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Vorläufige Leistungsbewilligung – Sonderregelung § 67 Abs 4 SGB 2 – COVID-19-Pandemie

Vorläufige Leistungen: Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit unzulässig

Das Urteil des Sozialgerichts Ulm (Az.: S 10 AS 891/21) vom 23.02.2023 hebt die Bescheide des Beklagten bezüglich der Erstattung von Leistungen für September 2020 auf und ordnet an, dass der Beklagte den Klägern ihre außergerichtlichen Kosten erstattet. Es wurde entschieden, dass eine teilweise Rücknahme der vorläufig bewilligten Leistungen nach § 41a SGB II durch den Beklagten nicht zulässig ist, da eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit im Rahmen des Anwendungsbereiches von § 41a SGB II nicht vorgesehen ist. Die Entscheidung berührt grundlegende Fragen der vorläufigen Leistungsbewilligung und der abschließenden Entscheidung im Sozialrecht, insbesondere im Kontext des § 67 Abs. 4 SGB II und der COVID-19-Pandemie.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: S 10 AS 891/21 >>>

✔ Das Wichtigste in Kürze

Die zentralen Punkte aus dem Urteil:

  1. Aufhebung der Bescheide des Beklagten zur Erstattung von Leistungen für September 2020.
  2. Erstattung der außergerichtlichen Kosten an die Kläger durch den Beklagten.
  3. Berufung gegen das Urteil wird zugelassen.
  4. Feststellung, dass die teilweise Rücknahme der vorläufig bewilligten Leistungen nicht zulässig ist.
  5. § 41a SGB II sieht keine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit vor.
  6. Die vorläufige Leistungsbewilligung und die abschließende Entscheidung sind im Rahmen des § 67 Abs. 4 SGB II und der COVID-19-Pandemie von besonderer Bedeutung.
  7. Die Kläger hatten keine Pflichtverletzung begangen, die eine Rückforderung rechtfertigen würde.
  8. Das Gericht betont die Wichtigkeit einer klaren rechtlichen Regelung in Bezug auf die Rücknahme und Aufhebung von vorläufigen Leistungsbescheiden.

Anpassungen in der sozialrechtlichen Landschaft aufgrund der COVID-19-Pandemie

Die COVID-19-Pandemie hat weitreichende Folgen für die Sozialgesetzgebung in Deutschland gehabt. Eine der wichtigsten Änderungen betraf die vorläufige Leistungsbewilligung nach § 67 Absatz 4 SGB II. Diese Sonderregelung wurde eingeführt, um den Zugang zu sozialen Sicherungsleistungen zu erleichtern und die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen der Pandemie zu bewältigen. Die Regelung ermöglicht es, Bewilligungszeiträume, die zwischen dem 1. März 2020 und dem 31. Dezember 2022 beginnen, vorläufig zu bewilligen. Dies bietet den Antragstellern mehr Flexibilität und berücksichtigt die sich ändernden Lebensumstände während der Pandemie. Die vorläufige Leistungsbewilligung soll dazu beitragen, die finanzielle Stabilität der betroffenen Personen zu sichern und administrative Hürden vorübergehend zu senken.

Wenn Sie Fragen zu Anpassungen in der sozialrechtlichen Landschaft aufgrund der COVID-19-Pandemie haben, zögern Sie nicht und fordern noch heute unsere unverbindliche Ersteinschätzung an.

Im Mittelpunkt des Falls steht die vorläufige Leistungsbewilligung nach § 67 Abs 4 SGB 2 während der COVID-19-Pandemie, die zu einer rechtlichen Auseinandersetzung zwischen den Klägern und dem Beklagten geführt hat. Die Kläger, langjährig im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, wandten sich gegen die Erstattungsforderungen für den Monat September 2020. Die Besonderheit dieses Falls lag in der Anwendung der Sonderregelung § 67 Abs 4 SGB 2 und deren Auslegung im Kontext der Pandemie.

Die Streitigkeit: Vorläufige Bewilligungen unter der Lupe

Die Kläger befanden sich in einem schwierigen finanziellen Umfeld, welches durch die Beschäftigungssituation der Klägerin zu 1 und die pandemiebedingten Unsicherheiten zusätzlich komplex wurde. Nachdem der Beklagte zunächst Leistungen vorläufig bewilligte, kam es zu mehreren Änderungsbescheiden, die aufgrund von Einkommensschwankungen und der Vorlage neuer Lohnnachweise sowie der Anpassung an die neue Mietobergrenze erforderlich wurden. Die rechtliche Herausforderung entstand, als der Beklagte nach Vorlage der Nebenkostenabrechnung für 2019 eine Rückforderung aufgrund einer Gutschrift anstrebte, die den Bedarf im September 2020 mindern sollte.

Rechtlicher Dreh- und Angelpunkt: § 41a SGB II und § 67 Abs 4 SGB 2

Die Klärung, ob und inwiefern vorläufige Leistungsbewilligungen nachträglich angepasst oder zurückgefordert werden können, stand im Zentrum der rechtlichen Auseinandersetzung. Der Beklagte argumentierte, dass die Gutschrift aus der Nebenkostenabrechnung auf die Leistungen angerechnet und dementsprechend eine Erstattung von den Klägern gefordert werden könne. Die Kläger hingegen sahen in den Rückforderungen eine unrechtmäßige Handlung, da sie die Zahlungen aus eigenem Vermögen vor dem Leistungsbezug getätigt hatten.

Das Urteil des Sozialgerichts Ulm und seine Begründung

Das Sozialgericht Ulm hob die Bescheide des Beklagten auf und entschied, dass die Rückforderungen nicht rechtens waren. Die Entscheidung begründete das Gericht damit, dass eine Rücknahme der vorläufig bewilligten Leistungen mit Wirkung für die Vergangenheit im Rahmen des Anwendungsbereiches von § 41a SGB II nicht vorgesehen ist. Diese spezielle und abschließende Regelung sieht vor, dass Änderungen nur für die Zukunft getroffen werden können. Eine Umdeutung in eine endgültige Festsetzung bei Erstattung war somit nicht möglich, da die Kläger keine abschließende Entscheidung beantragt hatten.

