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Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit – Behandlungsverweigerung

Behandlungsverweigerung und Erwerbsminderungsrente: Ein komplexer Fall

Im vorliegenden Fall, entschieden vom Landessozialgericht Baden-Württemberg (Az.: L 9 R 1667/18), geht es um die Ablehnung einer Rente wegen Erwerbsminderung durch die Beklagte. Der Kläger, der unter Alkoholabhängigkeit und Epilepsie leidet, wurde von der Beklagten aufgefordert, eine Entgiftungs- und Entwöhnungsbehandlung durchzuführen. Die Beklagte argumentierte, dass der Kläger bei zumutbarer Alkohol- und Drogenabstinenz und regelmäßiger Einnahme der antiepileptischen Medikation ein über sechsstündiges Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Arbeiten hätte.

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Die medizinische Beurteilung

Die medizinischen Gutachten zeigten jedoch ein anderes Bild. Sie stellten eine schwere Gedächtnisstörung, eine reduzierte Aufmerksamkeitskapazität und eine Gefährdung durch epileptische Anfälle fest. Selbst einfachste Tätigkeiten mit durchschnittlichen Anforderungen an die Reaktions- und Arbeitsgeschwindigkeit, das Anpassungs- und Umstellungsvermögen, die explizite Lernfähigkeit und das explizite Gedächtnis sowie mit Verantwortung für Personen und Maschinen seien dem Kläger nicht möglich.

Die Ablehnung der Rente

Die Beklagte lehnte die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab und stellte die Authentizität des Antwortverfahrens in Frage. Sie argumentierte, dass der Alkoholismus eine psychische Störung von Krankheitswert sei, die durch eigene Willensanstrengung und Inanspruchnahme der Behandlungsmöglichkeiten innerhalb eines halben Jahres überwunden werden könne.

Die Gerichtsentscheidung

Das Gericht entschied, dass der Kläger die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nachgewiesen hat. Es stellte fest, dass beim Kläger eine Alkoholabhängigkeit und eine Epilepsie vorliegen. Es wurde auch festgestellt, dass eine Besserung des Gesundheitszustandes des Klägers nicht ausgeschlossen ist. Bei einer suffizienten Therapie ist danach eine Besserung des Gesundheitszustandes des Klägers und damit seiner Leistungsfähigkeit innerhalb von ein bis zwei Jahren möglich.

Die Folgen der Entscheidung

Trotz der Weigerung des Klägers, sich ärztlich behandeln zu lassen, wurde die Rentengewährung nicht ausgeschlossen. Die Verweigerung eines Versicherten, sich ärztlich behandeln zu lassen, stellt für sich genommen keine absichtliche Herbeiführung einer verminderten Erwerbsfähigkeit und damit keinen Ausschlussgrund für die Rentengewährung dar.


Das vorliegende Urteil

Landessozialgericht Baden-Württemberg – Az.: L 9 R 1667/18 – Urteil vom 26.05.2020

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 20. März 2018 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren. Im Übrigen verbleibt es bei der erstinstanzlichen Kostenentscheidung.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung streitig.

Der 1983 geborene Kläger ist gelernter Metallarbeiter. Er absolvierte in der Zeit vom 08.08.2005 bis 25.06.2008 eine Berufsausbildung zum Metallbearbeiter im Rahmen einer Rehabilitationsmaßnahme bei den v. A. Anstalten B., die er mit Bestehen der Abschlussprüfung beendete. Seitdem ist er arbeitslos und bezieht derzeit Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Bei ihm ist mittlerweile ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit den Merkzeichen G und B anerkannt wegen eines epileptischen Anfallsleidens.

Der Kläger durchlief in der Zeit vom 25.10.2012 bis 19.02.2013 bei Alkohol- und Drogenabhängigkeit und Epilepsie eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der Fachklinik C.. Im dortigen Entlassungsbericht vom 26.02.2013, der vom Arzt für Psychiatrie D. (Ärztlicher Leiter) und dem Dipl.-Sozialpädagogen E. erstellt wurde, wird ausgeführt, der Kläger sei nur eingeschränkt arbeitsfähig. Die Abhängigkeitserkrankung verbiete die Arbeit an Arbeitsplätzen mit Griffnähe zum Alkohol. Wegen der Epilepsie sei er schwerbehindert und bisher trotz Abstinenz nicht anfallsfrei. Wegen der deutlichen Nebenwirkungen der Medikation sei er allenfalls halbschichtig (drei bis unter sechs Stunden) leistungsfähig für leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten in einer geschützten Werkstatt. Aufgrund der bestehenden Einschränkungen (psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol, Cannabinoide, Amphetamine und Nikotin) sei er aktuell nicht in der Lage, den Anforderungen des ersten Arbeitsmarkts nachzukommen. In Folge der epileptischen Erkrankung und der daraus resultierenden Einschränkungen sei er sicherlich nicht dazu in der Lage, selbstständig und eigenverantwortlich zu leben. Zur Festigung der Abstinenz plane der Kläger die Durchführung einer ambulanten Nachsorge sowie die Anbindung an eine Selbsthilfegruppe. Der Kläger wurde aus dieser Maßnahme in eine betreute Wohngruppe entlassen. Mit Schreiben vom 08.03.2013 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) im Sinne einer Eingliederung in eine Werkstatt für behinderte Menschen ab, da die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht erheblich gefährdet sei. Eine ambulante Nachsorge brach der Kläger bereits nach einer Sitzung ab.

In einer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 13.05.2013 schätzte die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie F. das Leistungsvermögen für leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf unter drei Stunden täglich ein. Dies sei begründet durch das hirnorganische Psychosyndrom. Mit einer wesentlichen Besserung könne nicht gerechnet werden. Eine Belastbarkeit bestehe für eine Tätigkeit in einer Werkstatt für Behinderte (WfB), vorausgesetzt der Kläger sei suchtmittelabstinent.

