SG Augsburg – Az.: S 1 R 450/11 – Urteil vom 25.10.2011
I. In Abänderung des Bescheides vom 6. Oktober 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. März 2011 wird die Beklagte verpflichtet, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Januar 2012 bis 31. Dezember 2014 zu gewähren.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Beklagte trägt 1/3 der außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung.
Die 1974 geborene Klägerin hat den erlernten Beruf der Friseurin nie ausgeübt. Versicherungspflichtig war sie zuletzt als PC-Montiererin bzw. Packerin bis 05.07.2009 tätig. Seitdem ist sie arbeitsunfähig krank. Ein erster Rentenantrag vom Februar 2010 blieb ohne Erfolg. Eine von der Beklagten im September 2010 angebotene Maßnahme der medizinischen Rehabilitation hat die Klägerin nicht angenommen. Nach dem Schwerbehindertenrecht ist ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt.
Am 27.09.2010 stellte die Klägerin erneut Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch den Nervenarzt Dr. S … In seinem Gutachten vom 01.04.2010 bescheinigte er der Klägerin eine Migräne sowie eine Persönlichkeitsstörung und eine depressive Störung. Insgesamt sei sie jedoch noch in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig tätig zu sein. Mit Bescheid vom 06.10.2010 lehnte die Beklagte daher den Antrag als unbegründet ab. Auf den Widerspruch der Klägerin führte sie eine weitere Begutachtung durch den Nervenarzt Dr. R. durch. In seinem Gutachten vom 22.03.2011 bescheinigte dieser der Klägerin eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus, eine aktuell remittierte rezidivierende depressive Störung sowie neben einer Migräne eine Adipositas bei erhöhter Kalorienzufuhr und eine essenzielle arterielle Hypertonie. Insgesamt hielt er die Klägerin für noch in der Lage, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ohne Schichtbedingungen und ohne besonderen Zeitdruck sowie ohne besondere Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit und die Verantwortung vollschichtig auszuüben. Die Beklagte schloss sich dieser Einschätzung an und wies den Widerspruch der Klägerin mit Bescheid vom 25.03.2011 zurück.
Ohne nähere Begründung erhob die Klägerin gegen diese Verwaltungsentscheidung Klage zum Sozialgericht Augsburg. Die Kammer hat Befundberichte der behandelnden Ärzte beigezogen. Der Hausarzt Dr. D. berichtet von arterieller Hypertonie, Zervikobrachialgie, somatoformer autonomer Funktionsstörung von Herz und Kreislauf sowie Spannungskopfschmerz. Eine Veränderung im Gesundheitszustand sei nicht erkennbar. Der behandelnden Nervenarzt Dr. E. hat mitgeteilt, dass die Klägerin seit September 2010 in monatlichen Abständen behandelt würde. Sie leide an Dysthymie, rezidivierend-depressiver Störung mittelschwerer Episode sowie Spannungskopfschmerz. Nunmehr hat das Gericht die Nervenärztin Dr. C. mit der Begutachtung der Klägerin beauftragt. In ihrem Gutachten vom 29.06.2011 nennt sie folgende wesentliche Gesundheitsstörungen der Klägerin: Dysthymie, rezidivierend-depressive Störung gegenwärtig mittelgradig depressiver Episode, emotional instabile Persönlichkeitsstörung von Borderline-Typus, schizotypische Persönlichkeitsstörung DD paranoid-halluzinatorische Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis sowie klassische Migräne ohne Aura. Seit der Begutachtung durch Dr. R. sei es offensichtlich wieder zu einer Verschlechterung gekommen. Aufgrund der bestehenden Gesundheitsstörungen könne die Klägerin zumindest seit der Untersuchung nur noch weniger als 6 Stunden täglich erwerbstätig sein.
Die Beklagte hat eingewandt, dass zwar den von Dr. C. festgestellten qualitativen Leistungseinschränkungen zuzustimmen sei. Nicht gefolgt werden könne jedoch ihrer Beurteilung des quantitativen Leistungsvermögens, da bei der Klägerin zwar eine zur Arbeitsunfähigkeit führende Beeinträchtigung, nicht jedoch eine dauerhafte Einschränkung des quantitativen Leistungsvermögens gegeben sei.
