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Verletztenrente – Anspruch auf Neufeststellung

Landessozialgericht Sachsen-Anhalt – Az.: L 6 U 110/07 – Urteil vom 03.03.2011

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist, ob dem Kläger wegen der anerkannten Folgen einer Berufskrankheit sowie eines Arbeitsunfalls eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 65 vom Hundert (vH) anstatt um bisher 55 vH zu gewähren ist.

Der 1956 geborene Kläger bezieht wegen der Folgen einer 1982 festgestellten Berufskrankheit (BK) der Haut und eines Arbeitsunfalls vom 7. Februar 1984 eine Verletztenrente nach einer MdE um 55 vH (Bescheid der Beklagten vom 24. Juni 1993). Eine entsprechende Einschätzung des Gesamt-Körperschadens hatte unter dem 2. Dezember 1985 der Kreisgutachter aus einer Bewertung der Folgen der BK um 15 vH (Einschätzung der beratenden Dermatologin der Arbeitshygieneinspektion des Rates des Bezirkes M. Dr. Q. vom 18. Oktober 1985) und des Arbeitsunfalls um 45 vH hergeleitet. Grundlagen hierfür waren das hautärztliche Gutachten der Medizinischen Akademie M. vom 29. Dezember 1982, das im Arm- sowie Handbereich des Klägers einen Zustand nach degenerativem Ekzem bei Allergie gegenüber p-Phenylendiamin diagnostiziert und den Körperschaden mit unter 20 vH bewertet hatte, und das chirurgische Gutachten der Kreispoliklinik W. vom 11. Oktober 1984, in dem eine Gesichtsschädelfraktur, eine Oberschenkelschaftfraktur rechts, eine Patellafraktur rechts und ein Verlust des linken Auges diagnostiziert sowie der Körperschaden mit einem Grad um 45 vH bemessen worden waren.

Nachdem der Kläger erstmals unter dem 25. Januar 2000 beim zuständigen Versorgungsamt eine Verschlimmerung der BK- bzw. Arbeitsunfallfolgen angab, veranlasste die Beklagte – unter vorheriger Beiziehung weiterer medizinischer Befunde über zusätzliche Behandlungen des Klägers – zur Überprüfung der Unfall- und BK-Folgen zunächst das Gutachten der Universitätsklinik für Augenheilkunde M. vom 1. Juni 2003. Hierin wurde der unfallbedingte Verlust des linken Augapfels bei Ersatz durch eine Augenprothese, welche jährlich angepasst werde, gut sitze und ein gutes kosmetisches Bild ohne störende Schleimabsonderung liefere, diagnostiziert. Die MdE sei um 25 vH zu bewerten.

In seinem unfallchirurgischen Gutachten vom 4. Juni 2003 diagnostizierte der Direktor der Universitätsklinik für Unfallchirurgie M. Prof. Dr. W. als Unfallfolgen eine Retropatellararthrose rechts mit schmerzhafter Einschränkung der Verschieblichkeit der Kniescheibe und endgradiger Einschränkung der Kniegelenkbeweglichkeit, eine belastungsabhängige Beschwerdesymptomatik mit Wetterfühligkeit sowie eine Fascienlücke an der rechten Oberschenkelaußenseite. Im Vergleich zur Begutachtung von 1984 habe sich die Beugefähigkeit des Kniegelenks mit nunmehr 0-0-120° (links 0-0-140°) verbessert. Auch eine Insuffizienz des Knie-Bandapparates im Sinne eines seinerzeit gefundenen Wackelknies liege nicht (mehr) vor. Dagegen habe die Retropatellararthrose zugenommen; die Muskelhüllenlücke an der Außenseite des rechten Oberschenkels sei damals ebenfalls nicht erwähnt worden. Beim Gehen demonstriere der Kläger bei Beckengeradstand und geraden Beinachsen ein Schonhinken rechts. Ein Erguss im Kniegelenkbereich liege nicht vor, allerdings sei in Höhe der Kniescheibenmitte rechts eine Umfangvermehrung gegenüber links um 1 cm festzustellen. Die Neurologie sei intakt. Die Oberschenkelschaftfraktur sei knöchern vollständig konsolidiert.