Der Kläger steht seit 21.11.2012 unter Betreuung, die u.a. auch die Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern umfasst. Einen gestellten Antrag auf Bewilligung einer stationären Entwöhnungsbehandlung zog der Kläger mit Schreiben vom 01.07.2014 zurück.

Am 25.03.2015 stellte der frühere Betreuer des Klägers bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte ließ den Kläger am 15.05.2015 durch G., Facharzt für Allgemeinmedizin und Anästhesiologie, begutachten. Dieser führte im Gutachten vom 18.05.2015 zur Epikrise aus, der Kläger lebe derzeit mit einem Lebensgefährten in einer Notunterkunft der Stadt O.. Nach eigenen Angaben fühle er sich derzeit beschwerdefrei, leistungsfähig und arbeitsfähig. G. diagnostizierte eine Epilepsie, unter Medikation noch 1-2 Anfälle pro Monat, fortgesetzten Alkoholabusus ohne wesentliche Alkoholfolgeschäden und gelegentlichen Haschischkonsum. Er sah bei zumutbarer Alkohol- und Drogenabstinenz und regelmäßiger Einnahme der antiepileptischen Medikation nach einer evtl. erforderlichen Entgiftung ein über sechsstündiges Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Männerarbeiten mit erheblichen qualitativen Einschränkungen. Es werde eine nochmalige Entgiftungs- und Entwöhnungsbehandlung empfohlen.

Mit Bescheid vom 01.06.2015 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab. Dagegen legte der (frühere) Betreuer des Klägers mit Schreiben vom 15.06.2015 Widerspruch ein, der von der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 29.10.2015 zurückgewiesen wurde.

Am 29.11.2015 hat der Kläger durch seinen Betreuer Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG) erheben lassen und sein Begehren weiterverfolgt.

Das SG hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen. Dr. H., Facharzt für Neurologie, hat unter dem 28.01.2016 angegeben, den Kläger seit 2013 zu behandeln, wobei dieser sehr unregelmäßig komme und mehrfach Termine nicht wahrgenommen habe; zuletzt sei der Kläger im April 2015 erschienen. Er habe beim Kläger eine Epilepsie unklarer Genese mit sekundär generalisierten tonisch-klonischen Anfällen, Cannabisabusus und chronischem Alkoholkonsum diagnostiziert. Zwischenzeitlich habe sich der Kläger lediglich Rezepte für die Epilepsie abgeholt. Dr. I., Facharzt für Orthopädie, hat unter dem 02.02.2016 angegeben, den Kläger zuletzt am 29.10.2015 wegen rezidivierender Rückenschmerzen und eines vorbekannten Beckenschiefstands behandelt zu haben.

Hierzu hat Dr. J., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Sozialmedizin und Suchtmedizin, in einer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 17.02.2016 ausgeführt, aus den sachverständigen Zeugenaussagen ergäben sich keine Hinweise auf schwerwiegende hirnorganische Beeinträchtigungen beim Kläger. Es bestehe daher kein Beleg für eine Minderung des quantitativen Leistungsvermögens. Im Vordergrund stehe allerdings die Notwendigkeit einer qualifizierten Entzugsbehandlung mit anschließender stationärer Suchtrehabilitation.

Das SG hat sodann Prof. Dr. K., Ärztlicher Leiter des Epilepsiezentrums K.-K., mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. In dem zusammen mit dem Facharzt für Neurologie Dr. L. erstellten Gutachten vom 13.02.2017 hat Prof. Dr. K. eine strukturelle fokale Epilepsie mit komplex-fokalen und bilateral konvulsiven Anfällen ungeklärter Ätiologie, ein Alkoholabhängigkeitssyndrom, einen zumindest schädlichen Gebrauch von Cannabis sowie eine Störung durch sonstige Stimulanzien, einschließlich Koffein, und ein Tabakabhängigkeitssyndrom diagnostiziert. Bezogen auf die Epilepsie bestünden keine signifikanten Einschränkungen in der Leistungsfähigkeit hinsichtlich der Zeitdauer der Tätigkeiten, sondern lediglich qualitative Einschränkungen. Durch das plötzliche und unangekündigte Auftreten von Anfällen bestünden spezifische Gefährdungen. Alle Tätigkeiten, die mit einem erheblich über das alltagsübliche Maß hinausgehenden Risiko für Fremd- und Selbstgefährdungen verbunden sind, sollten vermieden werden. Dies gelte z.B. für Arbeiten an offenen rotierenden Maschinen oder in großer Höhe mit Absturzgefahr. Tätigkeiten mit Publikumsverkehr seien ebenfalls ungeeignet, ebenso Überwachungstätigkeiten mit einem hohen Maß an Verantwortung und Arbeiten, die mit erheblichen psychischen oder physikalischen Belastungsfaktoren verbunden seien. Fahrtauglichkeit bestehe aktuell nicht. Abgesehen davon, dass kein Zugriff auf Alkohol möglich sein sollte, bestehe keine Notwendigkeit für besondere Arbeitsbedingungen. Eine Besserung der Epilepsie sei bei Alkoholkarenz denkbar, ein vollständiges Abklingen jedoch unwahrscheinlich. Bezüglich der Abhängigkeitsproblematik und der Frage, ob es dem Kläger möglich wäre, eine anhaltende Alkoholkarenz durchzuhalten, sei die Einholung eines Gutachtens durch einen suchtmedizinisch erfahrenen Psychiater zu empfehlen.