Verfahrensfragen und rechtliche Feinheiten

Das Gericht stellte klar, dass die vom Beklagten vorgenommene Rückforderung sowohl der Absicht des Gesetzgebers als auch dem Wortlaut von § 41a SGB II und § 67 Abs 4 SGB 2 widerspricht. Die Regelungen sollen eine schnelle und unbürokratische Leistungsgewährung während der Pandemie ermöglichen und entlasten sowohl Leistungsberechtigte als auch Jobcenter von der Prüfung der tatsächlichen Verhältnisse im Bewilligungszeitraum. Das Urteil betont, dass eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit aus systematischen Gründen nicht in Betracht kommt und dass die korrekte Vorgehensweise in einer abschließenden Entscheidung durch den Leistungsträger liegt, sofern diese von den Leistungsberechtigten beantragt wird.

Das Fazit des Sozialgerichts Ulm unterstreicht die Bedeutung klarer rechtlicher Rahmenbedingungen bei der vorläufigen Leistungsbewilligung. Durch die Aufhebung der Rückforderungsbescheide erhalten die Kläger nicht nur ihre außergerichtlichen Kosten erstattet, sondern es wird auch die Notwendigkeit einer sorgfältigen Prüfung und Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen in ähnlichen Fällen hervorgehoben.

✔ FAQ: Wichtige Fragen kurz erklärt

Was versteht man unter einer vorläufigen Leistungsbewilligung im Sozialrecht?

Unter einer vorläufigen Leistungsbewilligung im Sozialrecht versteht man eine Entscheidung der zuständigen Behörde, die Sozialleistungen vorläufig gewährt, wenn die endgültige Klärung des Anspruchs oder der Höhe der Leistung voraussichtlich längere Zeit in Anspruch nimmt. Diese Form der Leistungsgewährung ist im Sozialgesetzbuch (SGB) geregelt und soll sicherstellen, dass Leistungsberechtigte zeitnah Unterstützung erhalten, auch wenn noch nicht alle für die endgültige Entscheidung erforderlichen Informationen vorliegen.

Die vorläufige Leistungsbewilligung erfolgt durch einen Verwaltungsakt und muss begründet werden. Sie ist so zu bemessen, dass der monatliche Bedarf des Leistungsberechtigten zur Sicherung des Lebensunterhalts gedeckt ist. Die Begründung umfasst die Berechnung der Leistungshöhe und den Anlass für die vorläufige Entscheidung. Der Grund für die Vorläufigkeit muss im Bescheid angegeben werden, wobei eine unzureichende Begründung nicht dazu führt, dass der Bescheid als endgültig anzusehen ist.

Es gibt zwei Hauptgründe für eine vorläufige Leistungsbewilligung: 1) wenn die Voraussetzungen für den Anspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorliegen, aber zur Feststellung der Höhe der Leistung längere Zeit benötigt wird, oder 2) wenn ein Anspruch dem Grunde nach besteht, aber ebenfalls längere Zeit zur Feststellung der Höhe benötigt wird.

Die vorläufig gewährten Leistungen sind auf die abschließend festgestellten Leistungen anzurechnen. Sollten im Bewilligungszeitraum vorläufig zu hohe Leistungen erbracht worden sein, ergeben sich daraus Rückforderungsansprüche.

Die vorläufige Leistungsbewilligung ermöglicht es den Leistungsberechtigten, ihre grundlegenden Bedürfnisse zu decken, während das Jobcenter oder der zuständige Leistungsträger die endgültige Entscheidung vorbereitet. Dies ist besonders wichtig, da Entscheidungen über Leistungsansprüche zeitnah nach Antragsstellung erfolgen sollten.

Inwiefern spielt die COVID-19-Pandemie eine Rolle bei der Anwendung von § 67 Abs 4 SGB 2?

Die COVID-19-Pandemie hat zu einer Reihe von Sonderregelungen im Sozialrecht geführt, insbesondere im Hinblick auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II. § 67 Abs. 4 SGB II ist Teil dieser Anpassungen und wurde eingeführt, um den Zugang zu sozialer Sicherung während der Pandemie zu erleichtern.

Gemäß § 67 SGB II wurde ein vereinfachtes Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aufgrund der COVID-19-Pandemie geschaffen. Dieses Verfahren beinhaltet unter anderem die vorläufige Bewilligung von Leistungen, die für Bewilligungszeiträume ab dem 01.03.2020 bis zum 31.12.2021 gelten. Die Sonderregelungen des § 67 Abs. 4 SGB II galten jedoch nur für Bewilligungszeiträume, die bis zum 31.03.2021 begonnen haben[1].

Die Regelungen sollten sicherstellen, dass Personen, die durch die Pandemie in finanzielle Not geraten sind, schneller und unbürokratischer Unterstützung erhalten. Dazu gehörte die Aussetzung der Vermögensprüfung, die Anerkennung der tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sowie die ausgesetzte Sanktionierung[7]. Diese Maßnahmen waren Teil eines umfassenderen Sozialschutzpakets, das darauf abzielte, die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie abzumildern.

Die Regelungen des § 67 SGB II wurden mehrfach verlängert, um den fortlaufenden Herausforderungen der Pandemie Rechnung zu tragen. So wurde der in § 67 Absatz 1 SGB II genannte Zeitraum bis zum 31. Dezember 2022 verlängert, was bedeutet, dass die Sonderregelungen für Bewilligungszeiträume, die zwischen dem 1. März 2020 und dem 31. Dezember 2022 beginnen, entsprechend angewendet werden[5].