In der mündlichen Verhandlung hat der Bevollmächtigte der Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 06.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.03.2010 zu verpflichten, der Klägerin ab Antragstellung Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Beigezogen waren die Verwaltungsakten der Beklagten. Sie waren ebenso wie die Gerichtsakte Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Unterlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte dem Grunde nach Anspruch auf eine für die Zeit vom 01.01.2012 bis 31.12.2014 befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Insoweit haben sich die angefochtenen Bescheide, bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, als rechtswidrig erwiesen und waren abzuändern. Im Übrigen war die Klage abzuweisen.
Nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Nach Satz 2 des Abs. 1 sind teilweise erwerbsgemindert die Versicherten, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat hierzu in mehreren Beschlüssen (zuletzt vom 19.12.1996, GS 2/95) herausgearbeitet, dass es für einen möglichen Rentenanspruch auch auf das Vorhandensein eines dem Gesundheitszustand des Versicherten angepassten Arbeitsplatzes ankommt (sog. „konkrete Betrachtungsweise“). Ein Versicherter, der aufgrund seines Gesundheitszustandes nur noch Teilzeitarbeit in einem Umfang von mindestens 3 bis unter 6 Stunden täglich verrichten kann, darf demzufolge auf Tätigkeiten für Teilzeitarbeit nicht verwiesen werden, wenn ihm für derartige Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist. Davon ist auszugehen, wenn ihm weder der Rentenversicherungsträger noch das zuständige Arbeitsamt innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrages einen für ihn in Betracht kommenden Arbeitsplatz anbieten kann bzw. konnte. Aus der Gesetzesbegründung zu § 43 SGB VI wird deutlich, dass diese konkrete Betrachtungsweise auch für die Rechtsanwendung ab 01.01.2010 weiter Gültigkeit haben soll. Denn dort heißt es u.a. (BT-Ds 14/4230, S. 25), dass Versicherte „die noch mindestens 3, aber nicht mehr 6 Stunden täglich arbeiten, das verbliebene Restleistungsvermögen wegen Arbeitslosigkeit aber nicht in Erwerbseinkommen umsetzen können“, eine volle Erwerbsminderungsrente erhalten.
Diese Voraussetzungen sind bei der Klägerin derzeit, also in dem für die Entscheidung über die erhobene Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) maßgeblichen Zeitpunkt erfüllt. Sie leidet an Dysthymie, rezidivierender depressiver Störung (gegenwärtig mittelgradig), emotional instabiler Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus, schizotypischer Persönlichkeitsstörung DD paranoid-halluzinatorischer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis sowie einer klassischen Migräne ohne Aura. Aufgrund dieser Gesundheitsstörungen ist sie nur vermindert affektiv schwingungsfähig. Sie leidet unter Wahrnehmungsstörungen im Sinne optischer und akustischer Halluzinationen, wobei sie seit Jahren gelegentlich dunkle Gestalten in der Nacht sieht, die mit ihr sprechen. Auch wenn sie sich aktuell nicht von diesen Gestalten angegriffen fühlt, schläft sie gleichwohl nachts bei der Mutter. Sie hat Angst vor dem Alleinsein und geht nur mit einer Nachbarin weiter entfernt einkaufen. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel traut sie sich nicht alleine zu, trainiert dies aber mit ihrer Verhaltens-Psychotherapeutin. Wegen ihrer Probleme wird sie seit Jahren adäquat mit verschiedenen Thymoleptika behandelt, wobei die Behandlung aktuell wegen einer Schwangerschaft unterbrochen ist. Insgesamt besteht jedoch ein seit mindestens 2002 chronifiziertes Krankheitsbild mit mehreren psychiatrischen Diagnosen und akuter Leidensverschlimmerung gegenüber der Begutachtung bei Dr. R … Insgesamt verfügt die Klägerin jedenfalls nachweislich seit der Begutachtung durch Dr. C. am 20.06.2011 nur noch über ein zeitliches Leistungsvermögen von mehr als 3, aber weniger als 6 Stunden täglich.