Das SG hat daraufhin ein Sachverständigengutachten bei Dr. M., Facharzt für Neurologie, spezielle Schmerztherapie und Suchtmedizin (Chefarzt der S. Klinik Neurologie) mit neuropsychologischem Zusatzgutachten durch M.Sc.Psych. N. eingeholt. Dr. M. hat aufgrund ärztlicher Untersuchung des Klägers am 03.07.2017 im Gutachten vom 17.11.2017 beim Kläger ein anhaltendes organisches Psychosyndrom durch multiplen Substanzgebrauch mit deutlicher Störung von Gedächtnis, Aufmerksamkeit, visueller Exploration im Rahmen von Alkoholabhängigkeit, Nikotinabhängigkeit, schädlichem Gebrauch von Cannabis, Konsum von Medikamenten und eine medikamentös nicht kontrollierte strukturelle/fokale Epilepsie mit komplex-fokal/dyskognitiven und generalisiert tonisch-klonischen/bilateral konvulsiven Anfällen ungeklärter Ursache sowie eine arterielle Hypertonie festgestellt. Der Kläger sei schwer alkoholabhängig, was auch die erhobenen Laborwerte bestätigt hätten und habe auch am Untersuchungstag schon vor Beginn der Untersuchung mit seinem – ebenfalls alkoholabhängigen – Lebensgefährten vier Flaschen Bier getrunken. Während der Untersuchung habe er einen intermittierenden Tremor der Hände am ehesten im Rahmen eines Alkoholentzugs gezeigt. Beim Kläger lägen bei verminderter kognitiver Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit überwiegend hirnorganisch bedingte Einschränkungen als Folge von Drogen-, eventuell auch Medikamentenkonsum und regelmäßigen (nach Angaben des Klägers zwei bis vier Mal pro Monat) epileptischen Anfällen vor. Aufgrund der schweren Gedächtnisstörung, der reduzierten Aufmerksamkeitskapazität, der Verlangsamung sowie Gefährdung durch epileptische Anfälle sowie die schwankenden visuellen Leistungen seien auch einfachste Tätigkeiten mit durchschnittlichen Anforderungen an die Reaktions- und Arbeitsgeschwindigkeit, das Anpassungs- und Umstellungsvermögen, die explizite Lernfähigkeit und das explizite Gedächtnis sowie mit Verantwortung für Personen und Maschinen nicht möglich. Der Kläger sei aktuell nicht in der Lage, auch einfache geistige und leichte körperliche Arbeiten wie Hilfsarbeiten oder Überwachungsaufgaben länger als drei Stunden am Stück durchzuführen. Selbst unter aktuell unrealistischen Voraussetzungen (Alkohol-, Drogenabstinenz und normaler Wohnsituation) könne nur von einer teilweisen und langsamen Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit ausgegangen werden. Dies wäre nur in einem Zeitrahmen von mindestens einem Jahr realistisch. Bei fortgesetztem Alkoholkonsum in aktueller Menge (nach eigenen Angaben des Klägers ca. sechs Flaschen Bier pro Tag, zwei bis vier Zigaretten täglich, ein Mal pro Woche THC) sei mittel- bis langfristig eine weitere Verschlechterung der Gedächtnisleistung wahrscheinlich. Die Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit bestünden spätestens seit der aktuellen Begutachtung. Bei Alkohol- und Drogenabstinenz und regelmäßiger Einnahme der antiepileptischen Medikation könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von einem über sechsstündigen Leistungsbild ausgegangen werden.

M.Sc.Psych. N. (und Neuropsychologe in Weiterbildung, GNP) hat im Gutachten vom 07.12.2017 bei seiner neuropsychologischen Untersuchung am 15.09.2017 (Zeitdauer von 12:00 bis 15:00 Uhr sowie von 15:30 bis 17:30 Uhr) eine deutlich reduzierte Geschwindigkeit bei der visuellen Exploration (räumliche Aufmerksamkeit), eine mittelgradig eingeschränkte Aufmerksamkeitsteilung (Aufmerksamkeitskapazität) sowie im Bereich der sprachlichen und nichtsprachlichen Neugedächtnisleistungen schwere Einschränkungen und grenzwertige Leistungen beim Arbeitsgedächtnis und bei der Flexibilität der Aufmerksamkeit sowie eingeschränkte Flüssigkeitsleistungen festgestellt. Im Bereich der Exekutivfunktionen (kognitiven Steuerungsfähigkeiten) hätten sich grenzwertige Leistungen beim Arbeitsgedächtnis und bei der Flexibilität der Aufmerksamkeit sowie eingeschränkte Flüssigkeitsleistungen gezeigt. Die Belastbarkeit und konzentrative Ausdauer des Klägers sei eingeschränkt. Er habe angegeben, ca. 45 Minuten vor Beginn der Untersuchung einen halben Liter Bier getrunken zu haben, sei aber den Testungen zunächst anstrengungsbereit gefolgt. Bei durchgeführten Beschwerdevalidierungstests zur Erfassung der Leistungsmotivation seien aber zwei von drei Parametern an der Grenze gelegen, bei der bei nicht amnestischen Patienten eine nicht mehr optimale Leistungs- bzw. Anstrengungsbereitschaft diskutiert werden könne. Sie befänden sich aber noch im Bereich dessen, was bei amnestischen Patienten üblich sei und deutlich über der Ratewahrscheinlichkeit. Insgesamt seien die Ergebnisse aber valide und ohne systematische Verzerrung. Das Konstanthalten des Alkoholpegels am Tag der Untersuchung und auch während der Untersuchung (in einer Untersuchungspause habe der Kläger mit seinem Partner Bier getrunken) auf gewohntem Niveau sei der Leistung bei der Testung eher dienlich, da dadurch akute Konzentrationsschwierigkeiten und Ablenkung durch erfahrungsgemäß rasch einsetzende Entzugserscheinungen vermieden worden seien. Ein Alkoholverbot am Tag der Testung wäre auch aufgrund der Erhöhung des Anfallrisikos durch Entzugserscheinungen bis hin zur Gefahr eines Delirs medizinisch sicherlich nicht vertretbar gewesen. Der Kläger habe am Ende der Untersuchung körperlich sehr erschöpft gewirkt. 15 Minuten, nachdem der Kläger die Klinik verlassen hatte, habe den Untersucher ein Anruf des Lebenspartners erreicht, in dem dieser von einem gerade aufgetretenen epileptischen Anfall, wahrscheinlich komplex fokal (der Kläger habe das Bewusstsein verloren und sei zusammengesackt), berichtet habe. Der Untersucher habe den Kläger daraufhin aufgesucht, der wieder bei Bewusstsein gewesen sei, aber etwas durcheinander gewirkt und Fragen nur einsilbig beantwortet habe. Aufgrund der Beobachtung in der Untersuchungssituation sei davon auszugehen, dass dem Kläger auch die Bearbeitung von konzentrativ/geistig leicht- bis mittelgradig anspruchsvollen Tätigkeiten unter wohlwollender und motivierter Begleitung maximal zwei Stunden am Stück möglich sei, dann benötige er eine halbe Stunde Pause. Aufgrund der reduzierten Belastbarkeit und der reduzierten konzentrativen Ausdauer sei er wahrscheinlich nicht in der Lage, auch einfache geistige und leichte körperliche Arbeiten wie Hilfsarbeiten länger als drei Stunden am Stück in angemessener Geschwindigkeit durchzuführen. Wahrscheinlich sei er nach ungefähr zwei Stunden auf eine Pause angewiesen, was sich mit den meisten betriebsüblichen Pausenzeiten schwer vereinbaren lasse. Bei einem optimalen, wenn auch sicherlich nicht sehr wahrscheinlichen Verlauf (Alkoholabstinenz, normale Wohnsituation, gute Regeneration der Hirnleistungsfähigkeit) sei es möglich, dass sich Belastbarkeit und kognitive Leistungsfähigkeit so weit bessern, dass eine körperliche Tätigkeit mit geringen Ansprüchen an das Gedächtnis und weiteren qualitativen Einschränkungen für länger als drei Stunden ausgeführt werden kann. Ein solcher Verlauf dürfte mindestens ein, wenn nicht zwei Jahre in Anspruch nehmen.

