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Voraussetzungen für Merkzeichen H – Entziehung

Im Zentrum des Sozialrechts steht die Unterstützung von Personen, die aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen besonderer Hilfe bedürfen. Ein wichtiges Instrument hierfür ist das Merkzeichen H, das schwerbehinderten Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung und hilflosen Personen zusteht. Es ist ein Nachweis für das Recht auf bestimmte Nachteilsausgleiche und Unterstützungen. Die rechtliche Herausforderung entsteht, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens H von den Behörden neu bewertet werden und es zur Entziehung dieses Merkzeichens kommt.

Hierbei muss sorgfältig geprüft werden, ob eine wesentliche Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse vorliegt, die eine solche Maßnahme rechtfertigt. Der Hilfebedarf, die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsakte und die korrekte Anwendung des Schwerbehindertenrechts sind dabei von entscheidender Bedeutung. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen individuellem Anspruch auf soziale Teilhabe und administrativer Entscheidung, das oft erst vor Gericht aufgelöst wird. Die Klärung dieser Fragen ist nicht nur für den Einzelnen von großer Tragweite, sondern berührt auch grundlegende Prinzipien des Sozialstaats.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: S 12 SB 642/16  >>>

Das Wichtigste in Kürze


Das Sozialgericht Aachen hat in seinem Urteil vom 19.09.2017 die Rechtmäßigkeit der Entziehung des Merkzeichens H für einen schwerbehinderten Kläger geprüft und entschieden, dass die Entziehung unrechtmäßig war, da keine wesentliche Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse eingetreten ist, die dies rechtfertigen würde.

Die zentralen Punkte aus dem Urteil:

  1. Aufhebung des Bescheids: Das Gericht hob den Bescheid über die Entziehung des Merkzeichens H auf, da der Kläger weiterhin die gesundheitlichen Voraussetzungen erfüllte.
  2. Beweislast: Die Beweislast lag beim Beklagten, der nicht nachweisen konnte, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen H nicht mehr gegeben waren.
  3. Keine wesentliche Änderung: Das Gericht stellte fest, dass keine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers eingetreten war, die eine Entziehung des Merkzeichens H rechtfertigen würde.
  4. Feststellung des GdB: Der Kläger wurde weiterhin mit einem Gesamt-GdB (Grad der Behinderung) von 70 bewertet, trotz der Entziehung des Merkzeichens H.
  5. Erforderlicher Hilfebedarf: Der Kläger benötigte weiterhin erhebliche Hilfe im täglichen Leben, was durch ein umfassendes Gutachten bestätigt wurde.
  6. Rechtliche Bewertung des Hilfebedarfs: Das Gericht erkannte an, dass Hilfebedarf nicht nur nach der zeitlichen Inanspruchnahme, sondern auch nach dem wirtschaftlichen Wert und der Notwendigkeit der Hilfe zu bewerten ist.
  7. Kostenentscheidung: Die Kosten des Verfahrens wurden dem Beklagten auferlegt.
  8. Anforderungen an die Hilflosigkeit: Es wurden die gesetzlichen Anforderungen für die Feststellung von Hilflosigkeit und die Notwendigkeit der kontinuierlichen Hilfeleistung bestätigt.

Rechtliche Auseinandersetzung um Merkzeichen H

Im vorliegenden Fall geht es um die rechtliche Auseinandersetzung zwischen einem Kläger und dem beklagten Sozialleistungsträger bezüglich der Entziehung des Merkzeichens H, das Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung zugesprochen wird. Der Kläger, geboren am 00.00.0000, war bereits im Jahr 2008 aufgrund von Entwicklungs- und Verhaltensstörungen, einem Herzfehler sowie weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen als schwerbehindert anerkannt und ihm wurde das Merkzeichen H zuerkannt. Nach der Vollendung seines 18. Lebensjahres führte der Beklagte eine Nachprüfung durch und kam zu dem Schluss, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen H nicht mehr vorlägen, obwohl der Gesamtgrad der Behinderung (GdB) von 60 auf 70 angehoben wurde.