Die Anwendung von § 67 Abs. 4 SGB II im Kontext der COVID-19-Pandemie zeigt, wie das Sozialrecht flexibel auf außergewöhnliche Situationen reagieren kann, um die soziale Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten.

Citations:
[1] https://www.tacheles-sozialhilfe.de/files/Weisungen/JC/bis-2021/SGB-II-67-Vereinfachtes-Verfahren-Corona-Virus_7.5.2021.pdf
[2] https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbii/67.html
[3] https://www.buzer.de/67_SGB_II.htm
[4] https://opus.bsz-bw.de/hsf/frontdoor/deliver/index/docId/2025/file/Meyer_Jasmin_Bachelorarbeit.pdf
[5] https://www.arbeitsagentur.de/datei/fachliche-weisungen-zu-67-sgb-ii_ba146402.pdf
[6] https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/174596
[7] https://opus.bsz-bw.de/hsf/frontdoor/deliver/index/docId/2363/file/Jahn_Christin-Bachelorarbeit.pdf
[8] https://dserver.bundestag.de/btd/19/189/1918966.pdf


Das vorliegende Urteil

SG Ulm – Az.: S 10 AS 891/21 – Urteil vom 23.02.2023

Die Bescheide vom 17.11.2020 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 12.03.2021 werden aufgehoben.

Der Beklagte erstattet den Klägern ihre außergerichtlichen Kosten.

Die Berufung des Beklagten wird zugelassen.

Tatbestand

Die Kläger stehen bei dem Beklagten seit längerem gemeinsam im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) und wenden sich vorliegend gegen die Erstattung von Leistungen für den Monat September 2020.

Die Klägerin zu 1. ging im streitigen Zeitraum einer Beschäftigung als Reinigungskraft bei der D. mbH mit schwankendem monatlichem Einkommen nach. Zugleich stand sie in einem Beschäftigungsverhältnis bei der M. UG (Bl. 73 der Verwaltungsakte).

Am 09.12.2019 beantragten die Kläger – wobei die Kläger zu 1. und 2. als türkische Staatsangehörige über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügen – bei dem Beklagten Leistungen, wobei sie Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) von monatlich 783,00 € geltend machten (Bl. 48 der Verwaltungsakte). Nachdem der Beklagte mit Bescheide vom 19.12.2019 (Bl. 57 der Verwaltungsakte) vorläufig Leistungen für den Zeitraum Dezember 2019 bis Mai 2020 gewährte, gewährte er den Klägern mit Bescheid vom 17.05.2020 (Bl. 115 der Verwaltungsakte) vorläufig Leistungen für den Zeitraum für Juni bis November 2020 ohne Weiterbewilligungsantrag nach § 67 Abs. 5 S. 1 SGB II in der bis zum 28.05.2020 gültigen Fassung. Für September 2020 gewährte der Beklagte den Kläger insgesamt 1.145,60 € (Kläger zu 1. und 2. jeweils 448,80 € und der Klägerin zu 3. insgesamt 248,00 €). Dabei erkannte der Beklagte ab Juli 2020 KdUH von 744,00 € an.

Mit Änderungsbescheid vom 25.06.2020 (Bl. 127 der Verwaltungsakte) gewährte der Beklagte den Klägern vorläufig Leistungen unter anderem für September 2020 in Höhe von nunmehr 1.103,69 € (Kläger zu 1. und 2. jeweils 432,88 € und Klägerin zu 3. Insgesamt 238,93 €) infolge einer fiktiven Anpassung des Einkommens der Klägerin zu 1.

Mit Änderungsbescheid vom 29.06.2020 (Bl. 131 der Verwaltungsakte) gewährte der Beklagte den Klägern nunmehr vorläufig geringere Leistungen von 689,00 € für September 2020 (Kläger zu 1. und 2. jeweils 269,92 € und Klägerin zu 3. insgesamt 149,16 €) infolge der Aufnahme einer weiteren Beschäftigung der Klägerin zu 1 bei der M. UG, nachdem diesbezüglich offenbar Lohnabrechnungen für den Zeitraum Dezember 2019 bis Mai 2020 eingingen (Bl. 125 der Verwaltungsakte).

Mit Änderungsbescheid vom 22.09.2020 (Bl. 186 der Verwaltungsakte) gewährte der Beklagte den Kläger vorläufig höhere vorläufige Leistungen unter anderem für September 2020 wegen vorgelegter Lohnnachweise und Anpassung an die neue Mietobergrenze von nunmehr insgesamt 1.007,99 € (Kläger zu 1. und 2. jeweils 393,51 € und der Klägerin zu 3. nunmehr 220,97 €).

Mit Schreiben vom 22.09.2020 forderte der Beklagte die Vorlage der Nebenkostenabrechnung für 2019. Es sei zu klären, inwiefern ein Anspruch auf Leistungen bestehe bzw. bestanden habe.Am 26.10.2020 (Bl. 223 der Verwaltungsakte) ging bei dem Beklagten die Nebenkostenabrechnung vom 15.06.2020 für 2019 ein, welche eine Gutschrift von 218,34 € aufwies, die im Mietkonto für August 2020 gutgeschrieben wurde.