Im Gutachten der Universitätsklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie M. vom 30. Juni 2003 wurden als Unfallfolgen eine Zusammenbissstörung der Kiefer mit Rücklage des Oberkiefers, arthrotische Veränderungen der Kiefergelenke, häufige behandlungsbedürftige Kopfschmerzen, eine Sensibilitätsstörung der Gesichtshaut in der Stirnmitte, eine Schädigung des linken unteren seitlichen Schneidezahnes (Zahn 32), unauffällige Operationsnarben im Panasalbereich beiderseits und Schleimhautnarben im Mund festgehalten. Diese seien mit einer MdE um 10 vH zu bewerten.

Die Dres. D. und W von der Universitätsklinik für Neurologie M. gelangten in ihrem Gutachten vom 21. Juli 2003 zu unfallbedingten Sensibilitätsstörungen im Bereich der Narben. Solche seien insbesondere in Form eines beidseitigen Ausfalls des Stirnastes des Nervus trigeminus anzutreffen. Eine messbare MdE folge hieraus nicht. Bei dem vom Kläger angegebenen Kopfschmerz handele es sich nicht um eine Unfallfolge, sondern um chronische Spannungskopfschmerzen.

Abschließend bewertete Prof. Dr. W. in seiner Stellungnahme vom 20. August 2003 die auf unfallchirurgischem Gebiet bestehende MdE um 20 vH und bildete zusammen mit den aus augenärztlicher, mund-, kiefer- und gesichtschirurgischer sowie neurologischer Sicht angenommenen MdE-Graden für die Unfallfolgen eine Gesamt-MdE um weiterhin 45 vH.

Die Chefärztin der Klinik für Hautkrankheiten des Helios Klinikums E. Prof. Dr. L. und die Oberärztin Dr. S. führten in ihrem Gutachten vom 2. Oktober 2003 aus, dass nach den Befunden der ambulanten Untersuchungen des Klägers am 11., 13. und 14. August 2003 keine Folgen der 1982 festgestellten Haut-BK mehr bestünden. Die Haut sei erscheinungsfrei; eine MdE bestehe daher nicht.

Mit Bescheid vom 29. Januar 2004 lehnte es die Beklagte ab, Verletztenrente nach einer höheren MdE als um 55 vH zu gewähren und stützte sich zur Begründung auf die gutachtlichen Einschätzungen. Danach habe sich die unfallbedingte MdE nicht geändert, sondern betrage weiterhin 45 vH. Obwohl sich für die Haut-BK nun keine MdE mehr ergebe, werde die Rente nach einer MdE um 55 vH weiter gewährt, da die frühere Bewilligung nicht zurückgenommen werden könne.

Den hiergegen am 10. Februar 2004 erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 7. September 2004 als unbegründet zurück.

Am 17. September 2004 hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg Klage erhoben und geltend gemacht, die unfallbedingte MdE sei um 50 bis 55 vH zu bewerten. Insbesondere überzeuge die unfallchirurgische Einschätzung zum Schweregrad der Verletzung des rechten Kniegelenks nicht. Abgesehen davon sei die Bewertung der BK-Folgen mit einer MdE um 15 vH in ihrem Bestand geschützt. Folglich betrage die Gesamt-MdE 65 vH. Im Übrigen habe sich sein Zustand nach der angegriffenen Entscheidung der Beklagten weiter verschlechtert.