Kernproblem der Entziehung des Merkzeichens H

Die rechtliche Problematik in diesem Fall liegt in der Beurteilung, ob eine wesentliche Änderung im gesundheitlichen Zustand des Klägers eingetreten ist, die eine Entziehung des Merkzeichens H rechtfertigt. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist dies die Grundlage für die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung. Entscheidend ist dabei, ob der Kläger weiterhin einen erheblichen Hilfebedarf im Alltag aufweist, der die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens H erfüllt.

Beweislage durch neurologisch-psychiatrisches Gutachten

Das Gericht hat im Rahmen des Verfahrens ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten eingeholt, welches die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers und seinen daraus resultierenden Hilfebedarf detailliert bewertet. Die Gutachterin kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger auch weiterhin einen täglichen Hilfebedarf von etwa zwei Stunden hat, was gemäß der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als erheblich angesehen wird.

Gerichtsurteil: Klage begründet und Merkzeichen H bleibt bestehen

Das Sozialgericht Aachen entschied, dass die Klage zulässig und begründet ist. Es sah es als erwiesen an, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens H weiterhin bestehen und hob die angefochtenen Bescheide auf. Das Gericht stellte fest, dass der Beklagte nicht nachweisen konnte, dass eine wesentliche Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse eingetreten ist, die die Entziehung des Merkzeichens H rechtfertigt.

Die Entscheidung des Gerichts berücksichtigt die Tatsache, dass Schwerbehindertenrecht oft als Massenverwaltung behandelt wird, jedoch im Einzelfall eine genaue Prüfung des Hilfebedarfs erforderlich ist. Die Beurteilung muss dabei sowohl den täglichen Zeitaufwand für die Hilfeleistung als auch den wirtschaftlichen Wert und die Notwendigkeit der Hilfe in Betracht ziehen. Die festgestellte Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung des Klägers und seiner objektiven Leistungsfähigkeit unterstreicht zudem die Notwendigkeit einer fundierten und individualisierten Bewertung.

Zusammenfassend zeigt das Urteil, dass das Merkzeichen H ein wesentliches Hilfsmittel für Menschen mit erheblichen Gehbehinderungen darstellt und dessen Entziehung einer strengen Prüfung der tatsächlichen Verhältnisse bedarf. Der Fall hebt hervor, wie wichtig eine gründliche und sachkundige sozialrechtliche Beratung und Begutachtung ist, um die Rechte von schwerbehinderten Menschen zu wahren. Die Auswirkungen des Urteils bekräftigen die Notwendigkeit, dass Verwaltungsakte, die schwerwiegende Auswirkungen auf die Lebensumstände der Betroffenen haben können, einer intensiven rechtlichen Kontrolle unterzogen werden müssen. Das Fazit des Urteils bestärkt das Recht auf individuelle Berücksichtigung und faire Behandlung im Sozialrecht und unterstreicht die Bedeutung des Merkzeichens H für die Betroffenen.

Wichtige Begriffe kurz erklärt


Was sind die rechtlichen Grundlagen für die Zuerkennung und Entziehung des Merkzeichens H?

Das Merkzeichen H im Schwerbehindertenausweis wird Personen zugesprochen, die als hilflos gelten. Hilflos sind diejenigen, die infolge von Gesundheitsstörungen für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist.

Die rechtlichen Grundlagen für die Zuerkennung des Merkzeichens H sind im § 33b des Einkommensteuergesetzes und in der Schwerbehindertenausweisverordnung (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 SchwbAwV) festgelegt.

Die Entziehung des Merkzeichens H kann erfolgen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung nicht mehr gegeben sind. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn sich der Gesundheitszustand der betroffenen Person verbessert hat und sie nicht mehr dauerhaft auf fremde Hilfe angewiesen ist. Entscheidungen über die Entziehung von Merkzeichen werden in der Regel durch Gerichte getroffen und können von den Betroffenen angefochten werden.


