Dabei hat sie auch beachtliche Erfolge erzielt, die sich aber nicht als nachhaltig erwiesen haben. So ist ihr durch Teilnahme an dem Programm der Weight Watchers Gruppe ein Gewichtsverlust von 25 kg gelungen, sie konnte diesen Gewichtsverlust aber offenbar nicht halten. Ähnlich verhielt es sich mit den beachtlichen Erfolgen während des dreimonatigen Aufenthalts in der Klinik in …. Dort hat die Klägerin 23 kg abgenommen, konnte dieses Gewicht aber außerhalb der geschützten Therapiebedingungen im Alltag nicht halten und hat relativ schnell wieder den BMI, der bei Beginn des stationären Aufenthalts vorlag, erreicht bzw. sogar überschritten. Auch Bewegungstherapie ist durch die Klägerin durchgeführt worden, ein langfristiger Erfolg stellte sich allerdings nicht ein. Aus der von ihr eingereichten Aufstellung ergibt sich, dass sie neben Spaziergängen, Fahrradfahren und Schwimmen insbesondere ab 2004 verstärkt Sport getrieben hat, durch Besuche eines Fitnessstudios Teilnahme an Gymnastikkursen, Faustballspiel und Anschaffung eines Crosstrainers. Sowohl die Versuche zur Gewichtsreduktion durch Ernährungsumstellung als auch die Bewegungstherapie erfolgte dabei unter ärztlicher Anleitung, denn aus dem Verwaltungsverfahren eingereichten Attest von Dr. … ergibt sich, dass dieser die Abnehmversuche der Klägerin ärztlich begleitet hat. Dies wird durch die telefonischen Angaben des Dr. … gegenüber dem gerichtlichen Sachverständigen Dr. … anlässlich dessen ergänzender Stellungnahme vom 30. September 2011 bestätigt, in der dieser eine intensive Weiterbetreuung der Klägerin in seiner Praxis auch nach Entlassung aus der Rehamaßnahme mit einer Fortführung der energiereduzierten Mischkost bestätigte. Schließlich ist auch die Behandlungsalternative Psychotherapie, die hier aufgrund der in … gestellten Diagnosen in Betracht kam, bezogen auf die Gewichtsreduktion erfolglos durchgeführt worden. Der medizinischen Aktenlage, insbesondere des Entlassungsberichtes aus … war zu entnehmen, dass die Klägerin an psychischen Problemen litt, die ihre Ursache vor allem in Konflikten mit ihrer Herkunftsfamilie hatten und sie über nicht hinreichende Fähigkeiten zum Umgang mit diesen Konflikten verfügte. In diesem Zusammenhang hat die Klägerin auch Essattacken in Form einer Binge-Eating-Störung zur Bewältigung ihrer psychischen Instabilität eingesetzt. Dem Behandlungsbericht von Frau … lässt sich entnehmen, dass die psychische Situation der Klägerin stabilisiert werden konnte und sie alternative Lösungsstrategien hinsichtlich der Konflikte mit ihrer Herkunftsfamilie entwickeln konnte und nicht mehr auf Essattacken zur vermeintlichen Problemlösung zurückgreift.

Zur Überzeugung des Gerichtes steht die psychische Konstitution der Klägerin nach Durchführung der ambulanten Psychotherapie bei Frau … daher einem baraitrischem Eingriff nicht mehr entgegen. Auf die Diagnose einer Binge-Eating-Störung kommt es nach den obigen Aufführungen ohnehin nicht mehr an, von dieser ist nach den Angaben von Frau … auch nicht mehr auszugehen. Die Aktenlage spricht für eine psychische Stabilisierung der Klägerin. Dies entspricht auch dem Eindruck, den die Kammer sich in der mündlichen Verhandlung vom 27. März 2012 von der Klägerin machen konnte. Ein instabiler psychopathologischer Zustand kann zur Überzeugung der Kammer als Kontraindikation für eine bariatrische Operation nicht angenommen werden. Insbesondere kann dieser nicht allein daraus geschlossen werden, dass die Klägerin weiter an Gewicht zugenommen hat. Bereits aus dem genannten Bericht von Frau … ergibt sich, dass ihre Therapie zwar hinsichtlich der psychischen Stabilisierung der Klägerin erfolgreich war, aber nicht hinsichtlich der weiteren Gewichtsreduktion. Auch während der Psychotherapie hat die Klägerin weiter an Gewicht zugenommen. Zwar wäre eine Gewichtsreduktion ein wünschenswerter Nebenerfolg einer erfolgreichen Psychotherapie, sie steht damit aber nicht in unmittelbaren Zusammenhang. Auch wenn die Klägerin Essattacken nicht mehr zur Problembewältigung bzw. aus Frustration gegenüber Kränkungserlebnissen einsetzt, verhindert dies nicht automatisch, dass eine weitere erhöhte Kalorienzufuhr zu einem stetig steigenden Gewicht führt. Daraus kann eine Kontraindikation für eine magenchirurgische Maßnahme noch nicht geschlossen werden. Aus der medizinischen Aktenlage ergibt sich vielmehr, dass die Klägerin hinsichtlich der Notwendigkeit einer dauerhaften Gewichtsreduktion einsichtig und motiviert ist.

Der BMI der Klägerin lag während des gesamten Verfahrens über 40 und sprach für sich genommen schon für ein magenchirurgischen Eingriff ohne Vorlage von Begleit- und Folgeerkrankungen. Ungeachtet dessen ist festzustellen, dass bei der Klägerin eine Reihe von adipositasindizierten Begleit- und Folgeerkrankungen vorliegen. So leidet sie an einer arteriellen Hypertonie, an einer Fettstoffwechselstörung und an einem schwergradigen Schlafapnoesyndrom. Zudem bestehen ausweislich des aktuellen Attestes des Orthopäden Dr. … fortgeschrittene orthopädische Erkrankungen in den Knie- und Hüftgelenken sowie im Bereich der Wirbelsäule, die ebenfalls auf das hochgradige Übergewicht zurückzuführen sind.

Da die Kammer von einer erfolglosen Erschöpfung konservativer Behandlungsmethoden ausgeht, kommt es auf die Frage einer primären Indikationsstellung nicht mehr an. Das Gericht geht aber davon aus, dass zumindest ab einem BMI von 60 die nachhaltigen Erfolgsaussichten konservativer Therapieversuche so gering sind, dass bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen ungeachtet der Erschöpfung konservativer Therapiemethoden bereits die primäre Indikation für ein magenchirurgischen Eingriff gestellt werden kann (so auch Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13. Oktober 2011, L 5 KR 12/11, zitiert nach juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

 

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