Mit Urteil vom 11. September 2007 hat das SG die Klage abgewiesen und hierzu in den Gründen ausgeführt: Die Gesamt-MdE habe sich nicht wesentlich geändert, nämlich nicht um einen Grad um mindestens 10 vH. So bedingten die Folgen der anerkannten Haut-BK keine messbare MdE mehr. Geschützt sei entgegen der Ansicht des Klägers auch nicht die ursprüngliche Bewertung der BK-Folgen mit einem Körperschaden um 15 vH, sondern nur die bestandskräftig verfügte Bewertung nach einer Gesamt-MdE um 55 vH. Eine höhere Bewertung der unfallbedingten MdE könne weder aus den überzeugenden ärztlichen Bewertungen noch aus dem Vorbringen des Klägers hergeleitet werden, der für die Unfallfolgen eine MdE um 55 vH selbst als angemessen ansehe.

Gegen das am 19. September 2007 zugestellte Urteil hat der Kläger im selben Monat Berufung eingelegt und vorgetragen, die Folgen der Haut-BK rechtfertigten mindestens eine MdE um 5 vH. Unstrittig sei, dass auf augenärztlichem Fachgebiet keine Verschlimmerung eingetreten sei und die MdE insoweit bei einem Grad um 25 vH liege. Auch die Bewertung im mund-, kiefer- und gesichtschirurgischem Gutachten vom 30. Juni 2003 mit einer MdE um 10 vH sei zutreffend. Auf unfallchirurgischem Gebiet sei jedoch mindestens eine MdE um 25 vH anzunehmen, da entgegen der Befundung durch Prof. Dr. W. die Beweglichkeit des rechten Knies deutlich eingeschränkter und die arthrotischen Veränderungen deutlicher ausgeprägt seien.

Der Kläger beantragt seinem Vorbringen nach, das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 11. September 2007 sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. Januar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. September 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der anerkannten Folgen der Berufskrankheit der Haut und des Arbeitsunfalls vom 7. Februar 1984 ab dem 1. Januar 2000 eine Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 65 vH zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das ihre Ansicht bestätigende Urteil des SG.

Der Senat hat von dem Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. K. den Befundbericht vom 4. September 2008 eingeholt, der darin eine schwere Gon- und Retropatellararthrose diagnostiziert hat, welche nicht zu einer Besserung neige. Aus der von ihm beigefügten Aufstellung der klinischen Untersuchungen im Zeitraum von Ende Januar 2001 bis Ende August 2008 gehen Bewegungsmaße des rechten Kniegelenks für die Streckung/Beugung von 0-0-100°, über 0-0-110°, zumeist 0-0-125° bis zu 0-0-130°, mehrfach Kapselschwellungen und Gelenkergüsse, ein stabiler Bandapparat sowie ein leicht hinkendes Gangbild hervor. In dem ebenfalls von ihm vorgelegten Untersuchungsbefund der Klinik für Orthopädie der P Stiftungen M. vom 20. April 2004 ist eine deutliche Krepitation der Patella (Knirschen der Kniescheibe) bei einer Beweglichkeit von 0-10-90° festgehalten. Der Hautarzt Dr. W. hat in seinem Befundbericht vom 6. Februar 2009 ein Handekzem diagnostiziert.

Der Kläger hat das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Sachsen-Anhalt vom 26. August 2009 übersandt, in dem der Gutachter S. nach ambulanter Untersuchung am 1. Juli 2009 neben einer posttraumatischen Gonarthrose u.a. ein ausgeprägtes Lumbalsyndrom bei umklammernder Spondylose und Osteochondrose im thorakolumbalen Übergang (Schmerzen im Lendenwirbelsäulenbereich bei die Zwischenwirbelräume infolge Knorpelschädigung überbrückenden Knochenanbauten der Wirbelkörper im Übergang zwischen Brust- und Lendenwirbelsäule) diagnostiziert hat. Zum rechten Kniegelenk hat der Sachverständige Bewegungswerte von 0-0-135° und zur Wirbelsäule eine in allen Etagen altersgerechte Beweglichkeit bei einem Finger-Boden-Abstand von 5 cm dokumentiert.