Das vorliegende Urteil

Sozialgericht Aachen – Az.: S 12 SB 642/16 – Urteil vom 19.09.2017

Der Bescheid vom 06.05.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.06.2016 wird insoweit aufgehoben, als beim Kläger das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens H entzogen wurden. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Rechtmäßigkeit der Entziehung des Merkzeichens H streitig. Bei dem am 00.00.0000 geborenen Kläger stellte der Kreis B. mit Bescheid vom 25.01.2008 aufgrund einer bestehenden Entwicklungs- und Verhaltensstörung sowie eines Herzfehlers und Herzklappenerkrankung einen Grad der Behinderung (GdB) von 60 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens H fest. Im August 2015  nach Vollendung des 00. Lebensjahres des Klägers führte der Beklagte eine Nachprüfung durch. In diesem Rahmen wertete der ärztliche Dienst des Beklagten Arzt- und Befundberichte des Kinderkardiologen Dr. F., der Klinik für Kinderkardiologie des Universitätsklinikums B., der Orthopädin Dr. J., der Kinder- und Jugendpsychiaterin E., ein Pflegegutachten des MDK M. vom 16.01.2015, einen Entwicklungsbericht des Autismus-Therapie-Zentrums B. vom 19.01.2015 sowie das Abschlusszeugnis der W. G. Schule, B. aus und kam zu der Einschätzung, die Entwicklungs- und Verhaltensstörung sei mit einem GdB von 70, der Herzfehler mit einem GdB von 20, ein Asthma bronchiale mit einem GdB von 20 und eine Hyftdysplasie mit einem GdB von 10 zu bewerten. Insgesamt betrage der GdB nunmehr 70. Beim Kläger seien überdies die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens G und B festzustellen. Demgegenüber seien nach Vollendung des 00. Lebensjahres die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens H nicht mehr gegeben. Mit Schreiben vom 16.12.2015 hörte der Beklagte den Kläger hinsichtlich der beabsichtigen Entziehung des Merkzeichens H an. Der Kläger nahm hierzu Stellung und führte aus, dass sich sein gesundheitlicher Zustand keinesfalls verbessert habe und er weiterhin dauerhaft der fremden Hilfe bedürfe. Der Kläger legte einen weiteren Bericht des Autismus-Zentrum-B. aus April 2016 vor. Der ärztliche Dienst des Beklagten kam zu der Einschätzung, die Weiterbewilligung des Merkzeichen H komme nicht in Betracht. Es sei von einem Grundpflegebedarf von 66 Minuten pro Tag auszugehen. Die beim Kläger bestehende Intelligenzminderung sei als leicht einzustufen. Erhebliche Mängel im Spracherwerb lägen nicht vor. Eine geistige Behinderung mit einem GdB von 100, wie in Teil A Ziffer 4 lit f) aa) für das Merkzeichen H gefordert, liege beim Kläger nicht vor. Mit Bescheid vom 06.05.2016 stellte der Beklagte den GdB des Klägers mit 70 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G und B fest. Darüber hinaus stellte er fest, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens H nicht mehr vorlägen. Der vom Kläger am 11.05.2016 eingelegte Widerspruch wurde von der Bezirksregierung N. mit Widerspruchsbescheid vom 14.06.2016 als unbegründet zurückgewiesen. Der Kläger hat am 13.07.2016 Klage erhoben. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten der Kinder- und Jugendmediziner X., Q. und N., des Kinderkardiologen Dr. H., der Kinder- und Jugendpsychiaterin E. sowie des Allgemeinmediziners U … Darüber hinaus hat es ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten durch Frau Dr. T. beauftragt, welches diese nach entsprechender Untersuchung des Klägers gegenüber dem Gericht erstattet hat. Der Beklagte hat durch Dr. N. hierzu sozialmedizinisch Stellung genommen. Auf Anforderung des Gerichts hat Frau Dr. T. hierzu ihrerseits ergänzend Stellung genommen. Am 19.09.2017 hat ein Termin zur mündlichen Verhandlung stattgefunden.