Die Beklagte ist den Begutachtungen durch Dr. M. und den Psychologen N. unter Vorlage von Stellungnahmen des Sozialmediziners Dr. J. vom 07.12.2017 und vom 22.01.2018 entgegengetreten, der kritisiert hat, dass Dr. M. fachfremd ein anhaltendes organisches Psychosyndrom diagnostiziert habe – eine Diktion, die sich seit Jahrzehnten überholt habe -, sowie eine Alkoholabhängigkeit sowie einen schädlichen Gebrauch von Cannabis und Amphetaminen neben der bekannten Epilepsie. Eine Untersuchung der vom Kläger angegebenen psychotropen Substanzen sei aber nicht erfolgt. Insofern sei unklar, wie weit das Verhalten des Klägers durch die Einnahme von Suchtstoffen determiniert sei, auf der anderen Seite sei auch die differentialdiagnostische Abklärung im Sinne einer Beschwerdevalidierung aus dem vorliegenden neurologischen Gutachten nicht zu sehen, weshalb erhebliche Zweifel an der Aussagekraft beider vorliegender Gutachten bestünden. Es fehle daher ein zuverlässiger Beleg für eine Minderung des quantitativen Leistungsvermögens.

Durch Urteil vom 20.03.2018 hat das SG bei Klageabweisung im Übrigen die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, ausgehend von einem Leistungsfall am 03.07.2017, befristet vom 01.02.2018 bis zum 31.12.2019 zu gewähren.

Gegen das ihr am 16.04.2018 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 08.05.2018 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen auf eine weitere Stellungnahme des Dr. J. vom 25.04.2018 verwiesen. Danach seien die Begutachtungen insbesondere in Bezug auf das Leistungsbild, das die Suchterkrankung betreffe, allesamt fachfremd. Es sei kein psychopathologischer Befund erhoben worden, welcher die in den Testuntersuchungen beschriebene Pathologie aus klinischer Sicht belegt hätte. Außerdem sei aufgefallen, dass bei den psychologischen Testungen in einem Beschwerdevalidierungsverfahren eine „nicht mehr optimale Leistung bzw. Anstrengungsbereitschaft diskutiert werden könnte“, was die Authentizität des Antwortverfahrens in Frage stelle. Auch der Klinik-Entlassbericht der Fachklinik C. des Jahres 2012/13 überzeuge nicht, da zwar leichtgradige Leistungseinbußen mit Minderung des quantitativen Leistungsvermögens geschlussfolgert worden seien, aber keine überdauernde Alkoholfolgeerkrankung beschrieben worden sei, die diese Behauptungen stützen würde. Eine entsprechende Konsistenzprüfung finde sich im Klinik-Entlassbericht nicht.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 20. März 2018 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil.