Der Senat hat von dem Facharzt für Chirurgie/Unfallchirurgie Dr. S. das Gutachten vom 14. Oktober 2009 nach ambulanter Untersuchung am 23. September 2009 erstellen lassen, der im Ergebnis die MdE auf unfallchirurgischem Gebiet um 20 vH und die Gesamt-MdE wegen der Unfallfolgen um 45 vH bemessen hat. Im Vergleich zum Vorgutachten vom 4. Juni 2003 sei es zu einer Zunahme des verletzungsbedingten Verschleißes und einer weiter eingeschränkten Beweglichkeit des rechten Kniegelenks gekommen. Eine mit der vollständigen Versteifung des Kniegelenks vergleichbare Situation, die eine MdE um 30 vH rechtfertige, liege allerdings nicht vor. Klinisch sei die rechte Kniescheibe bei deutlicher Schmerzangabe kaum verschieblich. Die Streckung/Beugung des rechten Kniegelenks sei bei stabiler Kapsel-Bandführung bis 0-15-110° möglich. Die Konturen des rechten Kniegelenks seien gegenüber links um 3 cm umfangvermindert. Das Gangbild sei mit rechtsseitigem Verkürzungshinken etwas verlangsamt und schwerfällig. Die Beinachsen seien gerade; das Becken stehe links etwa 2 cm tiefer als rechts. Die Hüftgelenke wiesen ohne Gelenkzug- oder -stauchungsschmerz eine normale Beweglichkeit auf. Röntgenologisch zeigten sich eine fortgeschrittene Gon- und Retropatellararthrose rechts sowie im Bereich der Brustwirbelsäule fortgeschrittene spondylotische Veränderungen mit teilweise vollständiger Überbrückung der Zwischenwirbelräume. Die Lendenwirbelsäule sei altersgerecht ausgebildet.

Schließlich hat der Senat den Hautarzt Dr. K. mit der Fertigung des Gutachtens vom 15. Februar 2010 nach ambulanten Untersuchungen am 2., 4. und 5. Februar 2010 betraut. Dieser hat im Ergebnis eingeschätzt, dass wegen der Haut-BK keine MdE verblieben sei. Bei den vom Kläger seit etwa einem Jahr bemerkten juckenden Hautveränderungen im Bereich der Knie, Fersen und streckseitigen Handgelenke handele es sich um eine geringgradig ausgeprägte Schuppenflechte. Die bei der Epikutantestung gefundene leichtgradige Typ-IV-Sensibilisierung gegenüber Kobaltchlorid, Nickelsulfat und Kaliumdichromat, die erstmals bei einer Vergleichsuntersuchung im Jahre 2004 festgestellt worden sei, sei ebenfalls schicksalhaft erworben. Die zum Anerkennungszeitpunkt gefundene Sensibilisierung gegenüber Phenylendiamin sei nicht mehr objektivierbar.

Unter dem 9. Juni 2010 hat die Beklagte ihren Bescheid vom 3. Juni 2010 übersandt, mit dem sie die vom Kläger erstmals mit Schreiben vom 24. Januar 2010 geltend gemachte Anerkennung von Wirbelsäulenbeschwerden als Unfallfolge abgelehnt hat. Den hiergegen erhobenen Widerspruch hat der Kläger am 30. September 2010 zurückgenommen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Beratung und der Entscheidungsfindung des Senats.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.

Die nach den §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG statthafte, form- und fristgerecht erhobene (§ 151 Abs. 1 SGG) sowie auch ansonsten zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 29. Januar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. September 2004 beschwert ihn nicht im Sinne der §§ 157, 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Er hat deshalb keinen Anspruch auf Verletztenrente nach einer MdE über 55 vH, weil in den Unfallfolgen keine wesentliche Änderung eingetreten ist und die BK-Folgen nicht mehr messbar sind.

Gegenstand des Verfahrens ist nicht der Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2010, mit dem diese allein über die Anerkennung von Wirbelsäulenbeschwerden als Folgen des Arbeitsunfalls vom 7. Februar 1984 entschieden hat. Denn durch ihn ist der angefochtene Bescheid vom 29. Januar 2004, dessen Regelungsgegenstand die Ablehnung eines Rentenanspruchs über eine MdE um 55 vH hinaus auf Grundlage der anerkannten BK- und Arbeitsunfallfolgen ist, weder im Sinne des § 96 Abs. 1 SGG ersetzt noch abgeändert worden.