Der Kläger hat, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, beantragt, den Bescheid vom 06.05.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.06.2016 insoweit aufzuheben, als beim Kläger das vorliegende gesundheitliche Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens H entzogen wird.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte sowie die Gerichtsakte Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG in seinen Rechten verletzt, da diese teilweise rechtswidrig sind. Bei dem Kläger ist weiterhin vom mit Bescheid vom 25.01.2008 festgestellten Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens H auszugehen.

Mögliche Rechtsgrundlage für die in den angefochtenen Bescheiden festgestellte Entziehung des Merkzeichens H wäre alleine § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Bei den Feststellungsbescheiden nach § 69 Abs. 1 und 2 SGB IX handelt es sich um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung (BSG Urteil vom 12.11.1996 9 RVs 5/95 = juris; BSG Urteil vom 17.04.2013 B 9 SB 6/12 R = juris Rn. 30; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 05.01.2011- L 6 (7) SB 135/06 = juris Rn. 20 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 19.09.2000 B 9 SB 3/00 R = juris). Eine Aufhebung ist dabei nur „insoweit“ zulässig, als eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.01.2011, a.a.O.; BSG Urteil vom 19.09.2000, a.a.O.). Eine wesentliche Änderung ist zum einen etwa dann anzunehmen, wenn sich der gesundheitliche Zustand dergestalt verbessert oder verschlechtert, dass sich hieraus eine Herabsetzung oder Erhöhung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 oder aber nunmehr gesundheitliche Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Merkzeichen vorliegen oder aber auch nicht mehr vorliegen. Die Änderung der Bezeichnung der Funktionsbeeinträchtigungen oder das Hinzutreten weiterer Funktionsbeeinträchtigungen allein ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB stellen keine wesentliche Änderung dar (LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 05.01.2011, a.a.O. unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 24.06.1998 B 9 SB 18/97 R = juris).

Ob eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X eingetreten ist, muss im Rahmen einer gegen einen Herabsetzungsbescheid gerichteten Anfechtungsklage durch einen Vergleich der Verhältnisse zum Zeitpunkt des Erlasses des letzten bindend gewordenen Bescheides mit denjenigen zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung der Beklagten ermittelt werden. Bei einer derartigen Neufeststellung handelt es sich nicht um eine reine Fortschreibung des im letzten maßgeblichen Bescheid festgestellten GdB, sondern um dessen Neuermittlung unter Berücksichtigung der verschiedenen aktuellen Funktionsbeeinträchtigungen (so zutreffend LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 05.01.2011- L 6 (7) SB 135/06 = juris Rn. 21 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 19.09.2000, – B 9 SB 3/00 R – = juris; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 18.06.2002, – L 6 SB 142/00 = juris).

Unproblematisch ist vorliegend zwar insoweit eine Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eingetreten ist, als der Kläger zum Zeitpunkt des Erlasses der hier streitigen Entscheidungen das 18. Lebensjahr vollendet hat, mit der Folge, dass die Besonderheiten der Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen nach Teil A Ziffer 5 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze auf ihn keine Anwendung mehr finden. Es steht damit aber nicht per se fest, dass auch im Übrigen die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens H nicht mehr vorlagen, ob also tatsächlich eine im Hinblick auf das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale „wesentliche“ Änderung eingetreten ist.

Die Feststellung des Merkzeichens H im Bescheid vom 25.01.2008 erfolgte seinerzeit, ohne dass für die Kammer aus den hierüber vorhandenen Unterlagen erkennbar wäre, dass hier besondere Feststellungen zu Art und Umfang des tatsächlich bestehenden Hilfebedarfs getroffen worden wären. Dies war vor dem Hintergrund der Regelung der Ziffer 22 Abs. 4 lit. b) der seinerzeit geltenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP 2008) bei einer beim Kläger bestehenden Entwicklungs- und Verhaltensstörung im Sinne einer emotionalen und psychosozialen Störung mit erheblichen Einordnungsschwierigkeiten (ADHS), die nach Einschätzung des Beklagten seinerzeit einen GdB von 50 rechtfertigte, auch grundsätzlich nicht zu beanstanden. Seinerzeit war in der Regel bis zum 16. Lebensjahr in manchen Fällen auch darüber hinaus vom Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen H auszugehen. Eine wortgleiche Regelung enthielten zunächst auch die als Anlage zu § 2 der aufgrund § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (BGBl. I 2008, S. 2412 – Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008 am 01.01.2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizinischen Grundsätze. Diese wurde durch Art. 1 Nr. 1 der Dritten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung (3. VersMedVÄndV) vom 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124) ab dem 23.12.2010 dahingehend geändert, dass nunmehr bei tief greifenden Entwicklungsstörungen, die für sich allein einen GdS von mindestens 50 bedingen, und bei anderen gleich schweren, im Kindesalter beginnenden Verhaltens- und emotionalen Störungen mit lang andauernden erheblichen Einordnungsschwierigkeiten regelhaft Hilflosigkeit bis zum 18. Lebensjahr anzunehmen ist.