Der Senat hat den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie Dr. O. mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Dieser hat im Gutachten vom 08.04.2019 aufgrund einer Untersuchung des Klägers (von 1 ½ Stunden Dauer) ausgeführt, der Kläger habe nach Tabak gerochen und auf seine Frage nach dem Alkoholkonsum angegeben, derzeit zwei bis drei Bier täglich zu trinken; er sei gerade dabei, den Alkohol zu reduzieren, früher habe er schon mal mit Bekannten einen ganzen Kasten getrunken. Bei der jetzigen Untersuchung seien anders bei der neurologischen Begutachtung durch Dr. M. in B. K. und der dortigen neuropsychologischen Befunderhebung keine körperlichen Entzugserscheinungen aufgefallen. Er habe bei der Untersuchung des Klägers keine relevanten Krankheiten, auch nicht im neurologischen Bereich festgestellt. Das Konzentrationsvermögen und die Aufmerksamkeit seien ungestört gewesen. Eine Einsicht in die relevante Suchtproblematik bestehe nicht. Eine Therapie- und Veränderungsmotivation lasse sich nicht erfassen. Die Beschwerdeschilderung und -darstellung sei von einer allgemeinen Aggravation gekennzeichnet gewesen sowie unecht und aufgesetzt wirkenden Darstellungen bezüglich seiner Sprech- und Schluckprobleme; der Kläger habe demonstriert, dass er manchmal nicht sprechen könne und sein Kehlkopf weg sei, was unecht und aufgesetzt gewirkt habe. Auf neurologischem Fachgebiet bestehe eine Epilepsie. Hieraus folgten qualitative Leistungseinschränkungen. Aus dem jetzt vorliegenden Anfallskalender ergebe sich, dass nicht jeden Monat, aber oft ein oder zwei Anfälle pro Monat aufträten. Über die Regelmäßigkeit der Medikamenteneinnahme sei keine sichere Aussage möglich. Wenn man die Anfallshäufigkeit auf 12 bis 14 Anfälle im Jahr hochrechne, so träten diese nicht alle während der Arbeitszeit auf und dann nur für wenige Stunden oder einen halben Tag der Arbeitsruhe. Andererseits könne es nach Erreichen völliger Abstinenz noch zu einer weiteren Besserung des Anfallsleidens kommen, zum einen aufgrund der dann nicht mehr vorhandenen Alkoholeinwirkung am Gehirn und der dann zuverlässigeren Medikamenteneinnahme. Auf psychiatrischem Fachgebiet bestehe eine Alkoholabhängigkeit. Bei der jetzigen Begutachtung seien bei als reduziert geschildertem Alkoholkonsum keine kognitiven Beeinträchtigungen oder konzentrativen Störungen aufgefallen. Die Antriebslage, die Fähigkeit zur sozialen Interaktion und Kommunikation seien vollkommen ungestört gewesen. Dies stehe im Gegensatz zur Begutachtung durch Dr. M., der kognitive Einschränkungen beschreibe, gleichzeitig aber ausführe, dass die Untersuchung im Zustand eines körperlichen Entzugssyndroms erfolgt sei. Das Konzentrationsvermögen, die Aufmerksamkeit und die intellektuelle Leistungsbreite seien für die in Frage kommenden geistig anspruchslosen Tätigkeiten, beispielsweise vorwiegend sitzend ausgeübte Montage- oder Serienarbeiten mit wenigen Vorgangstufen, voll ausreichend. Der Alkoholismus sei eine psychische Störung von Krankheitswert, die zum einen durch eigene Willensanstrengung und zum anderen durch Inanspruchnahme der Behandlungsmöglichkeiten innerhalb eines halben Jahres überwunden werden könne, so dass Abstinenz bestehe. Jedenfalls sei die Alkoholabhängigkeit eine grundsätzlich behandelbare Störung und keinesfalls eine Erkrankung, aus der eine quantitative Leistungsminderung abgeleitet werden könne. Beim Kläger sei eine einzige wirkliche Entwöhnungsbehandlung in der Fachklinik C. dokumentiert. Dieser habe es aber, folge man seinen Angaben, selbst geschafft, seine Trinkmenge zu reduzieren. Bei Abstinenz sei auch eine Besserung des Anfallsleidens zu erwarten. Bei als vermindert angegebener Alkoholmenge seien beim Kläger keinerlei fassbare psychische Funktionsstörungen einschließlich neuropsychologischer Begleitbeeinträchtigungen erkennbar gewesen, so dass das psychische Funktionsniveau auf alle Fälle für eine regelmäßige Leistungserbringung von sechs Stunden täglich ausreichend wäre. Aufgrund der Alkoholabhängigkeit seien aber Tätigkeiten mit einer Griffnähe zur Substanz zu vermeiden. Aufgrund der Epilepsie sollten Tätigkeiten an sog. ungeschützten Maschinen vermieden werden, ebenso Tätigkeiten mit einer Absturzgefahr, sowie Klettern auf Leitern und Gerüsten. Zu denken sei in erster Linie an Tätigkeiten mit sich wiederholenden Vorgangsstufen, die überwiegend sitzend oder mit kurzem Gehen verrichtet werden. Besondere Arbeitsbedingungen seien nicht erforderlich. Der Kläger sei auch in der Lage, vier Mal 500 Meter in weniger als 20 Minuten zu Fuß zurückzulegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, wie er dies auch privat tue.

Zum Gutachten von Dr. O. hat Dr. J. in einer weiteren sozialmedizinischen Stellungnahme vom 10.01.2020 für die Beklagte ausgeführt, dem Gutachten sei zuzustimmen. Bezüglich der Alkoholabhängigkeit falle auf, dass der Kläger bei der dortigen Untersuchung keine funktionellen Einschränkungen aufgewiesen habe. Selbst unter der Prämisse, dass der Kläger irgendeinen Toxikationsgrad von Alkohol (der im Näheren nicht untersucht worden war) aufgewiesen habe, ziele kein psychopathologischer Befund und keine Beschwerdeangabe auf eine wesentliche Erkrankung ab. Eine nennenswerte Intoxikation könne zum Gutachtenszeitpunkt nicht als belegt betrachtet werden, so dass sich die Ausführungen bezüglich des Alkoholgebrauchs nur auf Vermutungen stützten. Eine Alkoholintoxikation bei völlig unauffälligen neurologischen Befunden einschließlich völlig unauffälligem psychopathologischem Befund sei aber nur schwer vorstellbar. Ohne funktionell wirksame Befunde lasse sich zwar eine erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit nachvollziehen, während keine Hinderungsgründe bekannt geworden seien, warum der Kläger nicht an einer suchtrehabilitativen Maßnahme teilnehmen könne. Es ergebe sich aber kein Beleg für eine Minderung des quantitativen Leistungsvermögens. Nachvollziehbare Belege für ein in das Erwerbsleben eingebrachtes Leiden lägen ebenfalls nicht vor.