Mit Schreiben jeweils vom 27.10.2020 (Bl. 236 ff. der Verwaltungsakte) hörte der Beklagte die Kläger dazu an, dass es beabsichtigt sei, die Gutschrift von 218,34 € mindernd auf die Bedarfe der Unterkunft und Heizung anzurechnen. Dies mindere den Bedarf im September 2020. Die Kläger zu 1. und 2. hätten jeweils 78,43 € im September 2020 zu erstatten und die Klägerin zu 3. betreffend September 2020 insgesamt 61,46 €. Der Bescheid vom 17.05.2020 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 25.06.2020, 29.06.2020 und 22.09.2020 sei nach § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) i.V.m. § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) aufzuheben. Mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden vom 17.11.2020 (Bl. 248 ff. der Verwaltungsakte) hob der Beklagte den Bescheid vom 17.05.2020 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 25.06.2020, 29.06.2020 und 22.09.2020 betreffend September 2020 teilweise auf und ordnete, entsprechend der Anhörung, seitens der Kläger zu 1. und 2. die Erstattung von jeweils 78,43 € und betreffend die Klägerin zu 3. von 61,46 € an.

Gegen die Bescheide vom 17.11.2020 erhoben die Kläger am 25.11.2020 Widerspruch (Bl. 261 ff. der Verwaltungsakte).Die Erstattung stamme aus Nebenkostenzahlungen, die bis 15.12.2019 noch aus eigenem Vermögen geleistet worden seien. Die Erstattung könne daher nicht angerechnet werden.

Mit Schreiben vom 11.02.2020 (Bl. 307 der Verwaltungsakte) wies der Beklagte darauf hin, dass beabsichtigt sei, die Bescheide 17.05.2020, 25.06.2020, 29.06.2020 und 22.09.2020 betreffend September 2020 teilweise zurückzunehmen nach § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 und Nr. 3 SGB X, da die Bescheide, mangels Berücksichtigung des Guthabens aus der Nebenkostenabrechnung 2019, teilweise von Anfang an rechtswidrig ergangen seien.

Mit Widerspruchsbescheiden vom 12.03.2021 (Bl. 321 ff. der Verwaltungsakte) wies der Beklagte die Widersprüche vom 25.11.2020 jeweils als unbegründet zurück.Guthaben aus einer Nebenkostenanrechnung dürfe nach der Rechtsprechung des BSG auch dann angerechnet werden, wenn es aus einer Zeit resultiere, in welcher keine Leistungen nach dem SGB II bezogen worden seien. Die Kläger hätten erkennen müssen, dass mit der Gutschrift aus der Nebenkostenabrechnung Guthaben erzielt worden sei, welches sie dem Beklagten hätten mitteilen müssen. Der Kläger zu 1. habe den Antrag auf Leistungen nach dem SGB II am 09.12.2019 ausgefüllt und unterschrieben abgegeben, wobei er um die Mitteilung des Guthabens gewusst habe. Dies sei den Klägerinnern zu 2. und 3. zuzurechnen.

Die Entscheidungen seien nach § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 und Nr. 3 SGB X zurückzunehmen gewesen, da diese von Anfang an rechtswidrig gewesen seien, was die Kläger auch grob fahrlässig verkannt hätten. Sie hätten weiter, entgegen ihrer Verpflichtung, die Nebenkostenabrechnung nicht umgehend eingereicht, weshalb die Entscheidungen auf grob fahrlässig getätigten falschen Angaben beruhen würden. Die zu viel erbrachten Leistungen seien nach § 50 SGB X zu erstatten.

Am 12.04.2021 haben die Klägerinnen und am 15.04.2021 hat der Kläger (S 10 AS 932/21) Klage zu dem Sozialgericht Ulm erhoben.Ungeachtet der Frage, ob eine Erstattung selbst bezahlter Nebenkosten angerechnet werden dürfe, fehle im angegriffenen Bescheid jedwede Ermessensausübung.Es werde davon ausgegangen, dass die Bedarfsgemeinschaft auch im Jahr 2020 selbst Einkommen erzielt habe. Damit sei und werde zumindest ein Teil der Miete und Nebenkosten selbst bezahlt. Der Beklagte könne damit jedenfalls nicht die gesamte Nebenkostenerstattung anrechnen.

Mit Beschluss vom 02.11.2022 hat die Kammer die Klageverfahren unter dem hiesigen Aktenzeichen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Die Kläger beantragen, die Bescheide vom 17.11.2020 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 12.03.2021 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Nach Hinweis des Gerichts vom 09.08.2021, dass die §§ 45, 48 SGB X im Falle der vorläufigen Gewährung von Leistungen nach § 41a SGB II mit Wirkung für die Vergangenheit zulasten der Kläger nicht anwendbar seien, hat der Beklagte ausgeführt, dass, wenn sich die Einkommenssituation unabhängig vom geschätzten Erwerbseinkommen ändere, z.B. wegen eines Zusammenzugs mit dem Partner, Zufluss von Einkommen aus einer Steuererstattung oder aus Betriebskostenguthaben, dies dem Leistungsträger mitzuteilen sei. Hierdurch bedingte Änderungen könnten auch rückwirkend berücksichtigt werden. Insoweit werde auf die Ausführungen der Bundesagentur für Arbeit in der Fachlichen Weisung zu § 67 SGB II Bezug genommen, die der Beklagte vorlegt.

Die Kammer hat am 02.11.2022 einen Erörterungstermin durchgeführt.

Im Erörterungstermin hat der Beklagte und mit Schriftsatz vom 21.02.2023 haben sich die Kläger mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und dem übrigen Vorbringen der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden, da die Beteiligten ihr Einverständnis hierzu erklärt haben.

Die form- und fristgemäß zum sachlich und örtlich zuständigen Sozialgericht Ulm erhobene Klage ist als isolierte Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, sowie begründet.