Hieraus folgt freilich zunächst nur, dass mit der Vollendung des 18. Lebensjahres mithin nicht mehr regelhaft, d.h. ohne nähere Prüfung von Art und Umfang der erforderlichen Hilfeleistungen, vom Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens H auszugehen ist. Dies entbindet den Beklagten allerdings im Rahmen einer beabsichtigten Aufhebungsentscheidung nach § 48 SGB X nicht davon, zu überprüfen, ob der Gesundheitszustand des Klägers im Übrigen nicht auch weiterhin die Inanspruchnahme des Merkzeichens H rechtfertigt.

Der Beklagte hat im Rahmen der Aufhebungsentscheidung nach allgemeinen Grundsätzen der objektiven Beweislast nachzuweisen, dass die Voraussetzungen des Merkzeichen H auch im Übrigen nicht vorliegen.

Dieser Nachweis ist dem Beklagten unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme nicht gelungen.

Der Kläger leidet und litt auch zum Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung des Beklagten unter folgenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen:

1. Leichte Intelligenzminderung mit Verhaltensstörungen 2. frühkindlicher Autismus 3. Herzfehler, Herzklappenerkrankung 4. Asthma bronchiale 5. Hüftdysplasie

Das Vorliegen dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen steht nach Auffassung der Kammer aufgrund der im Verwaltungs- und Klageverfahren eingeholten Befund- und Arztberichte sowie dem Gutachten der Frau Dr. T. fest. Das Gutachten beruht auf umfangreichen Untersuchungen einer erfahrenen gerichtlichen Gutachterin, die unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit der in dem Gutachten erhobenen medizinischen Befunde und gestellten Diagnosen zu zweifeln. Die Beteiligten haben auch keine substantiierten Einwände gegen die medizinischen Feststellungen erhoben. Soweit der Beklagte und seine ärztliche Berater die Auffassung vertreten, bereits aus „formalen Gründen“ dürfte ein Einzel-GdB von 70 bei Störungen im Bereich des Organsystems „Hirn/Psyche“ bei einem Erwachsenen nicht ausreichen, ist dies rechtsirrig.