Die (frühere) Berichterstatterin hat am 06.08.2019 einen Erörterungstermin mit den Beteiligten durchgeführt. Dabei hat der Kläger angegeben, er trinke etwa sechs bis acht Bier am Tag. Er versuche, den Konsum langsam herunterzufahren. Eine Entgiftungsbehandlung wolle er nicht mehr durchführen, weil er dann vermehrt Anfälle habe. Der Kläger hat einen Epilepsiekalender zu den Akten gegeben.

Das Gericht hat, nachdem die Beklagte eine Liste der ehemaligen Arbeitgeber des Klägers vorgelegt hat, diese zu Art und Umfang der dortigen Tätigkeiten und der Gründe der Beendigung der Tätigkeit befragt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, der des Versorgungsamts und der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten, über die der Senat gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Berufungsausschließungsgründe liegen nicht vor (§ 144 SGG).

Die Berufung ist aber unbegründet. Die angefochtene Entscheidung des SG ist rechtlich nicht zu anstanden. Das SG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, dem Kläger eine (befristete) Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 01.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2015 und, da allein die Beklagte Berufung gegen das Urteil des SG eingelegt hat, nur die Rentengewährung in der Zeit vom 01.02.2018 bis zum 31.12.2019.

Versicherte haben gemäß § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (jeweils Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (jeweils Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (jeweils Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist gemäß § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Der Nachweis für die den Anspruch begründenden Tatsachen muss hierbei im Wege des sog. Vollbeweises erfolgen. Dies erfordert, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden kann. Dies bedeutet, das Gericht muss von der zu beweisenden Tatsache mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit ausgehen können; es darf kein vernünftiger, in den Umständen des Einzelfalles begründeter Zweifel mehr bestehen. Von dem Vorliegen der entscheidungserheblichen Tatsachen muss insoweit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden können (vgl. BSG, Urteil vom 14.12.2006 – B 4 R 29/06 R -; Bayerisches LSG, Urteil vom 26.07.2006 – L 16 R 100/02 -, beide in Juris; BSGE 45, 285; BSGE 58, 80). Können die genannten Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht im erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleiten möchte. Für das Vorliegen der Voraussetzungen der Erwerbsminderung trägt insoweit der Versicherte die Darlegungs- und objektive Beweislast (vgl. BSG, Urteil vom 23.10.1996 – 4 RA 1/96 -, Juris).

Nach diesen Grundsätzen erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung im streitigen Zeitraum vom 01.02.2018 bis zum 31.12.2019. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen liegen unter Zugrundelegung des – vom SG angenommenen – Leistungsfalls im Juli 2017 vor, wie die Beklagte unter Vorlage eines Versicherungsverlaufs vom 05.10.2018 bestätigt hat.

Der Kläger hat auch die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente im genannten Zeitraum nachgewiesen. Der Senat stellt in Übereinstimmung mit allen eingeholten Sachverständigengutachten fest, dass beim Kläger eine Alkoholabhängigkeit und eine Epilepsie vorliegen. Der Senat teilt die Auffassung des SG, dass sich aus den Sachverständigengutachten des Dr. M. und dem Zusatzgutachten des Psychologen N. und den dort festgestellten Erkrankungen schlüssig der Nachweis für ein aufgehobenes Leistungsvermögen des Klägers ergibt. Die erstinstanzlichen Gutachter sahen den Kläger nicht in der Lage, auch einfache geistige und leichte körperliche Arbeiten länger als drei Stunden am Stück durchzuführen. Die Einschränkungen bestünden spätestens seit der Begutachtung. Bei Alkohol- und Drogenabstinenz könne mit einer Besserung in mindestens einem Jahr gerechnet werden, während bei fortgesetztem Alkohol- und Drogenkonsum eine Verschlechterung der Gedächtnisleistung wahrscheinlich sei.

Die Gutachten von Dr. M. und Herrn N. gehen von zutreffenden vollständigen Befunden aus und decken sich mit den aktenkundigen Befundunterlagen der behandelnden Ärzte. Aus diesen Befunden leiten sich auch zur Überzeugung des Senats schlüssig die Funktionsbeeinträchtigungen ab, die eine Beurteilung des Leistungsvermögens auf unter drei Stunden täglich auch für einfache Tätigkeiten begründen. Dr. M. hat diese Einschätzung schlüssig auf die stark eingeschränkte Gedächtnisleitung, die reduzierte Aufnahmekapazität und die Verlangsamung des Klägers gestützt, die auch der Psychologe N. in seinen psychologischen Tests festgestellt hat, wobei weder der Neurologe Dr. M. noch der Psychologe N. Anhaltspunkte für Aggravation, Simulation oder reduzierte Mitarbeit in den Testungen gefunden hatten. Die Alkoholabhängigkeit und die reduzierte Gedächtnisleistung wurden zudem bereits mehrfach bei Voruntersuchungen beschrieben, wie bereits das SG zutreffend ausgeführt hat. So hatte die Sozialmedizinerin F. in ihrer Stellungnahme vom 13.05.2013 das Leistungsvermögen des Klägers unter Zugrundelegung des Entlassungsberichts der Fachklinik C. aufgrund seiner kognitiven Einschränkungen mit unter drei Stunden eingestuft. Soweit G. in seinem Gutachten vom 15.05.2015 von einem vollschichtigen Leistungsvermögen des Klägers ausgegangen war, sei dies unter der Prämisse einer – nie eingehaltenen – Alkohol- und Drogenkarenz erfolgt. Der behandelnde Neurologe Dr. H. habe dagegen als sachverständiger Zeuge angegeben, dass die Suchtproblematik des Klägers weiter im Vordergrund stehe. Unter Berücksichtigung dieser Vorbefunde und des übereinstimmenden Ergebnisses der Untersuchungen durch Dr. M. und den Psychologen N. halte das Gericht deren Einschätzung des Leistungsvermögens auf unter drei Stunden für plausibel und nachvollziehbar.