Dieses Leistungsvermögen steht für die Kammer fest aufgrund des schlüssigen und überzeugenden Gutachtens der Nervenärztin Dr. C … Die Sachverständige hat sich aufgrund persönlicher Untersuchung und Begutachtung der Klägerin unmittelbar einen Eindruck von deren Leistungsvermögen gemacht und bei ihrem Gesamturteil auch die weiteren ärztlichen Unterlagen, seien es Befundberichte oder Gutachten aus dem Verwaltungsverfahren, mit berücksichtigt. Die Kammer hat keine Bedenken, sich der Leistungseinschätzung ihrer Sachverständigen in vollem Umfang anzuschließen. In freier Beweiswürdigung (§ 128 SGG) misst das Gericht dem Urteil der gerichtlichen Sachverständigen aus den genannten Gründen den wesentlich höheren Beweiswert gegenüber der nur nach Aktenlage abgegebenen Stellungnahme des Sozialmedizinischen Dienstes bei. Bei der Klägerin besteht seit Jahren Arbeitsunfähigkeit, sie ist in laufender nervenärztlicher und therapeutischer Behandlung. Die Auffassung der Beklagten, dass bei ihr eine dauerhafte Einschränkung des quantitativen Leistungsvermögens nicht bestehe, überzeugt daher nicht.
In Anwendung der im Sozialrecht geltenden Beweisgrundsätze geht die Kammer davon aus, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erst ab dem Zeitpunkt der Begutachtung bei Dr. C. am 20.06.2011 der Nachweis für den Leistungsfall der Erwerbsminderung erbracht ist.
Obwohl die Klägerin noch über ein Leistungsvermögen von mehr als 3 bis unter 6 Stunden verfügt, hat sie Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Denn aktuell hat sie keinen ihr gesundheitlich zumutbaren Teilzeitarbeitsplatz inne. Weder die Beklagte noch das Arbeitsamt konnten ihr einen solchen binnen eines Jahres konkret benennen. Im Sinne der eingangs wiedergegebenen Rechtsprechung des BSG, der sich die Kammer in vollem Umfang anschließt, ist die Klägerin daher voll erwerbsgemindert im Sinne von § 43 SGB VI.
Der Rentenanspruch der Klägerin ist zeitlich befristet. Denn nach § 102 Abs. 2 SGB VI werden Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit und für längstens 3 Jahre nach Rentenbeginn geleistet. Nur Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann (§ 102 Abs. 2 Satz 4 SGB VI). Ein solcher Anspruch auf unbefristete Rentengewährung besteht für die Klägerin jedoch nicht, denn sie ist in der Lage, unter Mitwirkung nervenärztlich/psychotherapeutischer Hilfe nach zuverlässiger Prognose in überschaubarer Zeit ihre psychische Hemmung gegen eine Arbeitsleistung zu überwinden. Deswegen und weil der Klägerin nach Beendigung der Schwangerschaft wieder eine ungehinderte suffiziente thymoleptische Behandlung zumutbar ist, hat das Gericht den Bezugszeitraum, ohne den maximalen Rahmen von 3 Jahren (§ 102 Abs. 2 SGB VI) auszuschöpfen, auf 2 Jahre begrenzt. Die Versichertengemeinschaft erwartet von der noch nicht einmal vierzigjährigen Klägerin, dass sie alle medizinischen und therapeutischen Möglichkeiten ausschöpft, um wieder in das Erwerbsleben zurückzukehren. Insoweit ist ihr zu gegebener Zeit – wie von der gerichtlichen Sachverständigen vorgeschlagen – ein erneuter Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik zumutbar.
Neben dem vorstehend beschriebenen Anspruch auf befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung hat die Klägerin trotz ihres untervollschichtigen Leistungsvermögens keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf Dauer. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers besteht ein solcher Anspruch nur (vgl. § 102 Abs. 2 SGB VI), wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Davon ist aber – wie bereits festgestellt – nicht auszugehen.
Die Kostenentscheidung gemäß § 193 SGG spiegelt den nur teilweisen Erfolg der Klage wieder.