Die angegriffenen Bescheide beschweren die Kläger, da diese rechtswidrig sind. Denn der Beklagte hätte den Bescheid vom 17.05.2020 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 25.06.2020, 29.06.2020 und 22.09.2020 nicht teilweise zurücknehmen dürfen bei Anordnung einer entsprechenden Erstattung. Eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit kommt nämlich im Rahmen des Anwendungsbereiches von § 41a SGB II nicht in Betracht, da dieser hierfür den spezielleren und abschließenden Weg der abschließenden Bewilligung von Leistungen nach § 41a Abs. 3 SGB II mit Anordnung einer etwaigen Erstattung unter Beachtung der speziellen Regeln des § 41a Abs. 6 SGB II vorsieht. Eine Umdeutung in eine endgültige Festsetzung bei Erstattung scheidet wegen § 67 Abs. 4 S. 2 SGB II in der Fassung vom 27.03.2020 (a.F.) von vorneherein raus. Deshalb kann dahinstehen, ob die Voraussetzungen von § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 und Nr. 3 SGB X vorliegen.

Zurecht ist der Beklagte im Rahmen des Widerspruchsverfahrens davon ausgegangen, dass vorliegend allenfalls ein von Anfang an rechtswidriger Verwaltungsakt, namentlich in der Gestalt des Bescheids vom 29.06.2020, vorlag, nachdem die Nebenkostenabrechnung für 2019 bereits vom 15.06.2020 datierte. Zurecht hat der Beklagte daher im Widerspruchsverfahren erkannt, dass lediglich eine Rücknahme nach § 45 SGB X statt einer Aufhebung nach § 48 SGB X in Betracht kommt.

Eine Rücknahme sowie die Aufhebung eines Verwaltungsaktes über die vorläufige Gewährung von Leistungen mit Wirkung für die Vergangenheit kommt nach Auffassung der Kammer aus systematischen Gründen nicht in Betracht. Denn wären §§ 45, 48 SGB X von vorneherein stets auch bei vorläufiger Gewährung von Leistungen anwendbar, hätte es der ausdrücklichen Anordnung der gebundenen Rücknahme – ohne Vertrauensschutz – mit Wirkung für die Zukunft nach § 41a Abs. 2 S. 4 SGB II nicht bedurft. Dies entspricht auch dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers. Die Kammer hat dabei vorliegend lediglich über die Möglichkeit einer Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit zu entscheiden.

Nach § 41a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Nr. 2 SGB II ist über die Erbringung von Geld- und Sachleistungen vorläufig zu entscheiden, wenn zur Feststellung der Voraussetzungen des Anspruchs auf Geld- und Sachleistungen voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist und die Voraussetzungen für den Anspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorliegen oder ein Anspruch auf Geld- und Sachleistungen dem Grunde nach besteht und zur Feststellung seiner Höhe voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist. Im Falle des Bestehens einer Bedarfsgemeinschaft aus mehreren Personen ist nach § 41a Abs. 1 S. 2 SGB II unter den Voraussetzungen des Satzes 1 über den Leistungsanspruch aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft vorläufig zu entscheiden. Im Falle der vorläufigen Entscheidung über Leistungen ist nach § 41a Abs. 2 S. 1 SGB II der Grund der Vorläufigkeit angegeben. Soweit die vorläufige Entscheidung nach Absatz 1 rechtswidrig ist, ist sie für die Zukunft zurückzunehmen gemäß § 41a Abs. 2 S. 4 SGB II, wobei dann § 45 Abs. 2 SGB X nach § 41a Abs. 2 S. 5 SGB II keine Anwendung findet.

Die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheiden nach § 41a Abs. 3 S. 1 SGB II abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch, sofern die vorläufig bewilligte Leistung nicht der abschließend festzustellenden entspricht oder die leistungsberechtigte Person eine abschließende Entscheidung beantragt. Kommen die leistungsberechtigte Person oder die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen ihrer Nachweis- oder Auskunftspflicht nach § 41a Abs. 3 S. 2 SGB II bis zur abschließenden Entscheidung nicht, nicht vollständig oder trotz angemessener Fristsetzung und schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen nicht fristgemäß nach, setzen die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende den Leistungsanspruch für diejenigen Kalendermonate nur in der Höhe abschließend fest, in welcher seine Voraussetzungen ganz oder teilweise nachgewiesen wurden. Für die übrigen Kalendermonate wird dann gemäß § 41a Abs. 3 S. 4 SGB II festgestellt, dass ein Leistungsanspruch nicht bestand. Die aufgrund der vorläufigen Entscheidung erbrachten Leistungen sind nach § 41a Abs. 6 S. 1 SGB II auf die abschließend festgestellten Leistungen anzurechnen. Soweit im Bewilligungszeitraum in einzelnen Kalendermonaten vorläufig zu hohe Leistungen erbracht wurden, sind die sich daraus ergebenden Überzahlungen auf die abschließend bewilligten Leistungen anzurechnen, die für andere Kalendermonate dieses Bewilligungszeitraums nachzuzahlen wären gemäß § 41a Abs. 6 S. 2 SGB II. Überzahlungen, die nach der Anrechnung fortbestehen, sind zu erstatten nach § 41a Abs. 6 S. 3 SGB II, was auch im Fall des Absatzes 3 Satz 3 und 4 gilt nach § 41a Abs. 6 S. 4 SGB II.

Ergeht innerhalb eines Jahres nach Ablauf des Bewilligungszeitraums keine abschließende Entscheidung nach Absatz 3, gelten die vorläufig bewilligten Leistungen als abschließend festgesetzt gemäß § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II, was nach § 41a Abs. 5 S. 2 Nr. 1 und Nr. 2 nicht gilt, wenn die leistungsberechtigte Person innerhalb der Frist nach Satz 1 eine abschließende Entscheidung beantragt oder der Leistungsanspruch aus einem anderen als dem nach Absatz 2 Satz 1 anzugebenden Grund nicht oder nur in geringerer Höhe als die vorläufigen Leistungen besteht und der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende über den Leistungsanspruch innerhalb eines Jahres seit Kenntnis von diesen Tatsachen, spätestens aber nach Ablauf von zehn Jahren nach der Bekanntgabe der vorläufigen Entscheidung, abschließend entscheidet.