Der Senat schließt sich diesen Ausführungen an und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen hierauf. Im Hinblick auf die im Berufungsverfahren durchgeführte Beweisaufnahme durch Einholung eines neurologisch-psychologischen Gutachtens bei Dr. O. ist ergänzend auszuführen, dass der Senat dem nicht zu folgen vermag. Das Gutachten vom 08.04.2019 und die dortige Leistungsbewertung leiden schon darunter, dass das Ausmaß der bei der Untersuchung vorliegenden Alkoholintoxikation des Klägers und damit die zu diesem Zeitpunkt vorliegende Suchtproblematik nicht ermittelt wurde und der Gutachter stattdessen die Angabe des Klägers, derzeit „nur“ zwei bis drei Bier täglich zu konsumieren und zu versuchen, den Alkoholkonsum zu reduzieren, genügen ließ, ohne dem näher nachzugehen. Dabei hätte hierzu jeder Anlass bestanden mit Blick auf den Akteninhalt und die langjährige Alkohol- und Drogensucht des Klägers, wie sie sich aus diversen Arztberichten wie auch aus den eingeholten Vorgutachten entnehmen lässt. Dass die Feststellung des Intoxikationsgrads von Alkohol oder sonstigen Drogen von Dr. O. versäumt wurde, klingt auch in der sozialmedizinischen Stellungnahme von Dr. J. an, der allerdings die Schlussfolgerungen von Dr. O. nicht weiter hinterfragt hat. Soweit dieser die im Gutachten des Psychologen N. erwähnten zwei grenzwertigen Parameter eines Beschwerdevalidierungsverfahrens aufgreift, bei der nach dessen Beurteilung bei nicht amnestischen Patienten eine „nicht mehr optimale Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft“ zu diskutieren sei, ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger ausweislich dieses Gutachtens den Testungen insgesamt leistungsbereit gefolgt war, aber im Rahmen der insgesamt fünf Stunden dauernden psychologischen Untersuchungen erkennbar ermüdete und zum Schluss der Untersuchung angab, nun sehr erschöpft zu sein und auf der Rückfahrt schlafen zu wollen – mit der Folge, dass er 15 Minuten nach Ende der Untersuchung offenbar einen epileptischen Anfall erlitt, worauf der Untersucher vom Lebensgefährten des Klägers herbeigerufen werden musste. Soweit Dr. O. die psychiatrischen Befunderhebungen und Leistungsbeurteilungen durch den Neurologen Dr. M. und den Psychologen N. – wo der Kläger jeweils alkoholisiert erschienen war mit im Laufe der Untersuchung zunehmenden Entzugserscheinungen – als fachfremd kritisiert, ist zu berücksichtigen, dass sich deren Befunde und Einschätzungen mit früheren durch Fachärzte für Psychiatrie durchgeführten Untersuchungen decken, etwa mit der des Arztes für Psychiatrie D. im Reha-Entlassungsbericht vom 26.02.2013 bzw. der der Sozialmedizinerin und Ärztin für Neurologie und Psychiatrie F. vom 13.05.2013; Letztere hatte beim Kläger ein hirnorganisches Psychosyndrom diagnostiziert – den hiermit kompatiblen Begriff des organischen Psychosyndroms, den Dr. M. in seinem Gutachten verwendet hatte, hatte Dr. J. in der erstinstanzlichen Stellungnahme vom 07.12.2017 noch als seit Jahrzehnten überholte Diktion bezeichnet. Dr. F. hat zur Überzeugung des Senats in Übereinstimmung mit den anderen behandelnden Ärzten, etwa dem im Verwaltungsverfahren tätigen Gutachter G. und den Gerichtsgutachtern Dr. M. und N. auch ausgeführt, dass eine Leistungsfähigkeit des Klägers für relevante Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt erst bei einer Alkohol- und Suchtmittelabstinenz erreicht werden könne. Hieran fehlt es bis zuletzt. Auch Dr. O. sieht, dass erst eine einzige – im Ergebnis erfolglose – Entwöhnungsbehandlung des Klägers (2012/2013) dokumentiert ist. Entgegen dessen Einschätzung ist zur Überzeugung des Senats allerdings nicht davon auszugehen, dass diese Erkrankung vom Kläger ohne entsprechende fachliche Entziehungs- und Rehabilitationsbehandlung überwunden werden kann. Allein der Umstand, dass der Kläger bei der (nur) 1 1/2-stündigen Untersuchung durch Dr. O. möglicherweise – genaue Feststellungen wurden von diesem nicht getroffen – weniger oder nicht alkoholisiert war und angab, seinen Alkoholkonsum von aktuell zwei bis drei Bier täglich weiter reduzieren zu wollen, begründet nicht die realistische Chance auf eine ohne fachkundige Behandlung und Betreuung gelingende Alkohol- und Drogenabstinenz, die wiederum Voraussetzung für die Wiedererlangung einer Erwerbsfähigkeit für den allgemeinen Arbeitsmarkt darstellt. Dies umso mehr, als der Lebensgefährte des Klägers nach dessen Angaben ebenfalls Alkoholiker ist, was eine Entziehung auf eigene Faust für ihn nicht einfacher macht. Dementsprechend hat der Kläger bereits im Erörterungstermin vor der (früheren) Berichterstatterin des Senats am 06.08.2019 auch angegeben, sechs bis acht Bier täglich zu trinken, was seinem seit Jahren bekannten „Quantum“ an Bier entspricht – hochprozentigen Alkohol und andere Drogen nicht mitgerechnet. Zwar resultiert aus der Feststellung von Alkoholabhängigkeit aus medizinischer Sicht noch keine Aufhebung des beruflichen Leistungsvermögens. Dieses wird vielmehr durch andere Kriterien wie das Ausmaß der Folgeschäden oder den Umfang der Suchtproblematik bestimmt (LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 27.09.2002 – L 3 AL 39/01 – Juris). Nach diesen Maßstäben folgt aus den dargestellten Gründen aber beim Kläger insbesondere mit Blick auf den langjährigen schweren, nicht therapierten Alkohol- und Drogensucht in Verbindung mit den daraus folgenden hirnorganischen Störungen und Funktionseinschränkungen eine volle Erwerbsminderung im streitigen Zeitraum.