In den Schwerbehindertenausweis ist das Merkzeichen H einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33b Einkommenssteuergesetz (EStG) oder entsprechender Vorschriften ist, vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 2 Schwerbehindertenausweisverordnung. Entsprechend § 33b Abs. 6 Satz 3 EStG ist derjenige als hilflos anzusehen, der infolge von Gesundheitsstörungen nicht nur vorübergehend für eine Reihe häufiger und wiederkehrender Verrichtungen und zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Von der tatbestandlich vorausgesetzten „Reihe von Verrichtungen“ kann – entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – regelmäßig erst dann ausgegangen werden, wenn es sich „um mindestens drei Verrichtungen handelt, die einen Hilfebedarf in erheblichem Umfang erforderlich machen“ (BSG, Urteil vom 24.11.2005 B 9a SB 1/05 R = juris). Der Umfang der wegen der Behinderung notwendigen zusätzlichen Hilfeleistungen muss erheblich sein. Dabei ist in der Regel auf die Zahl der Verrichtungen, den wirtschaftlichen Wert der Hilfe und den zeitlichen Aufwand abzustellen (vgl. BSG, a.a.O.). Mit Blick auf die gesetzlichen Vorgaben in der sozialen Pflegeversicherung (vgl. § 15 SGB IX) ist die Erheblichkeit des Hilfebedarfs in erster Linie nach dem täglichen Zeitaufwand für erforderliche Betreuungsleistungen zu beurteilen (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.06.2007, L 8 SB 1421/06; vgl. auch BSG, a.a.O.). Nicht hilflos ist danach jedenfalls, wer nur in relativ geringem Umfange, täglich etwa eine Stunde, auf fremde Hilfe angewiesen ist. Auch bei darüber hinausgehendem Zeitaufwand sind danach indes nicht zwingend die Voraussetzungen der Hilflosigkeit gegeben. Vielmehr ist der tägliche Zeitaufwand für die Hilfeleistung erst dann für sich allein genommen erheblich, wenn dieser mindestens zwei Stunden erreicht (vgl. zu alledem BSG, a.a.O.). Bei einem Hilfebedarf zwischen einer und zwei Stunden ist bei der Frage der Erheblichkeit auf weitere Umstände, insbesondere den wirtschaftlichen Wert abzustellen. Insbesondere für den Fall einer hohen Anzahl von Verrichtungen bzw. deren ungünstiger zeitlicher Verteilung, ist auch bei einem Hilfebedarf von zwischen einer und zwei Stunden von dessen Erheblichkeit auszugehen (vgl. BSG, a.a.O.; LSG Baden-Württemberg, a.a.O.). Die notwendige Bereitschaftszeit einer Hilfsperson ist hierbei dann berücksichtigungsfähig, wenn die Hilfsperson dadurch zeitlich und örtlich ebenso beansprucht werde, wie bei körperlicher Hilfeleistung (vgl. (BSG Urteil vom 12. Februar 2003, B 9 SB 1/02 R = juris).

Ergänzend und klarstellend zu dieser gesetzlichen Ausgangslage führt Teil A Ziffer 4 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze führt aus:

„b) Hilflos sind diejenigen, die infolge von Gesundheitsstörungen nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und dem Einkommensteuergesetz „nicht nur vorübergehend“ für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehren- den Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist.

c) Häufig und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages sind insbesondere An- und Auskleiden, Nahrungsaufnahme, Körperpflege, Verrichten der Notdurft. Außerdem sind notwendige körperliche Bewegung, geistige Anregung und Möglichkeiten zur Kommunikation zu berücksichtigen. Hilflosigkeit liegt im oben genannten Sinne auch dann vor, wenn ein psychisch oder geistig behinderter Mensch zwar bei zahlreichen Verrichtungen des täglichen Lebens der Hilfe nicht unmittelbar bedarf, er diese Verrichtungen aber infolge einer Antriebsschwäche ohne ständige Überwachung nicht vornähme. Die ständige Bereitschaft ist z. B. anzunehmen, wenn Hilfe häufig und plötzlich wegen akuter Lebensgefahr notwendig ist.

d) Der Umfang der notwendigen Hilfe bei den häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen muss erheblich sein. Dies ist der Fall, wenn die Hilfe dauernd für zahlreiche Verrichtungen, die häufig und regelmäßig wiederkehren, benötigt wird. Einzelne Verrichtungen, selbst wenn sie lebensnotwendig sind und im täglichen Lebensablauf wiederholt vorgenommen werden, genügen nicht (z. B. Hilfe beim Anziehen einzelner Bekleidungsstücke, notwendige Begleitung bei Reisen und Spaziergängen, Hilfe im Straßenverkehr, einfache Wund- oder Heilbehandlung, Hilfe bei Heimdialyse ohne Notwendigkeit weiterer Hilfeleistung). Verrichtungen, die mit der Pflege der Person nicht unmittelbar zusammenhängen (z. B. im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung) müssen außer Betracht bleiben“.