Verletztenrente - Anspruch auf Neufeststellung
(Symbolfoto: Von Ralf Liebhold/Shutterstock.com)

Anspruch auf Neufeststellung einer Verletztenrente besteht dann, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei ihrer Feststellung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist (§ 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – SGB X). Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt, da sich die beim Kläger anerkannten Unfallfolgen nicht derartig geändert haben, dass daraus eine Erhöhung der MdE folgen würde. Ob die von ihm zwischenzeitlich als Unfallfolgen geltend gemachten Wirbelsäulenbeschwerden bei der Bemessung der MdE zu berücksichtigen sind, bedarf keiner Entscheidung (mehr), nachdem ihre Anerkennung von der Beklagten bestandskräftig (§ 77 SGG) abgelehnt worden und streitbefangen nach dem Vorbringen des Klägers allein die Bewertung der anerkannten Unfall- bzw. BK-Folgen ist.

Die Bemessung des Grades der MdE ist eine Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung unter Berücksichtigung der in Rechtsprechung und im einschlägigen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze trifft, die in Form von Tabellenwerten oder Empfehlungen zusammengefasst sind (siehe etwa bei Kranig in: Hauck/Noftz, SGB VII, Stand September 2010, K § 56, Anhang V). Diese sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend. Sie bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und sind die Basis für den Vorschlag, den der medizinische Sachverständige dem Gericht zur Höhe der MdE unterbreitet (siehe nur Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. Mai 2001 – B 2 U 24/00 R – SozR 3-2200 § 581 RVO Nr. 8; Urteil vom 18. März 2003 – B 2 U 31/02 R – Breithaupt 2003, 565 ff.; Urteil vom 22. Juni 2004 – B 2 U 14/03 R – SozR 4-2700 § 56 Nr. 1).

Ausgehend hiervon lassen die Unfallfolgen keine Bemessung mit einer MdE über 45 vH zu. Dabei folgt der Senat im Ergebnis den Einschätzungen von Prof. Dr. W. und Dr. S., deren gleichlautende Empfehlungen sich in der Bandbreite der etablierten Erfahrungswerte bewegen.

Die von diesen Sachverständigen mit einer MdE um 20 vH bewertete unfallbedingte Schädigung des rechten Beines des Klägers ist nicht zu beanstanden, wobei dem Senat eine näherungsweise Orientierung an einer Bewegungseinschränkung von 0-10-90°, einer muskulär nicht kompensierten Lockerung des Kniebandapparates mit Gangunsicherheit bzw. einer Arthrose in Abhängigkeit von der damit verbundenen Funktionseinschränkung, für die jeweils eine MdE um 20 vH vorgeschlagen wird (Schönberger/ Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, Abschn. 8.10.11, S. 654 f.; Mehrhoff/Meindl/Muhr, Unfallbegutachtung, 12. Aufl. 2010, S. 165; Kranig, a.a.O., S. 60), angemessen erscheint. So haben zwar weder Prof. Dr. W. noch Dr. S. mit Bewegungswerten des rechten Kniegelenks von 0-0-120° bzw. 0-15-110° und übereinstimmend bestätigtem festen Knie-Bandapparat derart massive Funktionseinschränkungen festgestellt, die insoweit jeweils für sich eine MdE um 20 vH rechtfertigen würden. Andererseits haben beide röntgenologisch und klinisch eine fortgeschrittene Arthrose im Bereich der Kniescheibenrückfläche gefunden, die neben der genannten Bewegungsminderung auch zu einem verlangsamten rechtsseitigen Schonhinken führt. Hinzu tritt schließlich, dass Dr. S. eine im Verhältnis zur Gegenseite um 3 cm verstrichene Kniegelenkstruktur rechts angibt, die Prof. Dr. W. noch nicht vorgefunden hat. Demgegenüber wird die von diesem beschriebene Muskelhüllenlücke im Bereich des knöchern vollständig konsolidierten rechten Oberschenkels von Dr. S. nicht mehr erwähnt.