Hinsichtlich des Leistungsfalles legt der Senat wie das SG den Zeitpunkt der Untersuchung am 03.07.2017 durch Dr. M. zugrunde. Denn jedenfalls zu diesem Zeitpunkt wurden die eine länger anhaltende Leistungseinschränkung begründenden Befunde aufgrund umfangreicher Testungen – allein die psychologische Untersuchung beim Psychologen N. dauerte mit Unterbrechung fünf Stunden – erhoben. Wie das SG konnte sich auch der Senat nicht davon überzeugen, dass der Kläger bereits vor diesem Zeitpunkt voll erwerbsgemindert gewesen ist oder gar die Erwerbsminderung bereits in das Erwerbsleben mit eingebracht hat (zu den so genannten „eingebrachten Leiden“, Behinderungen oder sonstigen Defiziten, s. nur BSG, Urteil vom 10.12.2003 – B 5 RJ 64/02 R – Juris m.w.N.) mit der Folge, dass eine Rente nur unter den Voraussetzungen des § 43 Abs. 6 SGB VI zu gewähren wäre, nämlich bei Erfüllung der Wartezeit von 20 Jahren. Die Nachfragen des Senats bei den früheren Arbeitgebern des Klägers haben nicht das Bild ergeben, dass dieser schon bei all diesen Tätigkeiten erwerbsgemindert war. So war er noch in der Lage, im Berufsbildungswerk B. in der Zeit vom 08.08.2005 bis 25.06.2008 eine Ausbildung im Rahmen einer 38,5-Stunden-Woche zu absolvieren und diese mit Bestehen der Abschlussprüfung abzuschließen. Dass der Kläger nach seinen amnestischen Angaben in dieser Zeit mit dem exzessiven Trinken begann, steht dem nicht entgegen, sondern legt eher nahe, dass sich die Suchtproblematik zu dieser Zeit manifestiert hat. Auch in den vorangegangenen Tätigkeiten war der Kläger zum Teil jedenfalls über Monate vollschichtig tätig gewesen, ohne dass eine Erwerbsunfähigkeit erkennbar bzw. nunmehr mitgeteilt wurde.

Der Senat legt daher – wie das SG – den Nachweis der Erwerbsminderung im Juli 2017, also zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. M. und damit nach Erfüllung der allgemeinen Wartezeit (§ 43 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3, § 50 Abs. 1 SGB VI) zugrunde. Mit Dr. M. ist auch davon auszugehen, dass eine Besserung des Gesundheitszustandes des Klägers nicht ausgeschlossen ist. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass im Rahmen einer Entzugstherapie mit nachfolgender Alkohol- und Drogenabstinenz eine Besserung im Leistungsvermögen des Klägers, der ausweislich der erfolgten Untersuchungen bislang keine manifesten organischen Schäden aufweist, eintreten kann. Bei einer suffizienten Therapie ist danach eine Besserung des Gesundheitszustandes des Klägers und damit seiner Leistungsfähigkeit innerhalb von ein bis zwei Jahren möglich. Das SG hat die Rente daher in nicht zu beanstandender Weise bis zum 31.12.2019 befristet. Der Rentenbeginn am 01.02.2018 bei einem Leistungsfall am 03.07.2017 folgt aus § 101 Abs. 1 SGB VI.

Dass dieser Bewilligungszeitraum nunmehr verstrichen ist, ohne dass eine Therapie erfolgt wäre, und der Kläger nach seinen Angaben im Erörterungstermin vom 06.08.2019 auch keine Entziehungskur mit Suchtrehabilitation mehr durchführen lassen will, wohl auch wegen der – medizinisch allerdings unbegründeten – Befürchtung, die Epilepsieerkrankung könne sich dadurch verschlimmern, ändert an der Rentenberechtigung nichts und steht auch einer weiteren Rentengewährung grundsätzlich nicht entgegen. Die Verweigerung eines Versicherten, sich ärztlich behandeln zu lassen, stellt für sich genommen keine absichtliche Herbeiführung einer verminderten Erwerbsfähigkeit und damit keinen Ausschlussgrund für die Rentengewährung nach § 103 SGB VI dar. Hier kommt allerdings eine Versagung oder Entziehung der Rente unter den Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) in Betracht (BSG, Urteil vom 19.06.1979 – 5 RJ 122/77 – SozR 2200 § 1277 Nr. 2; Reyels in jurisPK-SGB VI, § 103 Rn. 44; Kampe in jurisPK-SGB I, § 63 Rn. 12). Für den hier streitigen zurückliegenden Zeitraum scheidet diese Möglichkeit allerdings aus.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Beklagte in der Berufungsinstanz vollumfänglich unterlegen ist.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

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