Teil A Ziffer 4 lit e) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze beschreibt Fälle schwerer Behinderungen, die aufgrund ihrer Art und besonderen Auswirkungen regelhaft Hilfeleistungen in erheblichem Umfang erfordern. Bei diesen Fällen kann im Allgemeinen ohne nähere Prüfung angenommen werden, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen von Hilflosigkeit erfüllt sind. Dies gilt stets bei Blindheit und hochgradiger Sehbehinderung sowie Querschnittslähmung und anderen Behinderungen, die auf Dauer und ständig auch innerhalb des Wohnraums die Benutzung eines Rollstuhls erfordern. Daneben beschreibt Teil A Ziffer 4 lit f) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze weitere Regelbeispiele, in denen auch ohne nähere Prüfung vom Vorliegen der Voraussetzungen ausgegangen werden kann. Hierunter fallen auch Hirnschäden, Anfallsleiden, geistiger Behinderung und Psychosen, wenn diese Behinderungen allein einen GdB von 100 bedingen. In diesen Fällen bedarf es mithin in aller Regel keiner konkreten Prüfung des tatsächlich bestehenden Hilfebedarfs. Liegen diese Regelbeispiele freilich nicht vor, so ist der Umfang der Hilflosigkeit konkret im Einzelfall zu ermitteln. Dieser Verpflichtung ist der Beklagte nach Auffassung der Kammer vor Erlass der Aufhebungsentscheidung auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Schwerbehindertenrecht in weiten Teilen sich als Massenverwaltung darstellt nicht hinreichend nachgekommen. Eine Untersuchung, des Klägers ist, u.U. freilich in der fälschlichen Annahme, das Merkzeichen H komme bei einem GdB von 70 keinesfalls in Betracht, unterblieben.

Soweit der Beklagte offensichtlich das Gutachten der Frau Dr. T. für nicht hinreichend aussagekräftig hält, teilt die Kammer diese Einschätzung nicht. Die Gutachterin hat sorgfältig und lege artis die beim Kläger bestehenden körperlichen und geistigen Defizite dargelegt. Vor diesem Hintergrund kann das Gericht die durch den Beklagten am Gutachten geäußerte Kritik nicht nachvollzogen werden kann. In der Tat listet die Gutachterin anders als dies bei der Einstufung in eine Pflegestufe nach altem Recht erforderlich war keine minutenweisen Hilfebedarfe aus. Dies ist aber im Rahmen der Feststellung des Merkzeichens H nicht erforderlich, solange im Übrigen ein hinreichender Hilfebedarf aufgrund der gutachterlichen Feststellungen dargetan ist. Soweit der Beklagte offenbar der Auffassung ist, allein Pflegegutachten könnten insoweit „kompetente“ Einschätzung abgeben, teilt die Kammer diese Einschätzung im Hinblick auf das eingeholte und kompetent erstellte Gutachten der Frau Dr. T. ausdrücklich nicht.

Beim Kläger ist eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem, was er glaubt leisten zu können und seiner objektiven Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen. So führt die Gutachterin nachvollziehbar aus, dass der in seinen Einschätzungen, die insbesondere im Rahmen der anamnestischen Angaben prima facie ein weitgehend unproblematisches Bild zeichnen, unkritisch und unrealistisch ist. Unter Berücksichtigung der Vorbefunde sowie des klinischen Bildes und der eigenen Testungen ist die Gutachterin zu der Einschätzung gekommen, dass der tägliche Hilfebedarf, der sich nach sachverständiger Einschätzung auf etwa 2 Stunden beläuft, als erheblich im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts darstellt. Darüber hinaus hat die Gutachterin auf nach Auffassung der Kammer nachvollziehbar dargelegt, dass die beim Kläger enorm eingeschränkte Alltagskompetenz einen besonders hohen Wert der Hilfeleistung bedingt, was nach der oben dargestellten höchstrichterlichen Rechtsprechung auch bei einem zeitlichen Hilfebedarf zwischen einer und zwei Stunden zur Bejahung der besonderen Hilfebedürftigkeit führt. Vor diesem Hintergrund ist dem Beklagten nicht der erforderliche Nachweis gelungen, dass bei dem Kläger nicht mehr die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens H vorlagen bzw. vorliegen. Die angefochtenen Bescheide waren daher insoweit aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

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