Auch nach den sonstigen aktenkundigen Befunden ergibt sich kein davon wesentlich abweichendes Bild. Denn zwar hat Dr. K. bei den von ihm im Zeitraum von Ende Januar 2001 bis Ende August 2008 durchgeführten klinischen Untersuchungen auch mehrfach Kapselschwellungen und Kniegelenkergüsse sowie ein leicht hinkendes Gangbild festgestellt. Ebenso hat er aber einen stabilen Bandapparat bestätigt und die Beweglichkeit des rechten Kniegelenks größtenteils mit 0-0-125° gemessen, so dass der in der Epikrise der Klinik für Orthopädie der P Stiftungen M. vom 20. April 2004 festgehaltenen Beweglichkeit von 0-10-90° als lediglich vorübergehend festgehalten Situation keine entscheidende Bedeutung zugemessen werden kann. Umso mehr gilt dies angesichts der im MDK-Gutachten vom 26. August 2009 wiederum angegebenen Streck- bzw. Beugefähigkeit von 0-0-135°. Danach ist es nachvollziehbar, wenn Dr. S. die im Bereich des rechten Beines bestehenden unfallbedingten Funktionsstörungen noch nicht als vergleichbar mit einer vollständigen Versteifung des Kniegelenks ansieht, die nach den Erfahrungswerten eine MdE um 30 vH rechtfertigt (siehe nochmals Schönberger/Mehrtens/Valentin, Mehrhoff/Meindl/ Muhr sowie Kranig, jeweils a.a.O.).

Unter zusätzlicher Berücksichtigung der im Gutachten vom 1. Juni 2003 für den unfallbedingten Verlust des linken Auges veranschlagten MdE um 25 vH, die den Erfahrungswerten entspricht (siehe nur Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., Abschn. 6.4, S. 293), der ebenso unstrittigen Bemessung der auf mund-, kiefer- und gesichtschirurgischem Gebiet bestehenden Unfallfolgen mit einer MdE um 10 vH im Gutachten vom 30. Juni 2003 sowie der nachvollziehbaren und vom Kläger auch nicht beanstandeten Einschätzung der Dres. D. und W, wonach den unfallbedingten Sensibilitätsstörungen im Bereich der Narben keine messbar MdE zukommt, ist es vertretbar, wenn Prof. Dr. W. sowie Dr. S. für die Bemessung des danach bestehenden Gesamtbildes der unfallbedingten Funktionseinschränkungen nach wie vor eine Gesamt-MdE um 45 vH empfehlen.

Dass aus der anerkannten BK-Folge, nämlich der Sensibilisierung gegenüber p-Phenylendiamin, keine die Erwerbsfähigkeit mindernden Folgen verblieben sind, haben sowohl Prof. Dr. L. und Dr. S. als auch Dr. K. auf Grundlage ihrer Befunderhebungen vom 11., 13. und 14. August 2003 bzw. 2., 4. und 5. Februar 2010 unabhängig voneinander festgestellt. Der Senat sieht keine Veranlassung, von dieser übereinstimmenden Bewertung abzuweichen. Folglich kann auch die Frage offen bleiben, ob bei einer Bemessung der BK-Folgen mit einer MdE um mindestens 10 vH (vgl. §§ 215 Abs. 6, 56 Abs. 1 Satz 3 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung) aus beiden Versicherungsfällen (BK und Arbeitsunfall) eine „Gesamt-MdE“ zu bilden oder für die BK eine separate Verletztenrente nach entsprechender MdE zu leisten wäre (in diesem Sinne BSG, Urteil vom 19. August 2003 – B 2 U 50/02 R – juris).

Nach alledem konnte die Berufung keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

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