Für die Berechnung der den Leistungsberechtigten zustehenden monatlichen Leistungen galt bis zu dem 31.03.2021, und damit auch für den hier gegenständlichen Zeitraum nach § 41a Abs. 4 S. 2 SGB II in der Fassung vom 26.07.2016 (a.F.), dass bei der abschließenden Festsetzung nach Absatz 3als Einkommen ein monatliches Durchschnittseinkommen zugrunde zu legen ist, was nach § 41a Abs. 4 S. 2 SGB II nicht gilt in den Fällen des Absatzes 3 Satz 4 (Nr. 1), soweit der Leistungsanspruch in mindestens einem Monat des Bewilligungszeitraums durch das zum Zeitpunkt der abschließenden Feststellung nachgewiesene zu berücksichtigende Einkommen entfällt (Nr. 2) oder wenn die leistungsberechtigte Person vor der abschließenden Feststellung des Leistungsanspruches eine Entscheidung auf der Grundlage des tatsächlichen monatlichen Einkommens beantragt (Nr. 3). Nach § 41a Abs. 4 S. 3 SGB II a.F. ist als monatliches Durchschnittseinkommen für jeden Kalendermonat im Bewilligungszeitraum der Teil des Einkommens zu berücksichtigen, der sich bei der Teilung des Gesamteinkommens im Bewilligungszeitraum durch die Anzahl der Monate im Bewilligungszeitraum ergibt.

Nach § 67 Abs. 1 SGB II in der bis zum 28.05.2020 geltenden Fassung (a.F.) werden Leistungen für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 1. März 2020 bis zum 30. Juni 2020 beginnen, nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 erbracht. Gemäß § 67 Abs. 4 S. 1 SGB II a.F. ist, sofern über die Leistungen nach § 41a Abs. 1 S. 1 SGB II vorläufig zu entscheiden ist, über den Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts abweichend von § 41 Abs. 3 S. 1 und 2 für sechs Monate zu entscheiden, wobei nach § 67 Abs. 4 S. 2 SGB II a.F. in den Fällen des Satzes 1 die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende abweichend von § 41a Abs. 3 nur auf Antrag abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch entscheiden.

Zweck der Regelung des § 67 Abs. 4 SGB II, der inzwischen mehrfach verlängert wurde, ist nach Auffassung des Gesetzgebers eine möglichst schnelle und unbürokratische Leistungsbewilligung zu gewährleisten. Durch Satz 2 würden Leistungsberechtigte und Jobcenter von der normalerweise nach Ablauf des Bewilligungszeitraums durchzuführenden Prüfung der tatsächlichen Verhältnisse im Bewilligungszeitraum entlastet werden. Dies gelte insbesondere auch dann, wenn sich die Einkommensverhältnisse besser als prognostiziert entwickelt haben. Die betroffenen Leistungsberechtigten hätten damit die Sicherheit, für sechs Monate eine verlässliche Hilfe zum Lebensunterhalt zu erhalten. Habe sich die Einkommenslage im Bewilligungszeitraum hingegen schlechter als prognostiziert dargestellt, könnten die Leistungsberechtigten eine Prüfung und abschließende Entscheidung beantragen. In diesem Fall werde über den Leistungsanspruch nach Prüfung der tatsächlichen Verhältnisse im Bewilligungszeitraum abschließend entschieden (BT-Drs. 19/18107, S. 26).

Damit ging es von vorneherein nicht lediglich um die Vermeidung von Verwaltungsaufwand im Besonderen betreffend die Feststellung der Einkommensverhältnisse, sondern auch um die Vermeidung von Verwaltungsaufwand im Allgemeinen, der durch das Erfordernis der Prüfung, ob eine abschließende Entscheidung zu ergehen hat inklusive der dazu erforderlichen Ermittlungen von Amts wegen entsteht. Entsprechend ist in der Bundestagsdrucksache lediglich davon die Rede, dass die angestrebte Entlastung insbesondere auch bei einer besseren Entwicklung der Einkommensverhältnisse als prognostiziert gelte bzw. eintrete.

Wegen des Vorrangs der abschließenden Entscheidung nach § 41a Abs. 3 SGB II mit eigener Saldierungsregel nach § 41a Abs. 6 S. 2, S. 3 SGB II sowie der ausdrücklichen Regelung des § 41a Abs. 2 S. 4 SGB II ist nach Auffassung der Kammer nach Ablauf des vorläufigen Bewilligungszeitraumes ausschließlich eine entsprechende abschließende Entscheidung möglich. § 45 SGB X und § 48 SGB X sind damit von vorneherein mit Wirkung für die Vergangenheit nicht anwendbar.

Die Kammer verkennt dabei nicht, dass es umstritten ist, ob die §§ 45, 48 SGB X nach Ablauf des vorläufigen Bewilligungszeitraumes anwendbar sind. Zu der Rechtslage vor Schaffung von § 41a SGB II hat das BSG die Frage, ob die §§ 44 ff. SGB X im Anwendungsbereich von § 328 SGB III generell verdrängt sind oder ob die Korrektur vorläufiger Bewilligungen partiell auch auf die allgemeinen Vorschriften der §§ 44 ff. SGB X gestützt werden kann, offen gelassen (BSG, Urt. v. 29.04.2015 – B 14 AS 31/14 R –, SozR 4-4200 § 40 Nr 9, SozR 4-4300 § 328 Nr 3, Rn. 25). In der BT-Drs. 18/8041 (S. 53) zu der Einführung von § 41a SGB II ist betreffend dessen Absatz 3 die Rede davon, dass leistungserhebliche Änderungen während einer vorläufigen Leistungsgewährung mit Wirkung für die Zukunft nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X zu berücksichtigen seien. Leistungserhebliche Tatsachen, die bereits im Zeitpunkt des Erlasses der vorläufigen Entscheidung vorgelegen hätten, aber nicht berücksichtigt worden seien, seien ebenso mit Wirkung für die Zukunft umzusetzen. Die Anwendung des in diesen Fällen einschlägigen § 45 SGB X werde insoweit angepasst, als dass eine Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft zwingend und ohne die Prüfung von Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 SGB X erfolge. Diese Modifikation sei sachgerecht, da die vorläufige Entscheidung keinen Vertrauensschutz aufbaue und eine Prüfung von vertrauensschutzbildenden Umständen somit fehlginge. Mit dieser Anpassung werde der Gleichklang von § 45 SGB X mit § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X hergestellt, der bereits eine zwingende Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft regele. Eine Anwendung der §§ 45, 48 SGB X zu Ungunsten der leistungsberechtigten Person sei mit Wirkung für die Vergangenheit systematisch nicht angezeigt, da die vorläufige Entscheidung sich nicht im Wege der Aufhebung, sondern der abschließenden Entscheidung erledige. Eine Aufhebung zu Gunsten der leistungsberechtigten Person mit Wirkung für die Vergangenheit während des Bewilligungszeitraumes zur Sicherstellung der Bedarfsdeckung bleibe weiterhin möglich.

Nach einer Auffassung halte das Gesetz zwar mit § 41a Abs. 6 SGB II ausdrücklich eine spezielle Regelung vor, um Überzahlungen „abzuschöpfen“, ohne auf den Grund der Überzahlung abzustellen, also unabhängig von dem Grund der anfänglichen Rechtswidrigkeit. Allerdings schließe die Regelung auch eine Anpassung zu Ungunsten des Leistungsberechtigten mit Wirkung für die Vergangenheit gemäß §§ 45, 48 SGB X nicht grundsätzlich aus (Grote-Seifert, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 41a [Stand: 05.04.2022], Rn. 43). Eine Anwendung des § 45 Abs. 1 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit halte der Gesetzgeber für systematisch nicht angezeigt, weil der vorläufige Verwaltungsakt sich nicht im Wege der Aufhebung, sondern im Wege der abschließenden Entscheidung erledige, was allerdings fehlerhaft sei. Zum einen handele es sich keineswegs um systematische Erwägungen und zum anderen hätten Aufhebung bzw. Rücknahme und Erledigung der vorläufigen Entscheidung allenfalls dann etwas miteinander zu tun, wenn die anfängliche Rechtswidrigkeit gerade den Grund der Vorläufigkeit (z. B. schwankendes Einkommen) betreffen würden. Gehe es hingegen um das anfängliche Nichtvorliegen einer sonstigen Leistungsvoraussetzung (z. B. der Hilfebedürftigkeit bei falschen Angaben zum vorhandenen Vermögen), so sei eine Rücknahme des vorläufigen Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit gem. § 40 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 3 i. V. m. § 45 Abs. 1 SGB X i. V. m. § 330 Abs. 2 SGB III möglich (Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz SGB II, § 41a Vorläufige Entscheidung, Rn. 266).

Eine weitere Auffassung, namentlich der 13. Senat des LSG Baden-Württemberg hält es jedenfalls in Fällen, die, wie der vorliegende, unter die Regelung des § 67 Abs. 4 S. 2 SGB II fallen, aus Gründen der Gleichbehandlung für gerechtfertigt, die Anwendbarkeit des § 48 SGB X auch für die Vergangenheit bei einer vorläufigen Leistungsbewilligung nach § 41a SGB II während des noch laufenden Bewilligungszeitraums nicht auszuschließen (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urt. v. 22.11.2022 – L 13 AS 1610/22 –, juris, Rn. 28 ff.). Da nämlich die leistungsberechtigte Person ihr im Regelsystem (§ 41a Abs. 3 S. 1 SGB II) vorgesehenes Antragsrecht behalte, würde ein Ausschluss der Anwendbarkeit des § 48 SGB X für die Vergangenheit u.a. dazu führen, dass leistungsrelevante Sachverhalte, die den Jobcentern erst nach der (vorläufigen) Leistungsbewilligung bekannt würden, keine leistungsrechtlichen Auswirkungen mehr zeitigen könnten (Landessozialgericht Baden-Württemberg, a.a.O., juris, Rn. 29). Zu diesem Ergebnis gelangt auch, unter ausführlicher Würdigung des Normzwecks von § 67 Abs. 4 S. 2 SGB II, die 13. Kammer des SG Nordhausen (SG Nordhausen, Urt. v. 07.02.2023 – S 13 AS 769/21 –, juris Rn. 44 ff.).

Nach anderer – zutreffender – Auffassung kommt eine Aufhebung oder Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit allein in Betracht, wenn dies zu Gunsten der leistungsberechtigten Person nach § 44 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 SGB X bzw. nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X erfolgt. Dies kommt nämlich auch in den Gesetzgebungsmaterialien zum Ausdruck.Kallert weist zurecht darauf hin (Kallert, in Gagel, SGB II/SGB III, 85. EL März 2022, SGB II § 41a Rn. 131-133), dass sich für eine Korrektur auch für die Vergangenheit, demnach der Anwendbarkeit von § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X bzw. § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X (i.V.m. § 330 Abs. 2 bzw. Abs. 3 SGB III und § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II) zwar anführen lässt, dass Abs. 2 S. 4 und 5 nur Erleichterungen für den Leistungsträger bei der Rücknahme für die Zukunft vorsehen, sodass ihnen nicht zwingend zu entnehmen ist, dass eine Rücknahme für die Vergangenheit ausscheiden soll. Entscheidendes Gegenargument ist allerdings die uneingeschränkte Formulierung von Abs. 2 S. 4, die bei einer Rechtswidrigkeit der vorläufigen Entscheidung nur von einer Korrektur für die Zukunft spricht. Gleiches hat man daher auch für eine Aufhebung einer vorläufigen Entscheidung rückwirkend ab dem Zeitpunkt wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse nach § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X anzunehmen, auch wenn das Wortlautargument insoweit schwächer ist, weil die in § 41a Abs. 2 S. 4 angesprochene Rücknahme regelmäßig nur die Korrektur auf der Grundlage von § 45 SGB X meint. Tatsächlich war nämlich offenbar ein über § 45 SGB X hinausgehender Aussagegehalt gewollt, nachdem es in der Begründung des Gesetzentwurfes heißt, eine Anwendung der §§ 45, 48 SGB X zu Ungunsten der leistungsberechtigten Person sei mit Wirkung für die Vergangenheit systematisch nicht angezeigt, da die vorläufige Entscheidung sich nicht im Wege der Aufhebung, sondern der abschließenden Entscheidung erledige. Kallert verweist weiter zurecht darauf, dass die entgegenstehende Ansicht sich gerade nicht überzeugend dagegen durchzusetzen kann, dass sich aufgrund der Materialien deutlich erhellt, dass eine Korrektur der vorläufigen Entscheidung als solcher mit Wirkung für die Vergangenheit zulasten des Leistungsempfängers nicht möglich sein soll, und dieser Gesichtspunkt in Abs. 2 S. 4, wenn auch sicherlich unvollkommen, auch Ausdruck gefunden hat (Kallert, in: Gagel, SGB II/SGB III, a.a.O).

Nicht ausgeschlossen ist damit nach Auffassung der Kammer nur eine Korrektur für die Vergangenheit zu Gunsten des Betroffenen auf der Grundlage von § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X oder § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X. Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers, nachdem eine Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit lediglich zu Gunsten der leistungsberechtigten Personen weiterhin möglich bleiben solle, währenddessen eine Anwendung von §§ 45, 48 SGB X, demnach Rücknahme und Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit zu Ungunsten der leistungsberechtigten Personen, systematisch nicht angezeigt sei. Dieser Wille kommt in § 41a SGB II hinreichend klar zum Ausdruck. Nachdem der Gesetzgeber eindeutig zum Ausdruck gebracht hat, dass er eine Rücknahme bzw. Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit gerade nicht wünscht bzw. für angezeigt hält – eben wegen der Möglichkeit der endgültigen Festsetzung – ist die Möglichkeit ein entsprechendes Vorgehen nach Auffassung der Kammer von vorneherein nicht weder vom Willen des Gesetzgebers noch vom Zweck des § 41a SGB II her angezeigt.

Nachdem vorliegend allenfalls eine Rücknahme nach § 45 SGB X hätte erfolgen können, betreffen die erwähnten Fälle des 13. Senat des LSG Baden-Württemberg (Urt. v. 22.11.2022, a.a.O.) sowie der 13. Kammer des SG Nordhausen (Urt. v. 07.02.2023, a.a.O.) anderen Fallkonstellationen, da beide Gerichte sich mit der Frage der Anwendbarkeit von § 48 SGB X beschäftigen, wobei nach Auffassung der Kammer ohnehin auch eine Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit ausscheidet.

Aus Sicht des Beklagten ist noch darauf zu verweisen, dass auch die damals vorhandene Fachliche Weisung der Bundesagentur für Arbeit zu § 41a SGB II davon ausging, dass etwaige Überzahlungen der Vergangenheit ausschließlich im Rahmen der abschließenden Entscheidung zu berücksichtigen sind. Weiter sind danach auch wesentliche Änderungen zu Ungunsten des Berechtigten nur mit Wirkung für die Zukunft zu berücksichtigen (Stand: 20.03.2018, Rn. 41a.21). Die neuere Weisung zu § 67 SGB II, die seitens des Beklagten erwähnte wurde, steht daher offensichtlich nicht im Einklang mit der erwähnten Weisung zu § 41a SGB II. Allein zu Klarstellung wird darauf verwiesen, dass die Weisungen der Bundesagentur für die Kammer ohnehin nicht maßgebend sind.

Eine Umdeutung des Bescheides in eine endgültige Festsetzung i.S.d. § 41a Abs. 3 SGB II sowie der Anordnung der Erstattung auf Grundlage von § 41a Abs. 6 SGB II ist nach Auffassung der Kammer ebenfalls ausgeschlossen. Denn nach § 43 Abs. 1 SGB X kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt nur dann umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind.

Dem Beklagten ist es jedoch verwehrt von Amts wegen abschließend über den gegenständlichen Zeitraum zu entscheiden. Lediglich die Kläger hätten eine abschließende Entscheidung herbeiführen können. Im Wortlaut von § 67 Abs. 4. S. 2 SGB II a.F. ist auch nicht die Rede davon, dass eine abschließende Entscheidung über den monatlichen Leistungsanspruch in den Fallkonstellationen des § 41a Abs. 5 S. 2 Nr. 2 SGB II möglich sein soll.

Dass das vorliegende Ergebnis ggf. – zumindest wenn die Voraussetzungen von § 45 Abs. 2 S. 3 oder § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II i.Vm § 330 Abs. 3 SGB III erfüllt sind, was die Kammer vorliegend offen lässt – ggf. unbefriedigend erscheinen mag, stellt kein maßgebendes Argument dar. Es ist Sache des Gesetzgebers eine ggf. unzweckmäßige Regelung aufzuheben oder anzupassen.

Demnach kann die von den Klägern aufgeworfene Frage, ob die erfolgte Rücknahme vollständig mit § 22 Abs. 3 Hs. 2 SGB II im Einklang steht, offen bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.

Aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Frage der Anwendbarkeit von § 45 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit im Falle einer vorläufigen Leistungsgewährung nach § 41a SGB II war die Berufung zuzulassen nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG.

 

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